Andrea Schwarz im “Handruper Forum”

Der Weg ist das Ziel – Als Pilger nach Santiago de Compostela

Zur Referentin:
Andrea Schwarz
Schriftstellerin

Vortrag im Rahmen des „7. Handruper Forums“ vom 10. März 1999.

(Zu diesem Abend existieren nur mehr Manuskripttexte und Transkriptionen von Bandmitschnitten.)

Begrüßung durch P. Dr. H. Wilmer SCJ, Schulleiter

Sehr geehrte Eltern, liebe Schülerinnen und Schüler, verehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Schwestern, liebe Mitbrüder, meine sehr geehrten Damen und Herren!

Sie alle begrüße ich sehr herzlich hier zum Handruper Forum, heute abend speziell zum 6. Handruper Forum, das unter dem Thema steht: „Die Sehnsucht ist größer“. Von der Pilgerschaft nach Santiago de Compostela.

Wir sind froh und stolz darauf, die Schriftstellerin Frau Andrea Schwarz für dieses Forum gewonnen zu haben. Frau Schwarz, wie einige vielleicht wissen, stammt aus Wiesbaden, wohnt derzeit in Wahlheim, und das liegt zwischen Mainz und Mannheim. Im Internet befinden sich mittlerweile 19 Bücher, die sie veröffentlicht hat, Titel im Herder Verlag, einige sind Ihnen sicherlich bekannt, ich möchte nur mal einige nennen:

•Ich mag Gänseblümchen – Unaufdringliche Gedanken
•Bunter Faden Zärtlichkeit
•Der kleine Drache „Hab‘ mich lieb“, ein Märchen für große Leute
•Und alles lassen, weil er mich nicht lässt, Lebenskultur aus dem Evangelium, dieses Buch hat sie herausgegeben zusammen mit dem Benediktinermönch Anselm Grün, ein anderes Buch lautet:
•Wenn Chaos Ordnung ist, und dann ist im vergangenen Jahr herausgekommen:
•“Die Sehnsucht ist größer“, vom Weg nach Santiago de Compostela

Frau Schwarz ist diesen Weg 1997 zu Fuß gegangen und hat zu Fuß 560 km auf diesem Camino zurückgelegt. Zur Zeit ist ein Buch im Erscheinen begriffen, im Herder – Verlag, es wird Ende März herauskommen, mit dem Titel: Entschieden zur Lebendigkeit.

Wie gesagt, Frau Schwarz stammt aus Süddeutschland, aber sie mag das Emsland, sie hat hier schon
Urlaub gemacht, hat sie mir erzählt, und zwar in Großstavern, schwärmt davon, war drei Wochen dort. Persönlich kenne ich Frau Schwarz schon lange, nämlich seit Frühjahr 1987, kurz vor meiner Priesterweihe hat sie uns Seminaristen im Erzbistum Freiburg Tage gehalten zur Jugendarbeit. Sie war damals die Leiterin des Bundes der Katholischen Jugend im Bistum Freiburg und kam zusammen mit dem Pfarrer Irslinger ins Seminar mit dem Ziel, uns Kniffe, Techniken und Methoden an die Hand zu geben für die freie Jugendarbeit. Seither kennen wir uns sehr gut und sind gut befreundet, um so mehr freue ich mich, heute abend Frau Schwarz ganz herzlich hier begrüßen zu dürfen. „Frau Schwarz, herzlich willkommen, hier im Gymnasium Leoninum.“

Ich freue mich auf den Vortrag, auf die Erfahrungen, und Ihnen allen wünsche ich einen angenehmen und bereichernden Abend!

Dankeschön!

Vortrag Andrea Schwarz

Ja, schönen guten Abend auch meinerseits. Ich weiß zwar nicht, warum ein solches Schmunzeln durch den Raum ging, wenn man sagt, man macht drei Wochen Urlaub in Großstavern? Es ist ausgesprochen schön dort, und im Umkreis von 50-80 km kann man ganz schöne Sachen entdecken. Also, ich erinnere mich sehr sehr gern an den Urlaub zurück, und seit der Zeit bin ich dem Emsland verbunden, hab‘ sogar meinen 40. Geburtstag in Haselünne gefeiert. Ja, also soweit erst einmal meine Liebeserklärung zum Emsland.


Andrea Schwarz

Ich sag‘ nun mal ein bisschen was zu mir: Andrea Schwarz, ich bin 43 Jahre alt. Ich sag’s wegen der Haarfarbe dazu, die irritiert gelegentlich etwas. – Mir ist es bei einem Vortrag vor einiger Zeit passiert, dass ein Mann anschließend auf mich zukam und gesagt hat, es wäre ja sicherlich alles ganz interessant gewesen, was ich gesagt hätte, aber er hätte den ganzen Abend darüber nachdenken müssen, wie alt ich eigentlich sei, dass er gar nicht hätte zuhören können. Und seit der Zeit habe ich mir angewöhnt, das gleich vorneweg zu sagen, weil dann braucht man da nimmer drüber nachdenken. Ich bin in Wiesbaden geboren und aufgewachsen, Industriekaufmann gelernt, – zu meiner Zeit wirklich noch Kaufmann, die Zeiten sind noch gar nicht so lange her. Bin in der Zeit in die katholische Jugendarbeit reingeraten, damals in die KJG (Katholische Junge Gemeinde), war 4 Jahre lang ehrenamtliche Diözesanleiterin der KJG in der Diözese Limburg, hab‘ in der Zeit gemerkt, dass das mit der Industrie doch nicht so das Wahre für mich ist, habe gewechselt und Sozialpädagogik studiert in Frankfurt, bin dann ins Badische gegangen als Dekanatsjugendreferentin, BDJK-Diözesanleiterin, hab‘ da P. Wilmer unter anderem auch kennengelernt und bin seit 1988 freiberuflich tätig, mit so drei Standbeinen. Das eine ist die Aus- und Weiterbildung haupt- und ehrenamtlicher kirchlicher Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, da komm‘ ich gerade her, hab‘ gerade eineinhalb Tage die Tagung der Krankenhausseelsorger und -seelsorgerinnen der Diözesen Osnabrück und Hamburg im LWH in Lingen geleitet und fahr‘ morgen nach Georgsmarienhütte ins Haus Ohrbeck, ein offenes Tagesseminar. Das zweite Standbein ist die Beratungstätigkeit in Supervision und als Organisationsberaterin. Das dritte Standbein ist die Schriftstellerei. In Arbeit ist derzeit ein Buch, auf das ich mich selbst sehr freue, denn das schreib‘ ich mit meinem Pfarrer zusammen, mit dem schönen Titel: „Mit Handy, Jeans und Stundenbuch“. Bei dem Titel haben wir gedacht, es muss für jeden ein Begriff dabei sein, mit dem er nicht ganz soviel anfangen kann. Das funktioniert auch ganz gut. – Kürzlich habe ich mit Pastoralreferenten gearbeitet und dann sagt eine: „Wie war der Titel? Mit Handy, Jeans und was?“ Auch gedacht, na ja, gut! Seit Herbst ’97 studiere ich Theologie, in Frankfurt, St. Georgen, letztes Jahr habe ich gerade 8 Wochen Crashkurs Latein hinter mich gebracht, es scheint irgendwie immer um alternative Urlaubsgestaltung im Moment zu gehen, und das aller aller Neueste, worüber ich mich sehr freue, ich hab‘ mit einem Freund, der Priester ist, zusammen am 01. 02. mit einer halben Stelle in zwei Pfarrgemeinden in Viernheim angefangen. Viernheim ist der äußerste Südzipfel der Diözese Mainz und liegt östlich von Mannheim, und mir tut es sehr gut, nach diesen Jahren des Unterwegsseins von Osnabrück bis St. Gallen, mich jetzt in zwei Gemeinden, viertgrößte Seelsorgeeinheit der Diözese Mainz, als pastorale Mitarbeiterin, zu verorten, um dort Heimat zu bekommen. Ja, soweit mal zu mir.

Zum heutigen Abend: der wird in zwei Teilen ablaufen. Ich möchte gern im ersten Teil zehn Sprachbilder aufzeigen von meinem Weg nach Santiago de Compostela, zehn Sprachbilder, zehn Erfahrungsbilder, die übertragbar sind in Ihren ganz persönlichen Alltag. Was ich nicht möchte, ist ein langweiliger Vortrag, im Sinne von: am dritten Tag hab‘ ich da übernachtet, und am fünften Tag waren es da 28 km. Das vergisst man sowieso, das interessiert auch keinen Menschen. Aber was für Erfahrungen macht man denn auf einem solchen Weg?

Und im zweiten Teil möchte ich ein paar ausgewählte Dias zeigen, um einfach auch einen Eindruck zu vermitteln, wie ist es denn da, wenn man unterwegs ist.

So, vielleicht noch ein bisschen was vorne weg zum Thema „Pilgern“. Pilgern ist ein Wort, was ein bisschen als Wort aus der Mode gekommen ist. Aber ich glaube, dass das eigentlich nur das Wort ist, was nicht mehr so oft benutzt wird. Die Menschen pilgern wie eh und je, nur die Pilgerziele haben sich verändert. Menschen brechen auf, machen sich auf die Suche nach dem Sinn ihres Lebens oder nach dem, was sie meinen, was Sinn ihres Lebens sein könnte. Für die einen mag es die Urlaubswochen im Süden sein, in die nach sinnentleerten Arbeitswochen alles mögliche hineinprojeziert wird, für andere ist es Beziehung oder Ehe. Für andere mag es die Fahrt nach Hamburg zum Musical sein, die auch eine Art moderner Pilgerfahrt darstellt oder der Urlaub an der Türkischen Küste. Immer wieder aber hat Pilgern etwas mit Unterwegssein zu tun, mit aufbrechen, sich auf den Weg machen. Aus meiner Sicht hat ein solches sich auf den Weg machen auch immer etwas mit Gott zu tun, mit der Sehnsucht nach einem Sinn, der unsere Wirklichkeit übersteigt, auch wenn es immer wieder manche geben mag, die das für sich so nicht akzeptieren und nicht annehmen wollen. Diese Sehnsucht hat dazu geführt, dass immer wieder Pilgerwege entstanden sind. Pilgerwege, die von vielen Menschen gegangen wurden, weil die Erfahrung gezeigt hat, dass man auf diesem Weg etwas erleben kann, dass man auf diesem Weg Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens bekommen kann. Da gab es einen Ort, ein Ziel, einen Namen, dem ein besonderer Ruf vorauseilte, der die Hoffnung weckte, der der Sehnsucht Raum gab. Und Menschen sind über Jahrhunderte hinweg diesem Ruf gefolgt, haben der Sehnsucht getraut und sind aufgebrochen. Ein Weg wird dann zum Weg, wenn die Menschen ihn gehen, ein unbegangener Weg verwuchert und gerät in Vergessenheit. Es gibt Wege, die Jahrhunderte und Jahrtausende alt sind, und wenn sie sich nicht irgendwie bewährt hätten, wären sie in Vergessenheit geraten, und dann gäbe es sie nicht mehr. Es gibt Orte und Wege, die alle Zeitströmungen überdauern und gerade dadurch zeigen, dass es eben nicht egal ist, wohin man geht und wo man sich aufhält.

Es gibt Wege, die eine Kraft in sich bergen, die sich unserem verstandesmäßigen Denken entzieht. Und so mag es auch nicht von ungefähr kommen, dass sich an solchen Wegen, an solchen Orten der Kraft immer auch wieder christliche Kirchen und Klöster angesiedelt haben, wo schon vorchristliche Kulturen solche Kräfte erspürt und verehrt haben.

Der Weg nach Santiago de Compostela ist solch ein Weg. Und es gibt Forscher, die sagen, dass der heutige Camino, wie er liebevoll in Spanien genannt wird, eigentlich ein vorchristlicher Initiationsweg ist, der bereits vor dem Christentum von Menschen gegangen wurde, und der später dann vom Christentum übernommen wurde.

Santiago der Compostela, im Nordwesten Spaniens gelegen, einer der drei berühmtesten Wallfahrts-orte des Mittelalters neben Jerusalem und Rom. Dort soll das legendäre Grab des Apostels Jakobus sein, und ich glaube, dass die Attraktivität dieses Ortes mit daher rührte, dass, wenn man zu Santiago noch 70 km dazu gelegt hat, und das war keine große Strecke mehr, wenn man möglicherweise schon von Aachen unterwegs war, dann war man am Finesterre, dort, wo man damals meinte, dass die Welt aufhört. In den letzten Jahren hat gerade der Weg nach Santiago de Compostela einen neuen Aufschwung bekommen. In diesem Jahr geht z.B. die Landvolkbewegung der Erzdiözese Freiburg mit 400 Leuten nach Santiago, macht ein großes Verbandsereignis aus diesem Weg. Und dieser Weg startet eigentlich von der eigenen Haustür. Im Mittelalter ging man von Zuhause los. Und je näher man dann sich Santiago näherte, um so mehr verdichteten sich die Wege, einfach weil es keine Alternativen mehr gab. Es schälten sich vier große Pilgerwege heraus, die über Vézelay, über Einsiedeln gingen, das Rheintal hinunter gingen, und vor den Pyrenäen verbinden sich drei dieser Wege. In Puente la Reina kommt der vierte Hauptpilgerweg dann dazu.

Ab Puente la Reina wird der Weg dann nur noch „El Camino“ genannt – liebevoll: „Der Weg“. Und wenn man in Spanien von „El Camino“ spricht, weiß jeder genau, was gemeint ist. Im Mittelalter ging man diesen Weg auch wieder zurück. Wenn man dort angekommen war, lag der Heimweg wieder vor einem, der geht heute in der Regel etwas rascher über Flugzeug, oder Eisenbahn, oder Bus. Ich denke, es war eine interessante Erfahrung, nach dem Ankommen am Ziel dann noch den Heimweg wieder unter die Füße zu nehmen. Ab St.-Jean Pied- de- Port, dem letzten Ort in Frankreich, sind es bis Santiago noch 760 km. Man kann diesen Weg zu Fuß gehen, mit dem Fahrrad machen, manche machen ihn mit dem Pferd, es gibt Alternativen mit dem Bus und zu Fuß, manche fliegen auch einfach hin. Aber jeder dieser Wege macht auch etwas mit den Menschen, die dort hingehen, dort hinfahren, dort hinlaufen.

Ich bin 1997 Ende Mai losgegangen, sechs Wochen, davon vier Wochen alleine, ab Leon kam eine Freundin dazu. 560 km unter die Füße, unter die Wanderschuhe genommen, einige statistische Zahlen: Ich hab‘ in der Zeit 10 kg abgenommen, 5 Tuben Mobilat verbraucht und sechs Tuben Fußcreme. Seit den Wochen schwöre ich auf Fußcreme. Ich habe immer gedacht, das wäre was für ältliche Damen. Aber ich kann sagen, ich bin ohne Blase die 560 km durchgekommen – ein Tip der Fußpflegerin, die ich vorher noch mal aufgesucht hab‘. Und alle, die jemals auf die Idee kommen sollten, diesen Weg zu Fuß unter die Füße zu nehmen, ich kann nur den ganz heißen Tip geben, Fußcreme ist eine der notwendigsten Sachen, die man wirklich mit auf diesen Weg nehmen sollte.

Es waren sicherlich sechs sehr intensive Wochen meines Lebens, wenn nicht sogar die intensivsten. Ich merke, dass ich heute fast zwei Jahre später noch immer an den Erfahrungen dran bin, die dieser Weg mir geschenkt hat und was dieser Weg auch mit mir gemacht hat. Erfahrungen des Weges: träumen, loslassen, aufbrechen, unterwegs sein, ankommen. Und es sind Wegerfahrungen, die durchaus auf das wirkliche Leben übertragbar sind. An diesen Wegerfahrungen möchte ich Sie heute abend ein wenig teilhaben lassen. Vielleicht kann noch ein Satz von Nietzsche, dem großen deutschen Philosophen zu Beginn stehen. Die Empfehlung von Nietzsche heißt:

So wenig als möglich sitzen, keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, indem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern.

Und religiös beendet er seine Überlegung und sagt: „Das Sitzfleisch ist die eigentliche Sünde wider den Hl. Geist.“. Ich glaube, dass Christsein immer die Einladung zum Aufbrechen, zum Unterwegs sein ist. Noch eine kleine Geschichte vorneweg, aber dann steige ich wirklich ein.

