Du stellst meine Füße auf weiten Raum
Die Schule. Unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2020. Dies sind die Abenteuer des Gymnasiums Leoninum, das mit seiner 1300 köpfigen Besatzung unterwegs ist, um neue Welten zu erforschen, neues Leben und neue Zivilisationen …
Mit diesen aus dem Vorspann der Star Trek-Saga geliehenen Worten begrüße ich euch herzlich zu diesem Morgenimpuls.
Alle, die schon wieder im Präsenzunterricht angekommen sind, können bestätigen, wie anders es sich anfühlt, mit so wenigen Menschen in den Weiten unserer Schule unterwegs zu sein, vor allem die Pioniere aus dem Jahrgang zwölf. Mithilfe des Internets haben wir alle im Umgang mit dem Homeschooling neue Welten erkundet. Gezwungenermaßen haben wir ein neues Leben voller Einschränkungen, aber auch Bewältigungsstrategien kennengelernt. Die neue Zivilisation, also ein gutes Miteinander unter Einhaltung der Sicherheitsregeln, ist nun die nächste Herausforderung, der wir uns als Schulgemeinschaft stellen.
Weite kann sehr gegensätzlich wirken:
Die Bilder von verlassenen Tummelplätzen der Weltgeschichte, vom ausgestorbenen Markusplatz in Venedig oder auch von der leergefegten Puerta del Sol in Madrid, den die meisten von Euch auf unserer Spanienfahrt voller Menschen aus aller Welt erlebt haben, wirken geradezu unheimlich. Allein auf weiter Flur kann man sich einsam, verlassen und verloren fühlen. Und wenn dann auch noch plötzlich für selbstverständlich und sicher geglaubte Dinge und Pläne wegfallen, verwandelt sich Weite in bodenlose Leere.
Von solcher Verlassen- und Verlorenheit spricht auch der einunddreißigste Psalm. Er handelt von Enttäuschung, Bedrohung, Verlust, Angst und Verzweiflung, wie sie viele angesichts der dramatischen Folgen dieser Pandemie erleben. Und wo ein Ende nicht in Sicht ist, wirken die unendlichen Weiten, die sich da auftun, umso beängstigender.
Dem Menschen, der den Psalm betet, gelingt jedoch etwas Entscheidendes: Er verharrt nicht in seiner einsamen Angst, sondern er sucht und vertraut auf Hilfe. Er erinnert sich daran, bewahrt und angenommen worden zu sein. Und aus dieser Erinnerung heraus fasst er das Vertrauen, das es braucht, um die Perspektive zu wechseln und Hoffnung zu schöpfen.
In Vers neun heißt es: „Du stellst meine Füße auf weiten Raum.“ Im Vertrauen auf Gott kann aus der bedrohlich endlosen Leere ein Raum ungeahnter Möglichkeiten werden und aus der Angststarre ein ‚Lebe und helfe leben!‘ Wir sind in die Schöpfung gestellt, auf den Boden der Tatsachen, in einen weiten Raum, der uns anvertraut ist. Einen Raum, um gehört und gesehen zu werden. Einen Raum, der auch jeder und jedem anderen zusteht. Wir sind nicht hilflos. Andere sind mit uns auf der Suche nach Möglichkeiten, sinnvoll zu handeln. Jede und jeder kann dabei helfen.
Mich erinnert das Bild oben daran, was Gott uns zutraut: Es ist auf der schon erwähnten Puerta del Sol entstanden und zeigt die Füße einer Klasse auf dem sogenannten ‚Nullkilometerpunkt‘ von Spanien. Die Schülerinnen und Schüler waren damals in der fünften Klasse, ganz neu an unserer Schule und schon auf dem Weg in unbekannte Welten. Sie mussten sich großen Herausforderungen stellen, haben sie zusammen gemeistert und ihre Füße miteinander auf weiten Raum gestellt. Ein bisschen, wie die Mannschaft des Raumschiffs Enterprise …
Noch sind die Weiten der Plätze und Räume groß. Ich hoffe, dass es Euch gelingt, in dieser besonderen Situation nicht nur die Leere zu sehen, all das, was fehlt, sondern bewusst wahrzunehmen, was alles trotzdem da ist und was in Zukunft da sein sollte. Damit wir nicht nur den Notstand verwalten, sondern entstandene Freiräume erkunden und mit Gutem füllen, als Raum-Erfahrer sozusagen.
So wünsche ich Euch allen einen gesegneten Tag!
(Und wie Mr. Spock sagen würde: Lebe lang und in Frieden!)
Eva Bockstiegel