Richard Rohr, ein amerikanischer Franziskaner, sagt so schön: „Wenn man lange genug bei Gott ‚rumhängt‘, färbt der Typ auch irgendwie ab.“ Das ist eine Erfahrung, die ich gut nachvollziehen kann.
Meine Eltern sind jetzt über 50 Jahre verheiratet. Als ich so klein war hat der Vater den Kaffee schwarz und mit Zucker getrunken und die Mutter ohne Zucker, aber mit Milch. Inzwischen nehmen beide ein bisschen Milch und ein bisschen Zucker. Ich bin drei Tage in Österreich und brauche ein Vierteljahr, um mir das „Auf Wiederschauen“ wieder abzugewöhnen. Oder, kürzlich bei einem Kurs kam abends ein junger Mann kichernd vom Telefon zurück und ich sage: „Hei, was ist denn mit dir los?“ Sagt er: „Ich hab‘ grad‘ telefoniert, mit ’nem Freund, hab‘ ihm von diesem Kurs erzählt und zwischendrin unterbricht der mich und sagt: ‚Machst du grad‘ ’nen Kurs bei der Andrea Schwarz?‘ Ich sagte warum, wie kommst du denn da drauf? ‚Ja‘, sagte er, ‚weil du dauernd das Wort ‚Lust‘ gebrauchst.“ Wie doch die Sprache abfärben kann. Oder das verblüffendste Beispiel von Abfärben finde ich immer die oft erstaunliche Ähnlichkeit zwischen Hund und Hundebesitzer. Und, wenn das überhaupt nicht übereinstimmt, lohnt es sich, die Frage zu stellen, ob es möglicherweise ein Gast- oder ein Leihhund ist. Aber in der Regel ist es wirklich oft sehr erstaunlich. Und wenn man lange genug bei Gott rumhängt, dann färbt der Typ auch irgendwie ab. Wenn man bei einem Typ rumhängt, der von sich sagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“, dann ist das die Einladung zum Unterwegssein, wenn derjenige abfärbt, der „Weg“ ist, wenn derjenige abfärbt, der „Wahrheit“ ist, dann ist das die Einladung zur Authentizität, zum „Echtsein“. Und wenn derjenige abfärbt, der „Leben“ ist, dann ist das die Garantie für die Lebendigkeit. Und das, glaube ich, will eigentlich unser Glaube und das Christentum: Einladung zur Lebendigkeit sein.

1. Szene:

Ein bisschen ratlos sitze ich in meinem Wohnzimmer. Um mich herum T-Shirts, das kleine Stundenbuch, Socken, Fotoapparat, Tagebuch, Wanderführer, Sonnencremetuben, Metrofahrkarten und vieles andere mehr. Grad‘ hab‘ ich den Rucksack wieder ausgepackt. 15 kg, das ist eindeutig zuviel. Damit komme ich nie zu Fuß nach Santiago. Und dabei hatte ich doch schon bei der Erstellung der Packliste versucht, mich auf das Allernotwendigste zu beschränken. Aber es hilft alles nichts. Ich muss diesen kunterbunten Stapel noch mal gewichtsmäßig um ein Drittel reduzieren.

Nun werde ich in drei Tagen den Pilgerweg nach Santiago beginnen. Über die Pyrenäen, durch die Meseta, die Hochfläche zwischen Burgos und León. Und das geht nicht, mit 15 kg Gepäck auf dem Rücken. Grübelnd schaue ich mir das Durcheinander im Wohnzimmer an. Was brauch‘ ich für 6 Wochen Wanderung? Für mich ist das eine ganz neue Erfahrung. Ich bin zwar oft viel unterwegs, aber mit dem Auto. Da kommt es auf ein Paar Schuhe mehr oder weniger nicht an. Jetzt zählt jedes Gramm. Ganz interessant, ich habe wirklich mit der Küchenwaage dagesessen und hab‘ rausgekriegt, dass T-Shirts tatsächlich ganz unterschiedlich viel wiegen. Also es gibt 300 gr. T-Shirts, es gibt 400 gr. T-Shirts. Und wenn man nur 10 kg mitnehmen darf, dann lohnt es sich tatsächlich, diese Unterschiede nochmals ‚rauszukriegen. Oder das kleine Stundenbuch entspricht 2 T-Shirts. Ganz interessante Konstellationen, die sich damit so auftun. Jetzt zählt tatsächlich jedes Gramm. Soll ich die Elastikbinde nicht doch noch daheim lassen? Was mache ich mit den Plastikdosen? Brauch‘ ich die eigentlich wirklich? Plötzlich geht mir ein Licht auf. Bei der Erstellung der Packliste habe ich mich von der Frage leiten lassen, was könnte ich möglicherweise brauchen? Ich hab‘ mir alle möglichen Situationen vorgestellt, in die ich unterwegs kommen könnte und wollte mich für alle Fälle absichern. Und so tauchte plötzlich die Salbe gegen Zerrungen auf der Liste auf, und das Blasenpflaster, und das vierte T-Shirt, und der Notizblock, und, und, und… . Die richtige Frage aber müßte eigentlich heißen: Was brauch‘ ich jetzt wirklich? Und will ich wirklich ernsthaft eine Elastikbinde sechs Wochen quer durch Nordspanien mittragen, und sie im Endeffekt gar nicht brauchen?

Mit dieser neuen Frage lässt der Stapel sich plötzlich noch mal ganz neu sortieren. Und als die Waage dann 11 kg anzeigt bin ich zwar noch nicht ganz zufrieden, aber kann mir zumindest mal vorstellen, mich damit auf den Weg zu machen. Kleiner Hinweis, man kann in Nordspanien übrigens alles kaufen, es ein durchaus sehr kultiviertes Land. Sie brauchen nicht daran denken, alles mögliche mitzunehmen, es gibt Apotheken, alles vorhanden, also von daher gehen Sie ruhig, falls Sie eines Tages mal losgehen, mit wenig Gepäck los. Was notwendig ist und was sich unterwegs als notwendig erweist, kriegt man dort. Aber ich bin ein bisschen nachdenklich geworden. Könnte es sein, dass ich auch in meinem Alltagsleben manchmal zuviel Gepäck mitschleppe? Weil ich meine, mich für alle Eventualitäten absichern zu müssen? Könnte es sein, dass die Frage, was könnte ich möglicherweise brauchen, dazu führt, dass sich Dinge um mich herum so anhäufen, dass deren Gewicht mich fast erdrückt? Könnte es sein, dass das, was mich absichern will, mich zugleich in meiner Bewegungsfreiheit einschränkt? Dass ich vor lauter Nachdenken über den möglichen Fall des Falles gar nicht mehr zum Loslaufen komme? Die Frage, was brauche ich jetzt wirklich, statt, was könnte ich evtl. brauchen, könnte mir vielleicht auch in meinem Leben helfen, die Dinge neu zu sortieren und Schwerpunkte zu setzen.

Der Weg hat mir seine erste Lektion schon erteilt, noch bevor ich los gelaufen bin.

2. Szene:

Mitternacht in St.-Jean-Pied-de-Port. Die Kirchturmuhr schlägt. Ich hab‘ mir den Pullover übergezogen und sitze mit meinem Pilgertagebuch auf der Steinbank vor dem Refugio, der kleinen Herberge in St. Jean. Aus dem Schlafsaal kommt ein herzhaftes Schnarchen. An Schlaf ist überhaupt nicht zu denken. Zum Glück ist direkt neben der Bank eine Straßenlaterne, so dass ich genug Licht zum Schreiben habe. Es war ein sehr spannender Abend für mich, dadurch, dass ich in der Regel bei Seminaren in der Leitung bin, habe ich in den letzten Jahren immer nur Einzelzimmer gehabt, und ich hab‘ gar nicht mehr gewußt, wie laut es sein kann, mit anderen Menschen zusammen in einem Zimmer zu schlafen. Und an dem Abend habe ich wirklich ein faszinierendes Schnarchduett erlebt, wir waren zwar nur zu fünft, aber zwei davon waren überzeugte Schnarcher, die sich erstens abgewechselt haben und dann wirklich mal eine viertel Stunde im Duett geschnarcht haben, der eine von unten links schnarchend gerufen: „Ur!“ Von oben rechts kam dann immer die entsprechende Antwort: „Ar!“

Das waren ganz nette Menschen, ich konnte ihnen nicht bös‘ sein, aber an schlafen war wirklich nicht zu denken. An dem Abend habe ich die These aufgestellt, dass wahrscheinlich der Ohropax-Verbrauch entlang des Caminos erheblich höher ist als sonst im Durchschnitt Spaniens. Aber es sind nette Menschen, die auf dem Weg sind, aber wie gesagt, manchmal ein bisschen laut nachts.

Ja, jetzt bin ich also auf dem Weg nach Santiago. Fast kann ich es selbst noch nicht glauben. Ich weiß gar nicht, wodurch sich dieser Traum eines Tages in mein Herz eingenistet hat. Aber, kann man das von Träumen so genau sagen? Santiago wurde zur Chiffre für: Irgendwann mache ich das mal.

Vor zwei Jahren aber wurde aus dem Traum plötzlich ein konkretes Vorhaben. Ich war 40 Jahre alt geworden, wie gesagt in Haselünne, hatte mich entschieden, noch einmal zu studieren, eine neue Lebensphase zeichnete sich ab. Ein Übergang war angesagt. Und plötzlich war mir klar, wenn der Weg nach Santiago überhaupt in meinem Leben einen Sinn, einen Ort hat, dann zu diesem Zeitpunkt.

Ich hab‘ im Kalender seitdem sieben Wochen freigehalten, erfolgreich gegen alle Terminanfragen verteidigt, las mich in die entsprechende Literatur ein, erkundigte mich bei anderen, die den Weg schon gegangen waren, kaufte Schlafsack und Rucksack und lief im Schwarzwald schon mal probe. Auch Träume wollen vorbereitet und organisiert sein. Aber trotz aller Vorbereitungen, es war irgendwie immer noch unwirklich. Und jetzt sitz ich also hier in St-Jean vor dem Refugio und komme zum ersten Mal nach der Zeit des Packens und des Vorbereitens ein bisschen zur Besinnung. Ja, ich bin hier, und morgen geht es in die Pyrenäen. Ich bin auf dem Weg. Fast kann ich es selbst noch nicht glauben. Und ganz ehrlich gesagt, ich hab‘ auch ein bisschen Angst. Manchmal kann man schon ein wenig erschrecken, wenn Träume plötzlich wahr werden., Wünsche sich erfüllen. Plötzlich wird es konkret, und vielleicht wird es ganz anders als ich es mir erträumt habe? Vielleicht bleibt die Wirklichkeit hinter meinem Traum zurück, und ich bin nur enttäuscht. Und selbst, wenn sich alles so erfüllt, wie ich es mir erträumt habe, werde ich anschließend doch einen Traum weniger haben. Manchmal ist es gar nicht so einfach, wenn Träume wahr werden. Und mir fällt in diesem Moment der Satz eines Freundes ein. „Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünscht und warum du betest. Es könnte in Erfüllung gehen.“ Man sollte auch vorsichtig sein, um Leben in Fülle zu leben. Man könnte es kriegen, anschließend. Das ist was wirklich Großes, was ich mir vorgenommen habe, und ich zweifle ein wenig an mir selbst. Siebenhundertachtzig Kilometer zu Fuß, wie soll das denn gehen?

Das schaff‘ ich doch nie! Aber da kommt mir plötzlich Beppo, der Straßenkehrer aus der schönen Geschichte von Michael Ende, „Momo“, in den Sinn. Er hat eine unübersehbar lange Straße vor sich, die er fegen soll und fast lähmt ihn das. Wenn ich mir die siebenhundertachtzig Kilometer vor Augen halte, dann trau‘ ich mich gar nicht erst loszugehen, so groß ist das Projekt. Beppo schaut aber immer nur auf das Nächste, was zu tun ist. Also: Schritt, Atemzug, Besenstrich. Das aber beharrlich. Das hieße für mich, meine Schritte zwar auf Santiago ausrichten, aber für morgen nur Roncesvalles, den Zielort meiner ersten Etappe, in den Blick nehmen. Mich tröstet dieser Gedanke ein wenig, und er macht mir auch Mut, mich von der Größe einer Aufgabe oder Herausforderung nicht lähmen zu lassen, sondern das Ziel vor Augen, beharrlich Schritt für Schritt gehen. Ich glaube auch, ohne diese Caminoerfahrung würde ich jetzt auch nicht mit dieser Beharrlichkeit Theologie studieren. Das Ende ist nicht absehbar. Aber Schritt für Schritt, Schein für Schein, wenn man beharrlich genug ist, wird man eines Tages vielleicht auch das Diplom haben.

Ich spitze die Ohren Richtung Refugio. Tatsächlich, es ist ruhig geworden. Das ist die Chance, wohlig müde kuschele ich mich in meinen Schlafsack, und kurz vor dem Einschlafen denke ich nochmal, ich bin auf dem Weg. Schritt, Atemzug, Besenstrich, und ich freu‘ mich d’rauf.

3. Szene:

Der Finger des Arztes zeigt ziemlich unbarmherzig auf die Zeile in dem viersprachigen Patientenführer: „Diesen Verband dürfen Sie nicht abnehmen!“ Bei diesem Verband handelt es sich um eine dicke Elastikbinde um mein Knie, die das Gehen schlichtweg unmöglich macht. An ein Weitergehen ist überhaupt nicht zu denken. Den Traum Santiago de Compostela kann ich mir erst mal abschminken. Es hilft nichts. Draußen vor dem Gesundheitszentrum steigen mir doch die Tränen hoch. Da hatte ich so lange geplant und mich vorbereitet und jetzt das. Der Abstieg von den Pyrenäen hatte wohl die Bänder in einem Kniegelenk überanstrengt. Auf ebener Strecke ging es ja noch mit dem Gehen, aber jeder Auf- und Abstieg tat höllisch weh. So war mir also nichts anderes übrig geblieben, als in Pamplona den Arzt aufzusuchen, und der hatte mir jetzt also die Rote Karte gezeigt. Aus der Traum. In der Beziehung hatten es die Pilger im Mittelalter einfacher. Die konnten einfach eine Woche lang irgendwo bleiben und ihre Verletzung auskurieren. Wenn ich eine Woche nicht gehen darf, dann ist klar, ich kann nicht die gesamte Strecke nach Santiago zu Fuß machen. Die Zeit sitzt mir im Nacken, die Verpflichtungen zu Hause. Mit meinem lädierten Knie ziehe ich nach Puente la Reina um. Pamplona ist mir zu laut, und in Puente habe ich jetzt viel Zeit zum Nachdenken.

Ich hadere ein bisschen mit meinem Schicksal, aber es hilft ja alles nichts. So ist es nun einmal. Ein erster Gedanke, der mir in diesen Tagen kommt: Der Körper holt sich das, was er braucht. Ich bin aus dem absoluten Stress aufgebrochen, habe sogar vorher schon zwei Kilogramm abgenommen. Der Körper braucht Ruhe, die Seele will nachkommen, und beides ist in diesen erzwungenen Tagen der Ruhe möglich. Ich schlafe und schreibe viel, und ich spüre, dass ich mich auf einmal ganz neu öffnen kann für das, was dieser Weg mir sein will. Ob das so möglich gewesen wäre, wenn ich einfach hätte durchlaufen können? In diesen Tagen wird mir aber noch einmal etwas ganz anderes wichtig. In meiner Tätigkeit habe ich es oft mit Menschen zu tun, die verletzt oder verwundet sind. Wie aber kann ich mich mit ihnen auf einen Weg hin zur Heilung machen, wenn ich selbst nicht weiß, was Gebrochenheit heißt, was Verletzung bedeuten kann. Ich erlebe im wahrsten Sinne des Wortes hautnah, was es heißt, gelähmt zu sein, nicht gehen zu können, in der Bewegung und im Wollen eingeschränkt zu sein. Helfer, die nicht um ihre eigenen Verwundungen wissen, können nicht heilen. Sie können von oben herab Ratschläge erteilen, aber das hilft nicht. Verwundete brauchen Menschen, die mit ihnen gehen, die an ihren eigenen Verwundungen leiden, die wissen, wie sich das anfühlt, wenn es weh tut.

Ich glaube, dass diese Woche mit der Verletzung die Woche war, die mich ganz neu aufgeschlossen hat für die Erfahrungen, die mir der Weg schenken wollte. Und es kann gut sein, dass ich in dieser Woche lernen sollte, dass es zwar ein Ziel gibt, aber man durchaus unterschiedliche Wege dorthin gehen kann. Die Umstände verschwören sich gegen mich, und es klappt nicht, ich komme an eigene Grenzen. Es könnte wichtig sein, dann auch im Alltag das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, aber gegebenenfalls einen anderen Weg zu gehen. Unterwegs bleiben, auf das Ziel hin ausgerichtet – die Frage nach dem konkreten Weg ist dann erst die zweite Frage. Es war eine wichtige Woche für mich, eine Woche in der ich mich mit dem Überlandbus Burgos annähere. Und ich glaube, dass ohne diese Woche, ohne diese Verletzung der Weg anders gelaufen wäre.

4. Szene:

In Burgos mache ich mich langsam und behutsam wieder zu Fuß auf den Weg. Und es tut mir gut. Ich bin anders auf dem Weg. Nichts ist mehr selbstverständlich. Ich bin dankbar für das, was möglich wird. Und nach den Tagen des Alleinseins und des Auf-mich-Gewiesenseins, weil man dann auch aus der Pilgergemeinschaft irgendwie ‚rausfällt, freue ich mich neu an den Weggefährten, an den Mitpilgern und Mitpilgerinnnen, die unterwegs sind. Es gibt nette Kombinationen, nette Weggeschichten. Man unterhält sich fünf Minuten lang mit einem anderen auf englisch, um dann festzustellen, dass wir beide aus Deutschland kommen. Der Camino insgesamt ist viersprachig: Deutsch, Englisch, Spanisch, Französisch. Ein wildes „Gedolmetsche“, ich hab‘ in den Wochen meine Sprachenkenntnisse wieder aufgefrischt und ausgesprochen viel gelernt, was die Flexibilität bei den Sprachen angeht.

Ich hab‘ unterwegs Menschen aus siebzehn Nationen getroffen, von Brasilien bis Finnland, und zu meiner eigenen Überraschung, viel Ältere. Zu der Jahreszeit, wo ich unterwegs war, vor allen im Juni, sind wenig Jüngere unterwegs, sondern viele Anfang sechzig Jahre, die die Zeit der Pensionierung nutzen und sagen, jetzt habe ich endlich Zeit und Raum, diesen Weg zu gehen. Ich gehörte eher zum jüngeren Durchschnitt, der unterwegs war. Die Beziehung zwischen den Menschen auf dem Weg gestalten sich interessant, es gibt den Caminotelegraph, wie man so schön auf dem Camino sagt, man weiß, wer vor einem ist, wer schneller geht und gibt denen, die schneller laufen, Grüße an diejenigen mit. Denjenigen, die hinter einem sind, weil sie durch eine Verletzung pausieren mußten, hinterlässt man Grüße in Gästebüchern, man erzählt sich in den Refugios abends die Geschichten: „Hast du auch die verrückte französische Malerin gesehen, die mit Staffelei und 20 Kilogramm Gepäck die Pyrenäen überquert hat?“ Oder: „Habt ihr schon den französischen Pilger mit dem Hund getroffen, der unterwegs ist?“ Und eine der schönsten Geschichten gab’s von Maria und Piet. Maria, eine Amerikanerin, die sich ein Vierteljahr Sabbatzeit genommen hat, Piet ein Holländer, der in Holland losgelaufen ist. Unterwegs trafen sich die beiden, fanden irgendwie Gefallen aneinander, sind drei Tage miteinander gegangen. Dann fiel ihnen irgendwann wieder ein, dass sie ja eigentlich alleine gehen wollten. So trennten sie sich. Maria blieb ein Tag an dem Ort, Piet ging die nächste normale Tagesetappe. Am Abend haben sie dann gemerkt, eigentlich stimmt das jetzt auch nicht, ganz unabhängig voneinander. Daraufhin blieb Piet an dem Ort und pausierte, und Maria machte die doppelte Tagesetappe, um Piet wieder einzuholen. Und damit trafen sich die beiden wieder und sind den Rest des Weges zusammen nach Santiago gelaufen. Piet ist übrigens von Santiago auch wieder nach Holland zurückgelaufen. Er war ein und ein halbes Jahr unterwegs.

Die Solidarität der Gefährten auf dem Weg ist wichtig. Ich bin nicht allein, da sind andere, die mit mir gehen. Andere, die ich aber auch wieder ihren Weg gehen lassen muss. Unterwegs ist man, selbst wenn man in einer Gruppe ist, auch immer für sich.

Ich kann andere Menschen nicht festhalten. Am Abend kann es ein sehr schönes Fest sein mit der Gruppe, die sich im Refugio trifft, am nächsten Morgen verabschiedet man sich und weiß nicht, ob man sich am nächsten Abend im nächsten Refugio wiedertreffen wird. Kann sein, dass es einen rauskickt aus dem Weg, kann sein, dass die anderen ein Refugio weitergehen. Und ich glaube, dass dies auch eine ganze Menge mit Christsein im Alltag zu tun hat. Auch dort brauche ich die Gefährten, brauche ich die Gemeinschaft, mit denen ich unterwegs bin, die mich stärken in meinem Unterwegssein, die mir aber auch das ganz eigene Gehen nicht abnehmen können. Es sind Menschen, von denen ich manchmal weiß, die ich aber nicht unbedingt tagtäglich wiedertreffe. Aber das Wissen um solche Menschen tut mir gut. Weggefährten im Glauben.

5. Szene:

Carrion de los Condes. Ein bisschen skeptisch habe ich schon wohl geschaut, als ich am Morgen die deutsche Übersetzung nachlas, des Tagesevangeliumes. „Nehmt nichts mit auf dem Weg, keine Vorratstasche, kein zweites Hemd, kein Wanderstab. Steckt kein Gold und keine Kupfermünzen in eure Gürtel.“ Das Evangelium von der Aussendung der Jünger. Und prompt an dem Tag war mein Rucksack sicher vierzehn Kilogramm schwer. Vor mir liegen 18 Kilometer Einsamkeit. Eine Strecke durch die Meseta ohne Haus, ohne Dorf, ohne Baum. Und je nach Wetter braucht man für solche Strecken dann schon zwei Liter Wasser. Dazu den Proviant für tagsüber und abends. Das macht den Rucksack schwer. Und dann ein solches Evangelium.

Die Strecke durch die Meseta war eine sehr schöne Strecke, für mich eigentlich eine der schönsten Wegetappen. Da bin ich ein bisschen dem Bild von Siegfried Köder aufgesessen, was vielleicht manche von Ihnen kennen, die Meseta als eine braune Ebene. Das mag sein, wenn man im August oder September durch die Meseta geht. Im Mai und im Juni läuft man durch endlos weite wogende Getreidefelder, mit rotem Klatschmohn zwischendrin, man verliert sich in Wind und Weite und Unendlichkeit und Wolken. Mai, Juni ist eine wunderschöne Jahreszeit, um den Camino zu gehen, weil um die Zeit alles grün ist und im September eher schon ins bräunliche Abgeerntete hinübergeht.

Ich hab‘ mich an dem Tag in Wind und Weite verloren, bin alleine auf alten Römerstraßen unterwegs, gehe durch diese endlos grünen Getreidefelder, in denen der Wind spielt, selten ein Haus, ein Baum schon über Kilometer hinweg zu sehen, nur Wind, Weite und Wolken. Und ich lass mich hineinziehen in diese Weite, es geht mich und es weitet mich. Ich ahne darum, das ein solches Gehen, eine solche Weite auch süchtig machen kann. Es ist eine Weite, wie ich sie auch hier oben im Norden erlebe und entdecke, und wo ich merke: ja, wenn man in einer solchen Weite lebt, kann man eigentlich nicht „eng“ sein. Im Schwarzwald sagt man: je enger das Tal, desto enger der Kopf. Weil einfach die Perspektive sehr begrenzt ist. Und ich merke, dass mir eine solche Weite, wie hier, einfach gut tut. Sie macht mich wiederum weit. Ich genieße das Alleinsein auf dieser Strecke, jedes Gespräch würde nur ablenken vom Sein, vom sich Verbundenfühlen mit Wind, Wolken und dem Weg. Der Kirchturm der kleinen Friedhofskirche von Calzadilla sehe ich schon lange am Horizont, schließlich bin ich auf der kleinen Anhöhe, von der aus der Weg zweihundert Meter hinunter ins Dorf führt. Ich nehme den Rucksack und setze mich ‚drauf, bin müde, dreckig, verschwitzt, sehne mich nach einer Dusche und bleib‘ doch auf dieser Anhöhe, das heutige Ziel greifbar vor Augen. Ich bleibe so eine halbe Stunde sitzen. Ich kann den Wind und die Weite noch nicht verlassen. Ich kann noch nicht ankommen. Das ist eine dichte und intensive halbe Stunde dort oben auf dieser kleinen Anhöhe.

Die Schriftstelle von heute morgen hat mich den Tag über begleitet. „Nehmt nichts mit auf den Weg.“ Es ist ja eigentlich schon herb, die Jünger folgen Jesus, weil sie in seiner Nähe sein wollen, weil sie in ihm jemanden ahnen, der ihnen etwas geben kann, dass er ihnen guttut, dass er eine wichtige Lebensbotschaft für sie hat. Und er schickt sie weg, und sie lassen sich wegschicken. Und erschwerend dazu, ohne Absicherung, kein Geld, kein zweites Hemd, keine Vorratstasche. Nackt und bloß, angewiesen auf das, was andere ihnen geben, von dem sie leben können. Und noch nicht mal Erfolg wird prophezeit.
Jesus sagt deutlich, es wird Häuser geben, in denen ihr nicht aufgenommen werdet. Man ist fasziniert von einer Idee, von jemandem – und wird ganz unversehens zum Mitarbeiter. Man will bei jemandem bleiben und wird doch losgeschickt. Nachgehen wird zum Losgehen, und man läßt sich ‚drauf ein, ohne wenn und aber. Aber man riskiert sich, investiert sich für eine Idee, eine Ahnung, eine Sehnsucht.
Ich bin ein bisschen nachdenklich an diesem Abend in der kleinen Pilgerherberge und spüre den Erfahrungen dieses Tages nach, die so unterschiedlich so sein mögen und vielleicht ganz viel miteinander zu tun haben.

6. Szene:

Verdutzt stehe ich vor dem Maschendrahtzaun, der plötzlich quer über den kleinen Wanderpfad läuft und mir den Weg versperrt. Was soll das denn? Ich mache ein paar Schritte nach links, ein paar Schritte nach rechts, aber der Zaun ist offensichtlich neu und vollkommen intakt. Und selbst wenn ich irgendwie über diesen Zaun kommen würde, wüßte ich nicht, wie ich mich dann durch die Großbaustelle kämpfen soll, die vor mir liegt, der Baustelle der neuen nordspanischen Autobahn. Ich fluche ein bisschen vor mich hin. Ich scheine mich eindeutig verlaufen zu haben und das gerade an dem Morgen, wo mir das Gehen so schwer fällt. Im Moment geht aber auch alles schief. Gestern abend war die Pilgerherberge in Sahagún wegen Fiesta geschlossen. Ich verstand nicht genug spanisch, um den Zettel an der Tür lesen zu können, Hotelbetten waren auch keine mehr frei. Und so bin ich in meinem Ärger zum nächsten Refugio weitergelaufen. Für gestern abend hatte ich den Anruf mit einer Freundin vereinbart, die ab Leon dazu kommen will, um miteinander die letzten Sachen zu klären. Nachdem ich in dem kleinen Ort ein öffentliches Telefon gefunden hab‘, funktioniert es natürlich nicht. Und das nächste Telefon ist fünf Kilometer entfernt. Und jetzt, am Morgen, wo mir das Gehen so schwer gefallen ist, hab‘ ich mich auch noch verlaufen. Es ist genauso wie zu Hause, immer gehen gleich drei Sachen schief, aber es hilft alles nichts, ich muss wieder zurück. Ich hätte in .Calzada del Coto.übernachtet. Von dort aus kann man entweder auf dem alten Pilgerweg, den alten Römerstraßen, weiter nach Santiago gehen, oder man wechselt auf die neue Pilgertrasse. Mit Mitteln der europäischen Gemeinschaft hat man in Spanien neben dem alten Camino eine Art Pilgerautobahn angelegt, direkt neben einem breiten großen Feldweg, alle zehn Meter gesäumt von einer Platane, die um’s Überleben kämpft, strikt geradeaus, entsprechend langweilig. Und die Spanier sind ein bisschen stolz auf diesen neuen Weg. Und deswegen ist der neue Weg markiert und der alte und dessen Markierungen verfallen ein bisschen. Ich wollte an dem Morgen diese Pilgerautobahn vermeiden und hatte mich deshalb für den alten Weg entschieden. Und an irgendeiner Kreuzung muss ich mich wohl entsprechend verlaufen haben, wegen mangelnder Markierung. Im übrigen, der Camino ist hervorragend durchmarkiert, aber jeder verläuft sich irgendwann mal auf dieser Strecke in einem Zustand mentaler Verwirrung. Einem Freund ist es passiert, der tauchte auf einmal in einem Dorf auf und wurde von den Dorfbewohnern begrüßt: „Ach, das ist ja schön, dass mal wieder ein Pilger hier ist. Der letzte war vor einem Jahr da.“ Damit war eindeutig, dass er nicht mehr auf dem offiziellen Pilgerweg war. Wie gesagt, jedem passiert es irgendwann mal, irgendwo verläuft man sich.

Es hilft nichts, ich muss zwei Kilometer zurück. Dort habe ich eine Brücke über die Autobahn gesehen, und dann werde ich doch notgedrungen auf die neue Pilgertrasse wechseln müssen. Für weitere Experimente habe ich heute morgen keine Kraft mehr. Und als ich nach eineinhalb Stunden mühsamen Gehens gerade wieder einen Kilometer von dem Refugio entfernt bin, wo ich letzte Nacht geschlafen habe, ist meine Stimmung ziemlich auf dem Nullpunkt. Ich habe keine Kraft mehr, weder körperlich noch mental. An der ersten Bank entlang der Pilgertrasse mache ich eine Zigarettenpause und frag‘ mich leicht verzweifelt, wie um alles in der Welt ich in dem Zustand die dreizehn Kilometer schaffen soll, die vor mir liegen. In dem Moment kommt ein junger Mann den Pilgerweg entlang, bittet mich um eine Zigarette und setzt sich zu mir. Wir beide fangen ein nettes Gespräch miteinander an. Ich sage zu ihm, er sei der erste Pilger, den ich treffe, mit Regenschirm. Er sagte nein, es wäre noch ein zweiter mit Regenschirm unterwegs. Aber ich wäre dafür die erste Pilgerin mit Reiseaschenbecher; denn ich hasse es, Zigarettenkippen auf dem Boden liegen zu lassen. Und nach kurzer Zeit fiel die Entscheidung, wir gehen ein Stück miteinander. Wir entdecken Gemeinsamkeiten, fangen an über das Leben und die Lebendigkeit nachzudenken, und Martin erweist sich als meine Rettung an diesem Tag. Und unsere Gespräche sind wohl für Martin die Rettung, der sich aus einer ziemlich ungeklärten Situation daheim zu einer Denkpause auf den Camino zurückgezogen hat.

Wir tun uns beide gegenseitig gut. Wir werden uns wichtig. In den Gesprächen und Gesten öffnet sich noch Verschlossenes. Wir bleiben drei Tage miteinander auf dem Weg. Und ich bin mir sicher, ohne diese Begegnung wäre mein und sein weiterer Weg nach Santiago anders verlaufen. Als wir uns dort später wieder treffen, staunen wir immer noch, wie sich diese Begegnung gefügt hat, zu seinem und meinem Besten. Einig sind wir uns beide darüber, dass die Software des lieben Gottes die eindeutig bessere ist. Planen kann man solch eine Begegnung nicht, die ist geschenkt. Und ob wir uns begegnet wären, wenn nicht dieser Maschendraht gewesen wäre, weiß ich auch nicht. Es mag sich ein bisschen simpel anhören, aber nach meinen Erfahrungen in diesen Tagen, auf dem Weg nach Santiago werde ich zunehmend sicherer: Manchmal benutzt Gott sogar Maschendrahtzäune, um uns gut zu tun.

7. Szene:

Aufstieg zum Cruz de Ferro. Der Aufstieg fällt uns beiden relativ leicht. Seit Leon ist Christiane dabei, eine Freundin aus Würzburg. Die Sonne scheint – das war nicht immer so, das war einer meiner größten Irrtümer, Nordspanien mit Sonne zu verbinden. Den Sommeranfang hab‘ ich erlebt bei 6 Grad plus, bin jeden Morgen los mit Pullover, langärmeliger Bluse, Goretex-Jacke, Sonnenöl war in den ersten zwei Wochen das Überflüssigste, was ich mitgeschleppt habe. Das heißt, es war sehr angenehm zum Wandern, weil man nicht so arg ins Schwitzen kam, wie im Juli oder im August, aber dass es so frisch wäre, hat mich doch persönlich sehr erstaunt. Die kurzen Hosen hätte ich getrost zu Hause lassen können, die hab‘ ich wirklich überhaupt nicht gebraucht. Es ist eher so ein Klima wie in Irland, Küstenklima, immer mal wieder Regen, Sonne, schnellwechselnd, Wind, nicht allzu warm.

Andrea Schwarz: Veröffentlichungen

Am Tag der offenen Himmelstür, Herder 1998
Bunter Faden Zärtlichkeit, Herder 1986
Der gemietete Weihnachtsmann, Herder 1996
Ich bin Lust am Leben, Herder 1997
Ich bin verliebt ins Leben, Herder 1994
Ich mag Gänseblümchen, Herder 1997
Ich schick dir einen Sonnenstrahl, Herder 1997
Ich suche und finde das Leben in mir, Herder 1996
Kater sind eben so, Herder 1991
Der kleine Drache Hab-mich-lieb, Herder 1987
Mich zart berühren lassen von Dir, Herder 1996
Die Sehnsucht ist größer, Herder 1998
Und alles lassen, weil Er mich nicht läßt, Herder 1997
Vom Engel, der immer zu spät kam, Herder 1997
Wenn Chaos Ordnung ist, Herder 1997
Wenn ich meinem Dunkel traue, Herder 1998
Entschieden zur Lebendigkeit,Herder 1999

Die Straße zieht sich leicht den Berg hoch, wunderschöne Ausblicke begleiten uns, und auch den Rucksack bekomme ich nach vier Wochen unterwegssein besser hoch. An dem Tag begleitet mich der Psalm 84: „Wohl den Menschen, die sich zur Wallfahrt rüsten. Ziehen sie durch das trostlose Tal, wird es für sie zum Quellgrund und Frühregen hüllt es in Segen. Sie ziehen dahin mit wachsender Kraft.“ Ich habe bis dahin diesen Psalm immer mit einer wachsenden körperlichen Kraft assoziiert, und das trifft auch durchaus zu. Ich komme nicht mehr ganz so schnell aus der Puste, wenn es bergauf geht. Aber an dem Tag wird mir klar, dass auch eine seelische, eine innere Kraft in mir wächst. Es ist zum einen die Kraft der Erinnerungen, wenn ich die Pyrenäen gepackt habe, dann werde ich diesen Berg, der vor mir liegt, auch noch packen. Zum zweiten ist es eine Kraft, die aus der Entschiedenheit, der Zielgerichtetheit heraus kommt. Jede Entscheidung an einer Wegkreuzung, den gelben Pfeilen zu folgen, mich damit für eine Richtung zu entscheiden und zugleich gegen drei andere Richtungen, macht mich klarer, eindeutiger und auch identischer. Unentschiedenheit bringt nicht voran. Aber jeder Schritt, der mich entschieden in eine gewisse Richtung bringt, macht mich klarer und macht mich eindeutiger. Von daher kann man den Psalm, glaub‘, ich wirklich so übersetzen wie es Erich Zenger tut: „Wohl den Menschen, die Pilgerstraßen in ihrem Herzen tragen. Sie ziehen dahin von Kraft zu Kraft.“

Der Pilgerweg nach Santiago ist ein Weg, der helfen will, bestimmte menschliche Erfahrungen einzuüben. Es ist eine Art Lernfeld. Man kann das auch lernen, ohne nach Santiago gegangen zu sein. Aber wenn man nach Santiago geht, ist es ein bisschen leichter, das zu lernen, weil man das am eigenen Körper erlebt und spürt.

8. Szene

Noch 20,5 Kilometer bis Santiago, so hat es der Kilometerstein heute nachmittag angezeigt. Ich lese die Zahlen auf den Kilometersteinen mit durchaus gemischten Gefühlen. Irgendwie freue ich mich aufs Ankommen und habe zugleich Angst davor. Gut sechs Wochen bin ich jetzt zu Fuß und eine kleine Strecke mit dem Bus unterwegs gewesen, immer nach Westen, den gelben Pfeilen folgend, auf den Weg nach Santiago. Sechs Wochen bin ich mit dem ausgekommen, was ich auf dem Rücken trage. Sechs Wochen lang bin ich morgens irgendwo aufgebrochen, bin den Tag lang in Sonne und Regen in Wind und Weite gewandert, durch endlose Getreidefelder, über Bergpässe, an langweiligen Straßen entlang, durch kleine Dörfer und Städte, auf abenteuerlichen Schlammpfaden. Fünfhundert Kilometer zu Fuß liegen hinter mir, und morgen werde ich nun also in Santiago ankommen. Ich habe durchaus gemischte Gefühle. Mit dem Ankommen geht unwiderruflich etwas zu Ende, was so nicht wiederholbar ist. Selbst wenn ich den Camino noch mal gehen können, wird es dann anders sein. Und da ist ein bisschen Traurigkeit in mir, als mir das so bewusst wird, und gleichzeitig freue ich mich. Ich freue mich auf Santiago, auf zu Hause und darauf, mal wieder endlich einen anderen Pullover anziehen zu können, als nur den einen, den ich dabei habe. Ich freue mich d’rauf, mal wieder ganz alleine zu schlafen und nicht in einem riesengroßen Schlafsaal. Ich träume davon, mir in Santiago ein weiches, weißes, ganz sauberes und neues Sweatshirt zu kaufen. Am Monte del Gozo, den Berg, von dem man aus das erste Mal auf Santiago sieht, will sich bei mir die rechte Freude noch nicht so ganz einstellen, schließlich die Kathedrale. Und mit Christiane sitz ich eine halbe Stunde davor, und wir wollen beide noch nicht so richtig hinein. Schließlich entbieten wir unseren Ankommensgruß, wie es Millionen von Pilgern vor uns getan haben. Und ich lege die Hand in die Säule, die sich mir fast entgegen schmiegt. Dann gehen wir wieder. Noch ist Besichtigung nicht angesagt.

An diesem Tag laufe ich fast wie ein bisschen geistig verwirrt durch diese wunderschöne Stadt. Ich bin da und bin doch nicht da. Und erst am nächsten Tag löst sich die Spannung bei der Pilgermesse. Es ist das Fest „Maria Heimsuchung“, der Besuch Marias bei Elisabeth. Und zu Ehren dieses Festes wird das Rauchfass geschwungen. Und in dem Moment hält es mich nicht mehr auf der Kirchenbank, ich muss aufstehen und mir kommen die Tränen. Mir fällt das Lied ein, das ich so gern‘ singe: In deinen Toren werd ich stehen, du freie Stadt Jerusalem, in deinen Toren kann ich atmen, erklingt mein Lied. Jetzt und hier erahne ich etwas davon, was das bedeuten kann. Frieden zieht in mir ein, Gelassenheit, eine neue Gewissheit, was wirklich wichtig ist, und eine tiefe Freude. Und mir wird zunehmend klar: Nein, der Weg ist nicht das Ziel. Der Weg ist wichtig, aber er braucht das Ziel. Der Weg ist nicht schon in sich wertvoll, der Weg braucht das Ziel, damit ich ankommen kann, so schwer es manchmal auch sein mag. Ohne Ziel wird der Wanderer zum Vagabunden und zum Abenteurer, denn dann wird es beliebig, wohin er geht. Der Camino, der Weg von Santiago de Compostela, hat sein Ziel und kann damit zu einem Abbild von Lebensweg und Lebensziel werden.

An diesem Abend verabschieden wir Doris und David, ein älteres englisches Ehepaar, das wir oft auf dem Weg getroffen haben. Morgen werden sie nach Hause zurückfahren, und sie wissen nicht, ob sie in ihrem Leben noch einmal Santiago sehen werden. Auf dem jetzt menschenleeren Platz vor der Kathedrale, im warmen Abendlicht, setzt sich David im Schneidersitz vor die Kathedrale und nimmt leise für sich Abschied. Vom kleinen Platz in der Nähe tönt leise Saxophonmusik eines Straßenmusikanten: „Should auld acquaintance be forgot“ – Nehmt Abschied, Brüder, ungewiss ist alle Wiederkehr. Jedes Ankommen bedeutet neues Aufbrechen. Trotz Pullover bekomme ich ein bisschen Gänsehaut in diesem Moment, ich muss schlucken und ahne darum, dass möglicherweise mit der Ankunft in Santiago der Weg überhaupt erst beginnt.

9. Szene

Hinter mir liegt eine lange Zugfahrt, und ich bin ein bisschen übernächtigt. Es war ein seltsames Gefühl, mit dem Zug durch die nordspanische Landschaft zu fahren, die ich sechs Wochen lang durchwandert habe. In der Meseta haben wir einige Pilger gesehen. Ich hab‘ die Autobahnbrücke entdeckt, bei der ich Martin getroffen habe, im Reiseführer habe ich die Etappen noch mal nachgelesen. Es ist unwirklich, wieder in Deutschland zu sein, es ist unwirklich, nach sechs Wochen Pilgern wieder in den Alltag zu kommen.

Maria, die Amerikanerin, die mit uns bis Straßburg zurückfährt, fragt uns ein bisschen ratlos, nachdem sie ein Vierteljahr unterwegs war: „Wie macht man das, nicht mehr zu pilgern? Was macht man eigentlich, wenn man morgens nicht mehr aufbricht, den Rucksack packt, irgendwo losgeht, Quartier sucht, sich was zu Essen organisiert, was macht man dann?“

Als mich Manfred am Bahnhof in Worms abholt, wir mit dem Auto durch die Stadt fahren, bin ich richtig erschrocken: „Das ist aber schnell!“ Manfred schaut mich überrascht an und sagt: „Ich fahr‘ grad 30!“ Und als er mich verabschiedet, sagt er: „Denke bitte dran, in Deutschland gibt es eine Mindestgeschwindigkeit auf Autobahnen.“ Ich hab‘ mich, glaub‘ ich, nie so deutlich an Geschwindigkeitsbegrenzungen gehalten wie die ersten sechs Tage, nachdem ich vom Camino zurück war.

Am Abend sitz‘ ich in meiner Wohnung, und mir ist schon wieder nach Weinen zumute. Die Freunde haben sich in meiner Abwesenheit zu liebevoll um die Wohnung gekümmert und mich hier so liebevoll empfangen. Aber die Wohnung scheint mir viel zu groß zu sein und ein Schlafzimmer ganz für mich alleine? Fast weiß ich schon nicht mehr, was das ist! Und als ich vor meinem Kleiderschrank stehe, erschrecke ich. Soviel Klamotten? Wie soll ich mich da nur entscheiden, was ich anziehen soll? Sechs Wochen lang war das einzige Kriterium, was ist das Kleidungsstück, was am wenigsten dreckig ist. Ich blättere im Tagebuch herum. Auf dem CD-Player liegt eine der CD’s mit der galizischen Musik, die ich mir mitgebracht habe und die letzten Tage in Santiago oft gehört habe. Ich bin gespannt auf die Dias und freue mich auf den Gottesdienst morgen früh. Von dort bin ich von der Gemeinde losgeschickt worden mit dem Pilgersegen. Nach dem Gottesdienst werde ich die Muschel abnehmen, die ich sechseinhalb Wochen getragen habe. In mir ist viel Dankbarkeit für das Erlebte, und einen Moment lang denke ich: Nach dem Weg und dem Ankommen in Santiago fällt mir das Wiederheimkommen schwer. Ich bin grad froh bei dem Gedanken, dass, wenn ich eines Tages bei meinem himmlischen Vater angekommen bin, nicht wieder zurück muss in irgendeinen Alltag. Ich darf dann wirklich dort bleiben, wohin ich hingepilgert bin.
Was heißt Pilgern jetzt für mich? Mich festmachen in Gott und auf Grund dessen in Bewegung kommen, von Gott ausgehen, zugleich auf Gott zugehen, bei den Menschen sein. Und wenn ich auf mich schaue, stelle ich erstaunt fest, es hat sich was geändert: Ich bin weicher und stärker geworden, empfindsamer und toleranter, gelassener und geduldiger, Gott vertrauender und mit einem Blick für das wirklich Wichtige.

Letzte Szene

Ende Oktober. Ein bisschen traurig drücke ich die Taste „Speichern“ am Computer. Die letzte Datei des Pilgertagebuches ist eingegeben. Schade! Dieses Tagebuch hat in den letzten Wochen und Monaten den Weg sehr lebendig gehalten. Neu, ganz neu habe ich mich in diesen Wochen in die Landschaft Rheinhessens verliebt, hab‘ mich hinausziehen lassen in die Weite und Unendlichkeit auch dieser Landschaft, durchschnitten von kleinen Tälern, in denen die Dörfer versteckt liegen. Ich bin lebendiger geworden durch die Erfahrungen auf dem Camino. Lebendigkeit hat etwas mit Haltungen und Einstellungen zu tun, mit einem Wechsel der Perspektive, dem Mut loszulassen und den Aufbruch zu wagen. Dafür kann der Camino ein Lernfeld sein. Wenn ich mich wirklich auf diesen Weg einlasse, und wenn ich dem Weg nicht vorschreibe, was er mir zu geben hat, wie er zu sein hat, wenn ich wirklich offen bin für das ganz andere. Die christliche Zusage steht: Sucht und ihr werdet finden. Dummerweise wird nicht dazu gesagt, ob das, was wir finden werden, auch das ist, was wir gesucht hatten. Menschen, die von vornherein dem Camino vorschreiben, was sie dort erfahren möchten, werden ihre Geschenke möglicherweise nicht bekommen. Zum Camino gehört auch das Loslassen. In volle Hände kann Gott nichts mehr hineinlegen. Ich persönlich habe Ehrfurcht vor diesem Weg bekommen. Es ist ein spiritueller Weg. Natürlich kann man diesen Weg aus sportlichen oder kunsthistorischen Interessen gehen, aber man wird die Erfahrungen nicht machen können, die dieser Weg in sich birgt. Es ist ein Weg, der Geschichte hat, und der die Kraft von Hunderttausenden von Pilgern, die diesen Weg über Jahrhunderte hinweg gegangen sind, aufgenommen hat, und an die Pilger, die sich heute auf diesen Weg machen, auch wieder abgibt, wenn sie bereit dazu sind. Verräterisch mag die Sprache sein, wenn jemand sagt: „Ich mach den Weg.“ Der Weg lässt sich nicht machen, dieser Weg ist immer Geschenk. Ich mach den Weg, das hört sich an wie: ich mach den Berg, ich mach dich klein, ich schaff dich, um mich zu bestätigen. Wer den Camino so angeht, um eine bestimmte Strecke zu Fuß zurückzulegen, der mag von dem, was dort möglich ist, nichts erleben. Der Camino und das Leben sind geschenkt und sind nicht machbar, und sie wollen unser Staunen, unsere Offenheit, unsere Liebe und die Bereitschaft zum Aufbruch. Und wer meint, dass sich seine Sehnsucht mit der Ankunft in Santiago stillen lässt, auch der wird sich täuschen. Die Sehnsucht ist größer, und auch der Weg nach Santiago de Compostela ist nur ein Abbild menschlichen Weges. Unsere eigentliche Sehnsucht zielt auf etwas Anderes. Santiago ist nur Abbild dafür, aber das kann möglicherweise ganz schön viel sein, weil man auf dem Weg nach Santiago diese Erfahrung machen kann, die man auch im Leben machen kann. Ja, es war ein Weg, es waren sechs Wochen, die Mühe gemacht haben, die anstrengend waren, die nicht immer leicht waren. Es waren sechs Wochen in meinem Leben, die ich nicht missen möchte, die ich nicht hergeben möchte. Es waren sechs Wochen, in denen ich unsagbar reich beschenkt worden bin. Sechs Wochen, in denen ich mich verändert habe, sechs Wochen, an denen ich gewachsen bin. Und ich glaube, der Weg hat tatsächlich was mit Christsein zu tun, denn auch die Bibel erzählt davon. Immer dort, wo sich Menschen von Gott berühren lassen, brechen sie auf und gehen sie los, nehmen ein Stück Weg unter die Füße. Maria, die zu Elisabeth geht, die Jünger, die ihre Familien verlassen, aufbrechen und losgehen und Jesus selbst, der als Wanderprediger umherzog. Er bildete seine Nachfolger nicht an einer theologischen Hochschule aus, sondern im Unterwegssein und in der Begegnung mit dem Menschen. Das kann man auf dem Camino erleben, aber genauso spannend ist es, das im Emsland zu erleben. Man kann diese Erfahrungen auf dem Weg nach Santiago machen, aber gefragt ist eigentlich auch, wenn ich solche Erfahrungen mache, die dann auch im Emsland, zwischen Lingen und Haselünne und Handrup, entsprechend zu leben.

Ich wünsche Ihnen viel Mut zum Aufbruch, Zeit zu einem inneren Aufbruch, seien es die Pilgerwege in Ihrem Herzen, vielleicht für den einen und die andere auch ein äußerer Aufbruch, ein sich leibhaftig auf den Weg machen. Möge Gott, der treue Wegbegleiter, Sie auf diesem Weg einfach begleiten. Ich sag‘ danke für‘ s Zuhören im ersten Teil, jetzt kommen noch 150 Dias, wird jetzt ein bisschen lockerer, nicht mehr ganz so meditativ schwer, ich möchte einfach noch so ein paar Eindrücke vermitteln, wie sieht‘ s denn da jetzt aus, nachdem Sie jetzt wissen, was man da so erleben kann.

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Bischof Dr. Franz-Josef Bode im “Handruper Forum”

Jugend und Kirche

Zum Referenten:
Dr. Franz-Josef Bode
Bischof von Osnabrück

Vortrag im Rahmen des „6. Handruper Forums“ vom 10. Oktober 1997.

(Zu diesem Abend existiert nur mehr das Vortragsmanuskript.)

Bischof Dr. Franz-Josef Bode

Vortrag Bischof Dr. Franz-Josef Bode

Meine Damen und Herren, liebe Jugendliche!

Ich freue mich, dass es heute abend dazu gekommen ist, dass ich hier im sogenannten Handruper Forum ein wenig über Jugend und Kirche sagen darf. Ich hab’ das damals so früh und etwas leichtsinnig angenommen und habe natürlich gedacht, das ist wunderbar, da habe ich noch lange Zeit. Sie kennen das alle, am Ende wird es dann doch sehr eng und es ist doch dann eine ziemlich volle Woche geworden, und ich mußte mich also bis eben damit ein bißchen beschäftigen. Deshalb ist vielleicht mein Vortrag daher eher eine Sammlung von unterschiedlichen Gedanken, die man vielleicht noch sehr viel besser in Form und Ordnung bringen könnte, aber vielleicht entspricht es auch der Buntheit und Vielfalt dessen, was wir mit Jugendlichen erleben, wenn das aus so verschiedenen Teilen auch zusammengesetzt ist, sowie es hier unter uns vielleicht auch deutlich gemacht ist.[ðVerweis auf die Schautafeln zu den Projekttagen – Motto: Jugend und Kirche: Bunt und vielfältig.]

„Diese Jugend ist von Grund auf verdorben, sie ist böse, gottlos und faul. Sie wird nie wieder so sein wie die Jugend vorher.“ – So steht es auf einer Tonscherbe des Alten Babylon.

„Unsere Jugend liebt den Luxus, hat schlechte Manieren, mißachtet die Autorität und hat keinen Respekt vor dem Alter. Die heutigen Kinder sind Tyrannen, sie stehen nicht auf, wenn ein älterer Mann das Zimmer betritt, sie widersprechen den Eltern, sie schätzen die Gesellschaft anderer, schlürfen beim Essen und tyrannisieren ihre Lehrer.“ – So sagt Sokrates.

„Und in Kathargo ist eine abstoßende maßlose Ausgelassenheit der Schüler das Übliche. Sie stürzen unbeherrscht darein, und wie eine Horde von Rasenden bringen sie die Ordnung durcheinander, die der Lehrer zum Besten seiner Schüler eingeführt hat. Mit unbegreiflicher Roheit treiben sie Frevel über Frevel. Dinge, die vor den Gesetzen strafbar wären, wenn nicht die Gewohnheit ihr schützender Anwalt wäre.“ – Das sagt der hl. Augustinus.

Also meine Lieben, zu allen Zeiten hat man offensichtlich Probleme gehabt, dieser Jugend die Zukunft zuzutrauen, und zu allen Zeiten hat Jugend dennoch, möchte ich sagen, ihren Weg, sicher auch unter Schmerzen und Blessuren, gefunden und ist herangereift zur Gestaltung der Zukunft. Und dieses grundsätzliche Vertrauen in junge Menschen möchte ich an den Anfang meiner Ausführungen setzen, sozusagen als Überschrift. Es gibt sicher vieles, über das man klagen kann, das einem Schwierigkeiten bereitet, was einem Herzklopfen macht. Aber die Grundvoraussetzung ist das Vertrauen. Aber wer oder was ist sie denn überhaupt: die Jugend?

Grundsätzlich läßt sich festhalten, dass die Jugendphase sich ausgedehnt hat, sie beginnt eher. Diese Akzeleration zeigt sich z.B. in einer früheren geschlechtlichen Reife und in einem beschleunigten Wachstum. Aber auch an psychischen Phänomenen, etwa die Tochter, die dem Vater den Computer erklärt und der Mutter das neue Abfallsystem erläutert.

Dem steht eine Ausweitung der Jugendphase nach hinten gegenüber. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz von ‘92 setzt das Alter für die Anspruchsberechtigten bis 27 Jahre, und in nicht seltenen Fällen haben Menschen zu dem Zeitpunkt ihre Ausbildung aber noch nicht abgeschlossen, keine Familie gegründet, leben noch bei ihren Eltern und es läßt sich leicht vorstellen, dass es da zu Schwierigkeiten kommt. Auf jeden Fall läßt sich nicht mehr von der Jugend als einer Vorbereitungs- und Übergangsphase nur reden, sie ist eine eigenständige, vielfältig ausgeprägte Phase. Sie ist kein fest zu definierender Sachverhalt, sondern immer wieder neu zu betrachten und zu beschreiben. Bunt und vielfältig, Sie haben es hier hingeschrieben, und dies ist um so wichtiger, je schneller die Entwicklung und die Veränderung unserer Gesellschaft vonstatten gehen.

Diese Veränderungen sind in der jüngsten Zeit mit wesentlichen Schlagworten gekennzeichnet worden: Erlebnisorientierung – Multioptionalität: viele Optionen; Pluralisierung, Individualisierung und Differenzierung.

Kürzlich stand in der „Zeit“ ein Artikel mit der Überschrift: „Alles besetzt“, Dieser Artikel hatte die Unterschrift: „Der Weg ins traditionelle Erwachsenendasein bleibt den Jüngeren auf unbestimmte Zeit versperrt.“ Und da heißt es in einer Passage: „Das ist wahrscheinlich das bedeutendste, die ‘Zwangsjugendlichkeit’. Während es irgendwann einmal, z.B. als die Achtundsechziger noch biologisch jung waren, richtige, echte Erwachsene gab, und die Jugend nur den Rand einer Vorbereitungsphase auf das Eigentliche hatte, ist heute die Phase der Jugendlichkeit fast bis ins Lächerliche zerdehnt.“
Das liegt zu einem daran, dass Solarien, Fitnesscenter und Diäten heute vielen Menschen zugänglich sind, dass ältere Frauen sich nicht mehr einebnen lassen, nicht mehr einsehen, warum sie den Jil-Sander-Look mit der geblümten Kittelschürze vertauschen sollen, und dass ältere Männer, wenn sie einflußreich und grauhaarig sind, auch junge Frauen um sich scharen können. Den Ältergewordenen steht ein jugendlicher Habitus zur Verfügung, wenn sie ihn wollen. Und sie wollen ihn.

Auf der anderen Seite aber ist den Jüngeren der Weg in ein traditionelles Erwachsenendasein auf unbestimmte Zeit versperrt. Der Berufseinstieg, als ein ganz normaler Schritt zum Erwachsenwerden, hat inzwischen Seltenheitswert. Ihn ersetzen berufsvorbereitende Maßnahmen des Arbeitsamtes, ABM-Stellen, Jobs als Tankwart, Teilzeitsoftwareentwickler oder Zigarettenpromotorin, Praktikahospitanzen, der auf eineinhalbjahre befristete Assistenzvertrag u.s.w.. Während der akademische Nachwuchs der späten sechziger- und frühen siebziger Jahre selbst mit allergeringstem Ehrgeiz in boomenden Schulen und Hochschulwesen, in staatlichen und kommunalen Verwaltungen der Verbeamtung nicht entging, wird inzwischen kaum noch eingestellt. Die Stelleninhaber sind noch auf Posten, und wo einer geht wird gekürzt, gestreckt, gestrichen. „Closed shop“ beim Staat wie bei den privaten Arbeitgebern.

Vor diesem Hintergrund drängen Schulabgänger heute eher zum Berufsforum der örtlichen Sparkasse als zu einem revolutionären Jugendverband. Angesichts dieser Aussichten erscheint auch die Gründung einer Familie – ein weiterer unspektakulärer Weg in die Erwachsenenwelt – vielen Jugendlichen mit dreißig noch zu risikoreich. Würde man denn mit einem Baby am Bein den Flexibilitätserwartungen heutiger Personalchefs entsprechen können? Wahrscheinlich nicht. Den Jüngeren steht also die Option auf Erwachsensein erst sehr spät zur Verfügung, später als es sein müßte, später als es gut ist.

Ich habe das deshalb so ausführlich gesagt, weil ich denke, dass daraus schon deutlich wird, dass diese Buntheit und Vielfältigkeit sich schon aus dieser langen Spanne zwischen zwölf- und dreißig Jahren ergibt, was etwas mit der Jugendlichkeit zu tun hat. In unserem Bistum gehören in dieses Alter von zwölf- bis dreißig Jahren 135.700 junge Leute, wenn man Bremen nicht dazu rechnet – ich habe die genaue Zahl nicht – sind das etwa ein Viertel Katholiken unserer Diözese. Und ich denke, dass wir durch Gruppen, durch Aktivitäten der Gemeinden, durch all das, was in unseren Pfarrgemeinden geschieht, etwa 25 bis 30 Prozent dieser Leute erreichen, d.h. also weit über 30.000, wenn nicht gar bis 40.000. Hier im Emsland wird das Verhältnis der Erreichbarkeit noch größer sein als in den Städten. Also immerhin doch eine gewaltige Zahl, mit der wir jeden Tag in unseren Gemeinden, unseren Kirchen umgehen. Jetzt mal gar nicht gerechnet über die Schulen.

Wenn wir von Jugend und Kirche sprechen, müssen noch zwei Vorbemerkungen gemacht werden. Die Wortverbindung „Jugend und Kirche“ nämlich, denn einmal geht es um die Jugend der Kirche und Jugend in der Kirche, die ihre Einstellung zum Ganzen der Kirche hat, zu der sie ja selbst gehört. Sie ist Teil der Kirche und steht ihr nicht einfach nur gegenüber. Wenn das so wäre, dann würde man Kirche nur einfach mit denen da oben und mit Amtskirche verwechseln, zum andern geht es aber auch um die Jugend überhaupt. Die ganze Alltagskohorte, wie man so schön sagt, zu ihrer Stellung zur Kirche und dann noch eher zur Religion überhaupt. Wobei die kirchlich gebundene Religiosität nur ein Teil der Religiosität Jugendlicher überhaupt ist. Und weil diese Innenbeziehung – Kirche und Jugend – und die Außenbeziehung – Religion und Jugend überhaupt – ineinander übergehen, möchte ich noch einige Bereiche aufgreifen, in denen junge Leute heute leben. Daran wird nämlich deutlich, dass sich das Verhältnis Jugend und Kirche nicht herauslösen läßt aus der Gesamtsituation, weil eben Jugend auch ein Seismograph gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen ist, und die Probleme, die wir vielleicht in der Kirche haben, genau solche Probleme sind, wie die Gesellschaft sie in unterschiedlichsten Weisen auch hat, in der Politik, im Medienwesen – ich habe gestern die Redaktion der NOZ besucht und habe gehört, dass sie es auch schwer haben, die Abonnentenbindung zu halten, und dass sie es auch schwer haben, mit denen, die nur einmal in der Woche, oder wenn sie gerade Lust haben, die Zeitung kaufen. Also auf der ganzen Linie gibt es solche Unverbindlichkeiten. Eine Gesamtsituation also, in die wir eingebunden sind, die in sich äußerst komplex und kompliziert ist. Zu dieser Differenzierung noch ein paar Sätze:

Die Gesellschaft, die bis dahin in relativ große Milieugruppen nach Ständen und Schichten geteilt war, beginnt nach dem Zweiten Weltkrieg sich immer weiter zu teilen und zu differenzieren. Das gilt vor allem für die großen Bereiche Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, die sich ohne Grenzen immer weiter auseinander bewegen. Und jeder einzelne Bereich versucht, seine eigene Leistungsfähigkeit möglichst weitgehend zu erhöhen. Das führt zu einem Schisma der Lebenswelten, zu einer Spaltung der Lebenswelten. Jedes Mitglied einer so differenzierten Gesellschaft hat es mit einer Fülle von Abteilungen zu tun, die jeweils für einen bestimmten gesellschaftlichen oder individuellen Lebensbereich zuständig sind. Die Reaktionen einzelner darauf ist der Rückzug in eine Privatsphäre, an die ein sehr hoher Anspruch als Maßstab angelegt wird. Und in diesem Prozeß sind natürlich die Jugendlichen hineingenommen, man spricht sogar von einer Verinselung. Dass es ganz spezialisierte Räume gibt, wie Spielplätze, Einkaufszentren und Freizeitsparks, Wohn- und Schlafstätten, alles ist eingeteilt in solche Inseln. Und die Überbrückung der Zwischenräume wird nicht mehr sinnlich erlebt, sondern erfolgt durch technische Medien, wie Fernsehen und Telefon. Und spontanes Handeln wird erschwert, da das Aufsuchen der Inseln Planung unter Berücksichtigung von Fahrplänen, Fahrzeiten und Öffnungszeiten erforderlich macht und erst mit anderen Personen abgestimmt werden muß. Man spricht von einer Fragmentalisierung, von einer Collagenwelt, wo alles zusammengesetzt wird oder einer Patchworkwelt, von der man reden kann. Und deshalb lohnt es sich, in drei Bereichen vielleicht noch einen kurzen Blick zu werden, nämlich: Jugend und Familie, Jugend und Schule und Jugend und Freizeit.

Jugend und Familie
Immer mehr Kinder wachsen als Einzelkinder auf. Parallel dazu fallen andere Veränderungen ins Auge. Es gibt mehr Scheidungen, mehr neue Beziehungs- und Haushaltsformen, Patchworkfamilien, immer öfter sind beide Elternteile berufstätig, bzw. das alleinerziehende Elternteil. Die Eltern sind wichtige Bezugspersonen im Leben der Jugendlichen, aber sie haben einen immer geringeren Einfluß auf die Sozialisation ihrer Kinder. Ihre Erfahrungen und Kenntnisse sind in der spezialisierten, sehr funktionsorientierten und in der schnellebigen Zeit kaum noch hilfreich. Also auf der einen Seite diese Notwendigkeit des Beziehungsgefüge, mit der Familie zu leben und gleichzeitig die Unfähigkeit oder auch manchmal Unmöglichkeit der Familie, bei all den vielen anderen Bereichen, in den junge Leute leben, wirklich auch Einfluß auf die Sozialisation zu nehmen. Und deshalb kann man über das Wort Generationenkonflikt sehr unterschiedlicher Ansicht sein. Es gibt Forscher, die im Moment gar keinen Konflikt ausmachen können. Andere wiederum sprechen von einer neuen Dimension in dem Streit zwischen den Generationen, es hat nach ihrer Ansicht auch etwas mit dem schlechten Gewissen, wegen eigener Unfähigkeiten zu tun. Außerdem war Jugend immer ein Hoffnungsträger für eine noch bessere Zukunft. Und wie ist es dann, wenn diese Hoffnung angesichts drohender Krisen und Rezessionen, infrage zu stellen ist. Vielleicht hat die junge Frau recht, die einmal sagte: „Die Eltern sind so scheißliberal geworden, dass man sich an ihnen nicht mehr reiben kann.“ Lassen sich Eltern und Erwachsene überhaupt nicht mehr provozieren? Gehen den Konflikten aus dem Weg? Verweigern die Jüngeren ihren Eltern die Teilhabe an ihren Erkenntnissen und Erfahrungen?

Jugend und Schule
Die andere Institution, in der junge Leute leben, ist die Schule, und das ist hier ja natürlich ein besonderer Erfahrungsbereich. Jugendzeit ist Schulzeit. Die oben beschriebene Ausdehnung der Jugendphase ist eng mit der des Bildungsbereiches verbunden. Schule beeinflußt Alltag, Lebensrhythmus und soziale Orientierung. Schule ist eine Sozialisationsinstanz. Kompetenz und Wissensvermittlung liegt im Bereich der Bildungsinstitutionen. Damit ist die Familie entlastet, hat aber auch nur noch relativ wenig Einflußmöglichkeit. Schule spiegelt das Leistungsprinzip der Gesellschaft wieder, auf die hin sie schult. Über den Leistungsgedanken wird ausgewählt. Schulabschlüsse und Zertifikate bestimmen die Position im Erwachsenenalter wesentlich mit. In der Schule wird bereits sehr früh festgelegt, welche Chancen jemand später hat. Dabei ist ein guter Abschluß so eine wesentliche Bedingung, garantiert aber immer weniger Erfolg, und das löst massiven Druck aus. Und die Gesellschaft hält da nicht immer, was vielleicht Schule „verspricht.“ Gute Abschlüsse garantieren nicht mehr einen guten Platz im Erwerbssystem, viele Entscheidungen fallen nicht mehr nach Wunsch und Interesse, sondern an den Bedingungen orientiert. Die Belastung durch die Schule, und vor allem auch durch die dort geforderte Leistung, wächst, weil der Druck sich erhöht durch die verschärfte Konkurrenzsituation. Und die äußert sich manchmal körperlich oder durch abweichendes Verhalten. Die Jugendlichen, die nicht mehr klarkommen, sind zwar noch eine Minderheit, aber eine immer wachsendere Minderheit. Sinn erhält die Schule nach ihrer Bedeutung für das Leben nach der Schule. Dabei wird der formale Teil der Schule, der gleichzeitig auch ihren Kern ausmacht, nämlich Unterricht und Lehrer, meist sehr negativ bewertet, und das sehr oft. Der eher informelle Teil, die Ferien, die Kontakte, die Klassenfahrten, die Freiheiten und Freizeiten kommen da schon besser weg, das wird wohl immer so sein.

Jugend und Freizeit
Damit sind wir bei Jugend und Freizeit. Jugend zwischen Freizeit, Medien und Konsum. Die Klage über zu wenig Freizeitmöglichkeiten ist sicher objektiv falsch, da es noch nie so viele Angebote gegeben hat. Objektiv falsch, aber subjektiv vielleicht doch richtig? Den Jugendlichen werden Konsumangebote gemacht, von denen Jugendliche jedoch nur Teile wahrnehmen können. Auf den weitaus größeren Teil müssen sie wegen fehlender Mittel, fehlender Zeit oder wegen des Überangebotes verzichten. Ich habe in meinem Brief an die jungen Leute auf die eigenartige Spannung hingewiesen. Diese unbegrenzte Zahl der Möglichkeiten und trotzdem die sehr ein geengte Zahl der Möglichkeiten, die man dann letztlich auch eingehen kann. Und das fördert natürlich eine wachsende soziale Unlust. Vereine, Verbände und Parteien, aber auch Familie und Nachbarschaft bekommen zu spüren, dass Freizeit zu einer Zeit der Beliebigkeit geworden ist und dass mit der wachsenden Kommerzialisierung der Freizeit auch die Entsolidarisierung im Alltag zunimmt. Und das stellt ganz neue Herausforderungen an Institutionen und Organisationen, auch an die Kirche. Soziales Engagement steht bei den Jugendlichen immer mehr unter dem Vorbehalt jederzeitiger Kündbarkeit. Mit dem Stichwort „Jugendliche im Erlebnisstreß“ werden die Konsequenzen beschrieben, die der Konsumimperativ „Bleiben sie dran“ bei Jugendlichen auslöst. Es führt zur einer Reihe von Störungen, zu Aggressionen, Schlafstörungen, wegen der ständigen Reizüberflutung. Auch schulisches Verhalten wird als Folge ermittelt, dass es schwierig wird, zur Konzentration zu kommen. Darin liegen enorme Herausforderungen für Schule, Elternhaus, Kirche, aber auch für die Persönlichkeitsbildung und die Sozialerziehung. Wir sind auf dem Weg von einer Leistungs- und Arbeitsgesellschaft, die lebte, um zu arbeiten, hin zu einer Freizeitgesellschaft, die arbeitet, um zu leben. Die Lebensarbeitszeit ist verkürzt, es gibt immer mehr Arbeitslose. Karrieren werden heute zunehmend in der Freizeit gemacht. Musiker, Sportler, Globetrotter, Computerfreaks mit fast professionellen Ansprüchen. Trotzdem ist in vielen Bereichen der Primat der Arbeit noch gegeben. So werden Jugendliche in der Schule nicht darauf vorbereitet, die Lebensziele und Sinn außerberuflich zu finden, werden Freizeitangebote – auch kirchliche – in Action und Produktivität gemessen, sieht der Staat Jugendliche nur als Arbeitnehmer, die Wirtschaft junge Menschen nur als Konsument. Die staatliche Jugendpolitik hat sich bisher über sinnvolle Lebensalternativen zum Geldverdienen und Geldausgeben kaum Gedanken gemacht.
Gestern abend war die Bundesleitung der CAJ, (Christliche – Arbeiter – Jugend) bei mir, und ich bin erstaunt, wie intensive Gedanken sie sich um diese Frage machen. Wie man denn auch, wenn es immer doch auch Arbeitslosigkeit noch auf lange Sicht geben wird, auch ein Leben nicht allein über Arbeit definiert? Natürlich muß das immer auch sein, aber wie man auch in anderen Bereichen und anders sinnvoll und richtig leben kann. Und damit auch umgehen lernt, mit dieser Situation, in der nicht einfach mehr jeder das haben kann, was er will.

Die Essenz, die die Freizeitforscher aus ihren Ergebnissen ziehen, ist die Forderung nach einer Neudefinition des Lernziels „Leben“. Eine ausgeprägte Hilfsbereitschaft wird damit zu einer der wichtigsten Lebenskompetenzen der Zukunft. Eine ausgeprägte Hilfsbereitschaft, die von früher Kindheit an entwickelt werden muß. Und ich denke, das ist auch wiederum ein ganz wichtiger Punkt für die Frage von Jugend und Kirche. Bei dem Ganzen spielt natürlich auch der Umgang mit den Medien, mit den Computern eine große Rolle.

Sie wissen vielleicht auch, dass ich auch in der Kommission für Medien, für Publizistik in der Bischofskonferenz bin, und wir nehmen immer stärker wahr, wie unsere Gesellschaft zur Informationsgesellschaft wird. Und wie die Realitäten, die Wirklichkeitsebenen immer mehr durcheinander geraten, und auch das, denke ich, ist eine Herausforderung in einer ganz besonderen Weise für uns alle, aber eben auch für junge Leute.

In einer solchen Situation kann nicht mehr von der „Jugendkultur“ gesprochen werden, sondern nur von sehr unterschiedlichen Lebensstilen und kulturellen Szenen. Eine Antwort auf gesellschaftliche Gegebenheiten, die eben nicht unbedingt jugendtypisch ist, sondern ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Alle wollen jung sein, ich hatte das eben schon angedeutet, aber keiner will Jugendlicher sein.
In diesem Zusammenhang spielt das Wort „Zugehörigkeit“ eine ganz neue Rolle, weil man nämlich bei all diesen schwierigen Gegebenheiten und in diesen verschiedenen Lebenslinien, in dieser Schismatisierung und Fragmentalisierung des Lebens Zugehörigkeien suchen muß, die nicht mehr durch angeborene Merkmale gegeben sind, sondern durch erwerbende Merkmale. Etwa durch die „Musik“, sie ist ja ein unglaublicher wichtiger Faktor, die Musik im Leben junger Menschen. Auf welche Musikart sie sich einlassen, und wie sie sich zusammenfinden, um ganz bestimmte Musikarten auch zu leben und zu erfahren. Ich denke, dass wir das manchmal auch in der Kirche etwas unterschätzen, uns damit auch noch mehr auseinandersetzen müssen, auch mit moderner Musik. Ich muß gestehen, ich kenne relativ wenig davon, bin aber geneigt, auch mich gemeinsam mit unserer Jugendkommission noch mehr damit zu befassen. Zugehörigkeitsmerkmale durch „Kleidung“ mit bestimmten Marken, die man nun mal eben haben muß, bestimmte Schuhe. Bei jeder Firmung erlebe ich, dass fast alle neue Schuhe haben und immer ganz bestimmte Arten von Schuhen, die oft für unser Begreifen gar nicht zu den anderen Kleidungsstücken passen. Aber das ist eben das, was ich auch großartig daran finde, dass sie sich über Schuhe und Schnürsenkel sogar identifizieren, also durch andere Accessoires auch. Auch das ist wichtig. Oder durch die Haarfarbe oder durch bestimmte Sportarten. Das Schwierige daran ist, so gut es ist, solche Zugehörigkeiten zu entwickeln. Unsere Marktgesellschaft ist natürlich sofort auf der Hut, diese Bedürfnisse, diese Accessoires, diese Marken und diese Zugehörigkeitsmerkmale sofort zu vermarkten und aufzugreifen. Und ich denke, das ist eine Schwierigkeit, die letztlich dann wieder dazu führt, dass man sehr schnell auch von dieser Gesellschaft, von dieser sehr vermarkteten Gesellschaft, vereinnahmt wird. Und das bedeutet eine weitreichende Veränderung des Verhältnisses des Einzelnen mit seiner Umwelt, mit seiner Gesellschaft.
Die Beziehung ist die des Wählens und weniger die des Gestaltens bei solchen verschiedenen Welten und Zugehörigkeiten. Der Einzelne sucht aus der Fülle der Angebote aus und stellt aus den vorgefertigten Bausteinen zusammen, er verwirft und wählt neu aus, also eine Auswahlsituation. Und letztlich spiegelt sich darin der Vorrang des Habens und Habenmüssens vor dem Sein, und der Vorrang des Design vor dem Sein. Die einzelnen Angebote sind gut verpackt, mit bestimmten Versprechungen verbunden. Wer „Rama“ auf sein Frühstücksbrötchen streicht, wird zum Lebensretter in unberührter Natur. Diese Versprechungen zielen auf die menschlichen Grundbedürfnisse nach Sinn und Glück, Geborgenheit, Gemeinschaft, Anerkennung und suggerieren ihre Befriedigung über den Konsum. Die wahre „Welt“ erhält dadurch einen anderen Sinn als nur den, die praktischen Bedürfnisse des Alltags zu decken, nämlich essen, waschen und spülen. Über kurz oder lang bemerkt dann das Individuum, dass sich die versprochene Befriedigung durch die getroffene Wahl nicht einstellt, und in der Logik des Wählens war die Wahl dann falsch. Das Individuum hat falsch ausgewählt oder zusammengestellt, und die nächste Wahl wird es bringen. So geht es immer weiter.

Neben dem Begriff der Zugehörigkeit ist der Begriff der Autonomie in diesem Zusammenhang sehr wichtig, der sich fast wie ein roter Faden durch die Äußerungen der Jugendforscher zieht. Das heißt, gegenüber all diesen unterschiedlichen Lebenswelten und all dem Unterschiedlichen wird die Autonomie des Individuums immer stärker herausgestellt. Man lehnt sich auf oder lehnt es ab, von anderen vereinnahmt oder verzweckt zu werden. Eigenartig ist dabei allerdings, dass man sich von der Werbung, von der Reklame, von der Vermarktung unbesehens vereinnahmen lässt. Aber wenn es thematische Vereinnahmungen oder Verzweckungen gibt, wo man fühlt, hier soll ich gepackt werden, wird es schwierig. Deshalb haben es auch die Institutionen sehr schwer, weil sie eben immer auch wieder die Autonomie des Einzelnen infrage stellen. Deshalb wird Demokratie oft verstanden nur als eine Basisdemokratie, wo jeder mit jedem über alles reden kann. Dass aber Demokratie auch Voraussetzungen hat und dass es Dinge gibt, n die sich alle dran halten müssen, wird oft nicht so deutlich gesehen. Auch Normen werden dadurch sehr viel schwieriger, nicht nur in der Kirche, sondern überhaupt in der Gesellschaft. Weil eben alles unter dem Aspekt gesehen wird, wie kann ich mich eigentlich in dieser Buntheit noch selbst behaupten, wie kann ich mich selbst verwirklichen. Auch die Motive zum Engagement in der Politik oder in der Kirche sind letztlich Motive, die sehr stark auch, das ist nicht nur negativ gemeint, von der Selbstverwirklichung geprägt sind. Auch die Motive für das Ehrenamt sind z.B., dass man dabei etwas lernen kann, dass ich mich selbst weiterentwickeln kann, dass ich eigene Fähigkeiten einsetzen kann. Also sehr stark unter dem Aspekt, sich für das Andere einzusetzen, um selbst daraus einen Ertrag zu haben. Was nicht unbedingt auch unserer christlichen Einstellung entspricht, dass wir auch unsere Einmaligkeit ernstnehmen und unsere Talente und Fähigkeiten einsetzen, aber es kann eben auch zu einem so verstärkten Umsichdrehen, ein sich Selberleben werden, dass die Öffnung für Größeres dadurch behindert wird. Und deshalb wird auch an Menschen herangetragene Religionspflicht mehr und mehr abgelehnt. Also das nur zu tun, weil man das so tut oder weil die Autorität es sagt, ist auf keinen Fall einfach eine Begründung, sondern wenn, dann in einer Plausibilität, die mir auch selbst einleuchtet. Und in dieser individuellen Kombination ist dann auch alles gleich gültig, man kann vieles nebeneinander stehenlassen. Wie viele junge Leute treffe ich, die am Kettchen vier oder fünf verschiedene Zeichen haben, einen Fußball, ein Tierkreiszeichen, einen Anhänger mit dem Namen des Freundes oder der Freundin, den Stern des Judentums und das Kreuzchen auch dazu. Alles kann auf einem Kettchen wunderbar aufgehängt sein.

Auch die Wertorientierung richtet sich danach, was an „Ertrag“ dabei herauskommt, das heißt, was es mir bringt. Ertrag – ein Einkommen oder Sicherheit, danach werden Werte bemessen, aber auch was es an Zugehörigkeit, an Liebe, an Angenommenheit bringt, oder was es an Ansehen bringt, oder was es an Selbstverwirklichung bringt. Dabei sind sehr sehr hohe Werte, die geschätzt werden: Verläßlichkeit, Glaubwürdigkeit, das Wort „echt“ ist immer noch ein sehr viel benutztes Wort, Gerechtigkeit und Frieden und der rechte Umgang mit der Umwelt und der Schöpfung. Und dann liegt manchmal der Glaube sehr schnell am Ende dieser Skala dieser Lebensziele, weil die Erreichbarkeit dieser genannten Erträge nicht leicht zu erkennen ist. „Ich glaub’ nix, mir fehlt nix“, dieser Slogan wird schon mal genannt. Was fehlt mir denn eigentlich, wenn ich nicht glaube?

Sie merken schon, das ist nicht eine Frage, die nur junge Leute, sondern die Erwachsenen genauso haben. Sie ist eine Art Spiegelbild wiederum der Erwachsenen, und wenn dann die Eltern sagen, du mußt dich firmen lassen, weil man das so tut, und ein Jugendlicher nicht spürt, was denn Firmung und der Glaube denn den Eltern bedeuten, dann kann nur Kontraproduktives dabei herauskommen.

Auch was die Zukunftsaussichten angehen, sind sie sehr gemischter Natur. Ich war in Haselünne auf dem Dekanatsjugendtag des Dekanates Meppen mit dem Thema: „Wenn ich an die Zukunft denke, dann …“ Es gab sehr unterschiedliche Einstellungen. Ein bißchen überwiegt, das hat mich dann doch gefreut, auch statistisch ist das so, die Zuversicht gegenüber der völlig düsteren Perspektive, aber es ist so etwa halbe-halbe. Und was ich in Haselünne erlebt habe, ich hab’ das auch in meinem Jugendbrief kurz dargestellt, ist, dass diese Leute sich dann gegenseitig ermutigt und gestützt haben, das heißt, die einen haben die anderen auf den Boden der Realität zurückgezogen, die anderen haben den einen Hoffnung gemacht. Das wäre eigentlich das, was ich mir von Kirche und Gemeinde, um es hier vorweg zu sagen, auch vorstellen könnte.

Die größte Sorge und Not ist die Frage nach der Perspektive, nach dem Ausbildungsplatz und die Frage nach der Arbeitslosigkeit. Werde ich überhaupt eine Arbeit in einem vernünftigen Beruf finden? Und ich denke, das ist die größte Herausforderung, die an uns in der Gesellschaft gestellt ist, und ich bin immer wieder neu geneigt, mit der Jugendkommission auf verschiedensten Ebenen in Stadt und Land mit Politikern ins Gespräch zu kommen, um danach zu suchen, dass wir doch auch Jugendlichen Ausbildungsplätze beschaffen können. Dass da sehr viel für eingesetzt worden ist, hier im Emsland und auch in Osnabrück, muß ich hier allerdings auch dankbar vermerken. Ich glaube, wenn die Perspektive, in ein geregeltes Arbeitsleben einzutreten, erst gar nicht entsteht, ist das noch schlimmer, als wenn man seinen Arbeitsplatz verliert, weil man überhaupt erst gar nicht eine solche Ordnung kennengelernt hat. Aus diesem ganzen Zusammenhang muß dann auch eben die Frage „Jugend und Kirche, Jugend und Religiosität“ gesehen werden.

Sie sehen, ich habe einen sehr langen Anweg gewählt, aber sie haben in vielen einzelnen Biegungen dieses Anweges schon festgestellt, welche Bedeutung dieses Problem auch für unsere Kirche hat. Ich meine, dass wir einfach nicht so plakative Äußerungen tun dürfen, sondern auch die Schwierigkeiten sehen müssen, in denen junge Menschen heute leben. Es ist also nicht verwunderlich, bei dieser Säkularisierung und Individualisierung, bei der Vermarktung der Wirklichkeit und bei der Unverbindlichkeit der Wahl, dass Jugend und Kirche es nicht leicht miteinander haben, zumal ein großes Mißtrauen in Großinstitutionen damit einhergeht, und unter solchen Großinstitutionen fällt ja eben auch die Kirche. Heute engagiert man sich eher in kleineren Gruppen, in Aktionen, in überschaubaren Einheiten, wo man Initiativen ergreifen kann, die überschaubarer sind.

Bei all dem ist aber trotzdem eine großes Religionsbedürfnis festzu stellen, was wir ja auch immer wieder von vielen Seiten hören. Junge Menschen sammeln sich aus vielen unterschiedlichen Angeboten das zusammen, was ihnen im Moment für ihren Alltag am sinnvollsten und brauchbarsten erscheint. Also auch in der Religion eine Art „Patchworkreligion“. Und die Zukunft von Kirche wird nach Einschätzung von Fachleuten davon abhängen, ob es ihr gelingt, die Schere zwischen religiösem Sinnbedarf und gelebtem Glauben bei Jugendlichen wieder zu schließen. Und das wird eine harte Arbeit sein, immer wieder in die Beziehung einzutreten, dass diese Suche nach Religiösem sich verbindet mit der konkreten Gemeinschaft von Kirche und von dem was Kirche auch deutlich macht. Das hat zu tun damit, wie sich heute Religiosität in der Kirche ausdrückt.

Ein erstes Stichwort dafür ist das, was ich gerade in Paris erlebt habe, mit dem Weltjugendtreffen. Es gibt eine gewisse Suche, ich möchte es mal nennen, eine Suche nach einer „Event-Kultur“, nach Großereignissen. Katholikentage, Taizè-Treffen, die Weltjugendtage und andere Großveranstaltungen, Ministrantentage, Jugendwallfahrten lassen feststellen, dass diese „Event-Kultur“ auch die religiöse Ausdrucksform kirchlich orientierter Jugend prägt. Sie bedient die jugendkulturellen Bedürfnisse und Ausdrucksformen und die verschiedenen Lebensstile und Beteiligungsformen.

Wichtige Bausteine dabei sind: solche Ereignisse haben Erlebnischarakter. Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, dass es nicht nur um Diskussionen und sehr kognitive und über den Kopf laufende Auseinandersetzungen geht, sondern dass das auch was mit dem Abenteuerlichen zu tun hat. Sie ermöglichen einen kurzen Ausbruch aus einem mehr oder weniger geregelten Alltag. Mehr Emotionalität ist darin enthalten. Und wir sind zum andern in einer Unterbrechung des Alltags und vermitteln einen „Geschmack“ von Transzendenz. Und das wird denjenigen zur Hilfe, die nicht einfach durch Forschung und Lehre erreicht werden können, sondern eben durch solche Erfahrungen.

Und dabei spielen glaubwürdige und charismatische Persönlichkeiten und Personen eine ganz große Rolle. Gesichter, mit denen man sich identifizieren kann. Ich denke, das ist das Geheimnis bei allen Problemen, die junge Leute mit den Aussagen des Papstes haben, und dass diese Gestalt des Papstes trotzdem das hervorruft. Oder wenn wir an Mutter Theresa und andere große Persönlichkeiten denken. Solche Ereignisse haben Begegnungscharakter, man trifft Leute, man lernt sie kennen, man merkt Zugehörigkeiten durch Tücher, durch Rucksäcke, durch Buttons, durch T-Shirts u.s.w. Man kann das demonstrieren. Und dieses Großereignis bleibt dann nicht nur einfach eine Massengeschichte. Das habe ich in Paris selbst so erlebt, sondern es ermöglicht in den kleineren Kreisen, bei den Katechesen und bei den Kleingruppen und bei der Erfahrung der Gastfamilien, und bei dem Erlebnis der französischen Kirche, dass man sich über Dinge unterhält, über die man sich zu Hause vielleicht nicht unterhalten würde, weil eben ganz andere Fragestellungen an einen herangetragen werden. Einmal die weltweite Frage in der Buntheit des Glaubens, aber eben auch Fragen, die man vielleicht mit dem Nachbarn, den man schon sehr lange gut kennt und bestimmte Vorurteile hat, so auch nicht immer bespricht. Und es ermöglicht, dass Gruppen unterschiedlichster Coleur zusammenkommen, die wir hier in Deutschland, das weiß ich von der Jugendkommission, oft nur sehr schwer zusammenkriegen. Da sind die unterschiedlichen Gruppen der BDKJ, geistliche Gemeinschaften und die Gruppe, die sich „Jugend 2000“ nennt, verschiedenen Gruppierungen also.

Solche Ereignisse geben die Möglichkeit Glauben auch in Liedern und Gesten kreativ, emotional und körperlich auszudrücken, eben auch in anderen liturgischen Formen sich zu äußern. Und sie haben natürlich auch die Struktur von Angebot und Nachfrage. Eine solche Veranstaltung wird angeboten, wird von anderen organisiert, ich kann mitmachen, wenn ich will, ich kann auch wieder gehen, wann ich will. Also dieses etwas Wählende und Konsumierende ist natürlich ein ganzes Stück darin, und die Teilnahme ist begrenzt und überschaubar. Deshalb kann Kirche natürlich nicht von solchen Events leben und Jugend nicht einfach so über solche Ereignisse – sozusagen – wieder für sich vereinnahmen, sondern es muß zwischendurch solche Punkte geben, die aber dann auch ein Netzwerk im Alltag bilden, so dass Kirche zu einem Ort des Engagements werden muß. Der Lebensstil des solidarischen Individualismus bei Jugendlichen bringt, dass es durchaus eine hohe Akzeptanz diakonischen und sozialen Handelns in der Kirche gibt und dass man in dieser Hinsicht sehr hohe Erwartungen an die Kirche hat. Also, man ist durchaus bereit, wenn auch nicht für lange Zeit oder für immer, sich zu engagieren und sich einzusetzen. Das Zugehörigkeitsgefühl ist durchaus engagementförderlich. Oder nehmen wir unsere Pfarr- und Gemeindegruppen als Beispiel. Trotz vieler Unkenrufe sind diese Gruppen immer noch wesentliche Träger des Engagements Jugendlicher. Sie greifen zum einen Aktionen von Verbänden oder Pfarrgemeinden auf und bringen diese mit eigenen Inhalten, Problemen und Betroffenheiten in Verbindung. Oder Gruppen, die sich für Einzelaktionen bilden, wenn wir etwa an Dreikönigsingen denken, was das für ein wichtiger Faktor geworden ist, oder eine gewisse Bewegungsarbeit, oder wie zu unterschiedlichen Einzelaktionen Leute sich angesprochen fühlen. Dann auch die offene Jugendarbeit, wo sich einfach Leute einfinden können, gehört wichtig dazu.

Ich denke, dass in diesem Zusammenhang natürlich auch mitspielt, was ich als Bischof ständig gefragt werde: „Macht Ihnen Ihr Beruf denn auch immer Spaß?

Das Wort „Spaß“ spielt in der ganzen Geschichte eine große Rolle. Wenn das Ganze immer nur sehr düster und eng und sehr problembezogen ist, möchte ich mal so sagen, so sehr wir auch immer wieder Dinge hinterfragen müssen, dann macht es eben keinen Spaß mehr. Und warum darf sich nicht auch Kirche mit diesem Wort verbinden. Ich wäre froh, wenn auch manches davon in unseren gottesdienstlichen Formen etwas rüberkäme. Dass eine Liturgie oder ein Gottesdienst sich entwickelt, in denen Jugendliche das „Ihre“ einbringen können, aber dennoch nicht einfach zu einer Feier der Menschen wird, sondern das gespürt wird: Gott ist bei uns, er ist in unserer Mitte. Dass man bemüht ist, immer wieder danach zu suchen.

Nun habe ich schon fast eine Stunde gesprochen. Ich möchte aber dennoch noch einige Aspekte anfügen, wenn Sie erlauben. Einmal wie wir selber im Bistum damit umgehen, und wo ich auch noch Punkte sehe für Konsequenzen, die wir aus all dem ziehen sollten. Ich erfahre unser Jugendforum als einen Faden durch diese beiden Jahre, die ich jetzt mit den unterschiedlichen Veranstaltungen erlebt habe. Da ist nicht einfach ein Ertrag, ein Ergebnis am Ende in einem Papier oder in einem Buch. Aber die Begegnungen und unterschiedlichen Ereignisse haben mich doch auch ein ganzes Stück ermutigt. Und es muß solche kleineren Events eben im Bistum immer wieder geben. Ich denke da z.B. an den Brief. Natürlich wird man sich mit vielen Punkten dieses Jugendbriefes auseinandersetzen, wird vielleicht sich nicht verstanden fühlen oder wird auch vielleicht gar nicht akzeptieren, was der Bischof alles von sich und seiner Auffassung vom Glauben sagt.

Natürlich findet es auch eine Grenze dort, wo jemand sagt: „Wenn Sie mit der Bibel kommen, brauchen Sie gar nicht mehr mit mir reden“. Dann kann ich natürlich auch mit meinem Jugendbrief nicht weit kommen, weil ich eben aus dem lebe, was das Evangelium und die Bibel mir mitteilen. Oder wenn ich an die Jugendvespern im Dom in Osnabrück denke, die durchaus eine Form sind, bei der junge Leute sich in sehr einfachen, schlichten Formen einfinden, gar nicht mit großem Bohei und Drumherum. Oder wenn ich an die Faxnacht denke, es sind fast fünfhundert Fragen gestellt worden, wovon bei weitem noch nicht alle beantwortet sind, muß ich hier noch mal wieder betonen, weil das in der Nacht gar nicht möglich war. Ich habe sieben Stunden geschrieben und weit über hundert, ich glaube hundertdreißig bis hundertvierzig Briefe beantwortet – mit manchmal zehn Fragen in einem Brief – und ich habe noch über sechzig zu Hause liegen. Da muß man erst Erfahrungen sammeln und in der Zukunft mit etwas weniger Gruppen arbeiten. Aber es ist sehr gut, dass diese Gruppen untereinander über Antworten ins Gespräch gekommen sind, sich auseinandergesetzt haben, mit anderen Gruppen gefaxt haben, so dass in dieser Nacht ein großes Beziehungsgeflecht über alle möglichen Fragen an die Kirche gelaufen sind. Und es war eine Fragestellung quer durch den Garten, also zu allen möglichen Dingen zu meiner Person, zu Glaubensfragen, zu Fragen an die Kirche. Natürlich auch die immer wiederkehrenden Fragen, aber auch nicht nur die, sondern wirklich in voller Breite. Und das hat mich persönlich sehr gefreut. Viele persönliche Kontakte sind entstanden, und über das Ereignis in Paris habe ich gerade schon gesprochen.

Andere wichtige Zusammenhänge sind eben, und das möchte ich ganz deutlich an dieser Stelle sagen, der Religionsunterricht in der Schule. Wir dürfen uns nicht gefallen lassen, dass dieser Religionsunterricht immer mehr an die Seite gedrängt wird, denn hier ist ein Feld der Werteorientierung, ein „Mehr“ an Orientierung, als in all den sonst mehr leistungsbezogenen Fächern, Hier werden Schülerinnen und Schüler wirklich auch auf eine Weise angesprochen, die noch einmal ganz andere Seiten zum Schwingen bringen. Eine andere, sicher sehr schwierige Angelegenheit ist, noch nach einer neuen Sprache zu suchen, um die Sprache unseres Glaubens offener zu machen, einladender zu machen. Nicht sich einfach auf das Niveau einer Gassensprache, ich glaube, dass das auch kein Jugendlicher will, darum geht’s gar nicht, sondern in einer verständlichen und natürlich auch glaubwürdigen Sprache zu sprechen. Ein Austausch darüber einzuüben, was uns denn wichtig und heilig ist.

Ich habe in dem Jugendbrief geschrieben, dass es sehr unterschiedliche Dinge sein können. Die Frage der Musik habe ich eben schon angesprochen. Das es ein personales Angebot bleiben muß, dass die Personen wichtiger sind als Programme. Dass Glaubwürdigkeit gefragt ist, das hab’ ich eben schon angesprochen, dass es eigentlich darum gehen muß, dass Menschen spüren, wir haben an „Dir“ Interesse. Interesse heißt: dazwischen sein, dazwischen bleiben. Und ich bemühe mich soweit wie möglich, auch in meinem Amt, zwischen den Menschen zu bleiben, und ich merke, wie viele Menschen das positiv akzeptieren, aber auch wie viele Menschen es jeden Tag in der Gemeinde auch tun. Es geht darum, Raum zu geben, Raum zu geben im äußeren Sinn, dass es auch Räume für junge Menschen gibt, aber auch jungen Menschen in den Gemeinden, Raum zu geben.

Manchmal werde ich dann bei den Visitationen gefragt: „Wie soll das denn mit der Jugend gehen und wer soll sich darum kümmern?“ Es wird oft gar nicht zur eigenen Frage der gesamten Pastoral, dass jeder Einzelne auch damit beteiligt ist, dass man die Jugend nicht einfach Spezialisten überläßt, sondern dass das etwas mit der ganzen Gemeinde zu tun hat und dass die Jugend nicht einfach die Zukunft der Gemeinde ist, die man ja nun braucht, damit es weitergeht. Damit benutzt man sie schon wieder ein Stück. Sie ist Gegenwart der Gemeinde, sie sind jetzt und hier, Mitlebende in dieser Gemeinde. Es geht um eine Wertediskussion, nicht so sehr um eine Wertevermittlung nach dem Motto „Ich habe einen Wert, den dräng ich Dir auf“, sondern wir unterhalten uns darüber, was uns wichtig ist. Und ich denke, wenn wir bei den vielen und schwierigen Normen der Kirche dahinterschauen, was sie denn eigentlich schützen sollen an Treue, an Verläßlichkeit, an Echtheit, dann würde man auf Werte kommen, die auch jungen Menschen durchaus nicht fremd sind.

Die Identität der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbst ist wichtig – ob Lehrer, Priester oder Gemeindereferentin. Dass man selber in ganz selbstverständlicher Treue Dinge tut. Das beeindruckt ja durchaus, wenn einer mit sich identisch ist, man muß nicht mit allem einverstanden sein, was der andere so tut, aber man muß spüren, der steht dahinter. Er ist es selbst.

Es geht zudem um die Notwendigkeit zu mehr Kooperation in der Jugendarbeit, aber auch zwischen Gemeinde, Schule und Eltern, das alles fällt immer mehr auseinander. Wir haben in vielen Gesprächen mit Religionslehrern darüber nachgedacht.

Auch in der Berufungspastoral, wo es um kirchliche und geistliche Berufe geht, müssen wir sehr stark bei den berufssuchenden jungen Menschen ansetzen. Viele suchen ja oft noch den Beruf. Die Suche des Berufes ist eine der wichtigsten Fragen. Ihnen dabei Hilfestellung zu geben, läßt auch vielleicht Berufung unterschiedlichster Art in der Kirche entwickeln. Und warum gibt es geistliche Gemeinschaften, warum gibt es kleinere Einheiten in der Kirche, in die eben die jungen Menschen sich aufgehobener fühlen, klarer orientiert fühlen, weil doch die Großinstitutionen dieses Vertrauen nicht mehr auf sich ziehen.

Ich möchte sagen, dass es – ich habe das in der letzten Zeit öfter angeführt und werde das in vielen Zusammenhängen sicher noch viel öfter tun – dass es eigentlich sechs Aufbruchbewegungn geben müßte:
Den Aufbruch zum Wesentlichen, das heißt, wir haben vom Kern des Glaubens auszugehen, von unserem Glauben an den größeren Gott. Dieser Gott gibt den Menschen Sinn, durch Jesus Christus und in der Gemeinschaft des Hl. Geistes, nicht mit all den Zerfaserungen und all den verschiedenen Sätzen, sondern in diesem Kern.

Dann wäre Aufbruch zum Existenziellen, zum Persönlichen. Es glaubt uns keiner, wenn wir nur Sätze mitteilen, sondern wenn wir nicht persönlich davon überzeugt und angesprochen sind, wenn junge Leute nicht spüren, dass wir selber davon befeuert sind.

Dann den Aufbruch zum Miteinander. Gemeinschaft ist eines der wichtigsten Worte, die immer wieder genannt werden. Warum fühlen wir uns da in Paris wohl?
Weil wir hier Gemeinschaft erfahren, den Aufbruch ins Ganze. Wider die Segmentierung und Einteilung der Wirklichkeit in ein Ganzes wieder hinein. Die Kirche ist eine der wenigen Institutionen, die die ganze Aufteilung der Wirklichkeit wieder in einen Zusammenhang bringen kann. Einen roten Faden dem Leben geben kann.

Dann Aufbruch ins Vertrauen, ins „Ja“! Nicht immer gleich mißtrauisch draufzuzugehen, sondern positiv und bejahend, nicht immer in der nächsten Ecke, sozusagen, schon gleich den Teufel zu spüren, der aus all diesen bösen Entwicklungen uns entgegenkommt, sondern Gott liebt diese Zeit, diese Situation in der wir leben genauso, wie alle Zeiten in der Kirchengeschichte.

Und der Aufbruch zur Diakonie, das heißt also zur absichtslosen Hinwendung zum Menschen. Nicht die Hinwendung zum Menschen, um ihn für mich zu vereinnahmen, sondern ihm wirklich beizustehen, in der Not. So wie der barmherzige Samariter es getan hat, als der Priester und der Levit das Wichtigere zu tun hatten.

Diese sechs Punkte sind mir wichtig für unsere gesamte Pastoral, und ich denke, sie haben auch etwas mit unserer Jugendpastoral zu tun. Nicht zuletzt ist Jesus selbst unser bester Pädagoge in der Hinsicht.

Sie wissen, dass das Thema des Jugendtreffens war: „Kommt und seht“ und dieser kleine Dialog im ersten Kapitel des Johannesevangeliums ist es eigentlich. Jesus dreht sich um und fragt: „Was sucht Ihr denn eigentlich?“ Er fragt erst mal: „Was sucht Ihr denn eigentlich?“ „Was wollt Ihr denn?“ „Was ist eigentlich in Euch Euer Innerstes?“ Nicht die vordergründigsten Bedürfnisse, sondern die eigentliche Sehnsucht. Und sie antworten, weil sie das gar nicht so genau ausdrücken können: „Meister, wo wohnst Du denn eigentlich?“ Das heißt, sie wollen nicht eine Lehre, sondern sie wollen ein Leben, sie wollen eine Person, sie wollen gucken, wo er wohnt, woraus er lebt. Und dann sagt er: „Kommt und seht.“ Das heißt allerdings, man kann nicht in der Zuschauerposition bleiben, sondern man muß dann schon mitgehen. Aber dieser kleine Dialog ist ein Urdialog, der eigentlich zwischen Kirche und Jugend ständig geschehen ist.

Jetzt bin ich am Ende meiner langen Ausführungen, ich habe vieles sicher nicht gesagt, was Sie noch im einzelnen vielleicht erwartet hätten, aber dafür bleibt ja dann noch die ganze Stunde für Fragen. Ich habe Ihnen keine Rezepte und Methoden geben können, wie man das denn heute alles lösen kann, die haben auch die besten Pädagogen nicht. Aber ich lasse mich von dem Ziel leiten, welches in dem kleinen Satz von de Saint-Exupèry steckt, den Sie alle kennen, denn es geht letztlich nicht allein um die Methoden! „Wenn Du ein Schiff bauen willst, so trommele nicht nur Leute zusammen, um Holz zu beschaffen, um Werkzeuge herzustellen, um Aufgaben zu verteilen, die Arbeit einzuteilen, sondern wecke in ihnen die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“ Und ich bin davon überzeugt, meine Lieben, dass diese Sehnsucht nach dem endlosen Meer, das darf man auch wohl mal mit „h“ schreiben, in jeder Jugend und in jeder Generation zu wecken ist. Davon bin ich voll überzeugt.

Dankeschön!

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Dr. Hans Berentzen im “Handruper Forum”

Was erwartet die Wirtschaft vom Gymnasium und vom Gymnasiasten?

Zum Referenten:
Dr. Hans Berentzen
Präsident der Industrie- und Handelskammer
Osnabrück-Emsland

Vortrag im Rahmen des „5. Handruper Forums“ vom 19. September 1996.

(Vortrag und anschließende Podiumsdiskussion vermutlich nach Bandmitschnitt transkribiert.)

Vortrag Dr. Hans Berentzen

Sehr geehrter P. Dr. Meyer-Schene, sehr geehrter P. Rektor, liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Gäste!

Bis vor etwa 10 Jahren war für nahezu alle Gymnasiasten, ihre Eltern und Lehrer die Entscheidung selbstverständlich: Nach dem Abitur kommt das Studium. Die Frage war nur – welches?

Nur sehr wenige Abiturienten haben dagegen den Weg von der Schulbank in eine Berufsausbildung gewählt. Bei der Industrie- und Handelskammer Osnabrück-Emsland betrug der Anteil der Abiturienten an allen Auszubildenden in der Berufsausbildung Mitte der achtziger Jahre rund sieben Prozent. Es gab eigentlich nur zwei Berufe im dualen System, die für Abiturienten in Frage kamen: den Bankkaufmann und den Versicherungskaufmann.

Inzwischen ist das Interesse von Abiturienten an Alternativen zum Studium deutlich gestiegen. Auch die Wirtschaft ist bei ihrem Bemühen um Nachwuchskräfte verstärkt auf die Abiturienten aufmerksam geworden. Heute liegt deren Anteil in der dualen Berufsausbildung bei rund 20 Prozent. Er hat sich also innerhalb der letzten zehn Jahre nahezu verdreifacht.

Auch das Berufsspektrum für Abiturienten ist wesentlich breiter geworden. So sind Abiturienten heute in fast allen Ausbildungsberufen vertreten.

Es ist dabei nicht zu verkennen, daß für einen großen Teil der Abiturienten die Berufsausbildung dem Studium nur vorgeschaltet wird. Der Weg von der Schule über die Berufsausbildung in das Studium hat unbestrittene gesamtwirtschaftliche Vorzüge. Denn Studenten mit praktischer Berufserfahrung studieren nachweislich kürzer und effizienter als jene, die direkt von der Schule zur Universität wechseln. Sie sind am Ende auch als junge Akademiker für die Wirtschaft besonders interessant und finden deshalb nach ihrem Examen schneller einen Arbeitsplatz.

Gleichwohl bilden die Unternehmen junge Leute nicht zur Vorbereitung auf das Hochschulstudium aus, sondern vornehmlich für den eigenen Beschäftigungsbedarf..

Diese Überlegungen waren für die niedersächsische Wirtschaft bereits vor zehn Jahren Anlaß, verstärkt über neuartige berufliche Bildungsangebote nachzudenken. Diese sollten speziell den Abiturienten attraktive Berufswege jenseits der Hochschule aufzeigen. Die Rede ist von den Berufsakademien.

Eine der ersten Berufsakademien in Niedersachsen wurde 1988 in Lingen gegründet. Anders als in vielen anderen Bundesländern ist sie eine private Bildungseinrichtung der Wirtschaft. Die Ausbildung an der Berufsakademie ist den Abiturienten vorbehalten und erfolgt im aufeinander abgestimmten Wechsel von Theorie und Praxis: 50 Prozent im Unternehmen, 50 Prozent an der Berufsakademie.

Diese Form der beruflichen Ausbildung von Abiturienten hat für die Unternehmen den großen Vorzug, daß sie unmittelbar Einfluß auf die Qualifizierung ihrer Nachwuchskräfte nehmen können. Die Nachwuchskräfte werden an den Berufsakademien auf diese Weise entsprechend den aktuellen praktischen Erfordernissen der Wirtschaft qualifiziert. Zugleich verfügen sie über ein fundiertes theoretisches Fachwissen.

Durch die enge, an der betrieblichen Wirklichkeit orientierte Verzahnung von Praxis und Theorie werden sie systematisch auf Führungspositionen in Unternehmen vorbereitet, für die bislang nur Hochschulabsolventen in Frage kamen. Aus Sicht der Unternehmen sind die eigenen BA-Absolventen den Hochschülern zumindest gleichwertig, wenn nicht überlegen. Praxisferne ist ihnen nicht vorzuwerfen, der Praxisschock tritt nicht ein. Es ist deshalb kein Zufall, daß die Berufsakademien – speziell in Niedersachsen – in den zurückliegenden Jahren eine vielbeachtete Aufwärtsentwicklung genommen haben.

Kommen wir auf die gewiß weiter gefaßte Fragestellung des heutigen Abends zurück: „Was erwartet die Wirtschaft vom Gymnasium und vom Gymnasiasten?“ Vor dem Hintergrund der von mir dargelegten Entwicklung können wir folgendes feststellen:

die Wirtschaft hat mit der Entwicklung eigener Bildungsangebote für Abiturienten gezeigt, daß an Gymnasiasten und Gymnasien andere Anforderungen zu stellen sind als an Haupt- und Realschulen,
den Schnittstellen zwischen den Bildungsbereichen Schule – Wirtschaft – Hochschule muß wesentlich mehr Bedeutung zuerkannt werden als in der Vergangenheit. Übergänge müssen besser aufeinander abgestimmt und erleichtert werden, der wirtschaftliche Wandel erzwingt auch einen Wandel des Bildungssystems und damit der Schulen.

Lassen Sie mich diesen letzten Punkt weiter ausführen. Zusammen mit den anderen Spitzenorganisationen der deutschen Wirtschaft hat sich der DIHT gerade in jüngster Zeit mit dem Profil der allgemeinbildenden Schulen befaßt. Die Ausgangsüberlegung war einfach: Die Unternehmen können im internationalen Wettbewerb nur bestehen, wenn sie leistungsfähige, gut ausgebildete und hoch motivierte Mitarbeiter haben. Die Grundlagen dafür werden maßgeblich durch die Schule und das Ausbildungssystem gelegt.

Bei Lichte betrachtet ist unser Bildungssystem jedoch in eine Schieflage geraten:

So ist die Zahl der Studenten größer als die der Auszubildenden in einer praktischen Berufsausbildung im dualen System. So stieg die Zahl der Gymnasiasten im Zeitraum von 1960 bis 1992 von 850 000 auf 1,6 Millionen um fast 100 %, während gleichzeitig die Zahl der Hauptschüler von gut 2 Millionen auf 1 Million, mithin um 50 % sank.

Etwa 30 % der Studienanfänger brechen ihr Studium ab. Die Zahl der arbeitslosen Akademiker steigt, während rund 20 % der Hochschulabsolventen unter ihrem Qualifikationsniveau beschäftigt sind.
Das alles sind Alarmsignale! „Weiter so!“ kann die Devise beim besten Willen nicht mehr lauten. Es ist – um es überspitzt zu sagen – einfach nicht vorstellbar, daß die Wirtschaft funktioniert, wenn ein stetig steigender Anteil eines Altersjahrgangs bis zum Abitur an der Schule bleibt und danach noch ein Hochschulstudium absolviert. In Niedersachsen wechseln mehr als 30 Prozent der Schüler von der Orientierungsstufe zum Gymnasium, in den Großstädten sind es sogar bis zu 60 Prozent. In einigen Regionen erwirbt heute bereits etwa die Hälfte der Schulabgänger das Abitur. Wir müssen also etwas verändern, wenn wir unser Ausgangsziel erreichen wollen.

Der Trend zu formal höheren Schulabschlüssen wurde ursprünglich bildungspolitisch initiiert. Er wurde von der Erwartung getragen, daß ein höherer Schulabschluß eine höhere berufliche Position, bessere Verdienstmöglichkeiten und größere Arbeitsplatzsicherheit in Aussicht stellt. Vor dem Hintergrund der angespannten Situation auf dem Arbeitsmarkt für Akademiker sind daran inzwischen ernstzunehmende Zweifel angebracht. Wer glaubt, daß auch künftig sozialer Status, beruflicher Aufstieg, bessere Arbeitsbedingungen und höhere Einkommen nur über Abitur und Diplom zu erreichen sind, der irrt.
Nun wird der Wirtschaft in vielen bildungspolitischen Diskussionen entgegengehalten, daß sie von Schulabgängern immer höhere und weiterführende Qualifikationen verlangt. Richtig ist, daß die Unternehmen besser ausgebildete Nachwuchskräfte benötigen, weil die betrieblichen Anforderungen immer komplexer werden. „Besser ausgebildet“ bedeutet aber nicht, daß immer mehr Schüler einen höheren Schulabschluß erreichen.

Die Unternehmen benötigen nach wie vor qualifizierte Haupt- und Realschüler, die über eine fundierte Berufsausbildung im dualen System auf ihre spätere Facharbeitertätigkeit vorbereitet werden. Die Wirtschaft benötigt ebenso Abiturienten, die an einer anspruchsvollen beruflichen Ausbildung interessiert sind. Hier sind junge Leute gefragt, die bereit sind, nach ihrer Ausbildung über die berufliche Weiterbildung zusätzliche Qualifikationen – zum Beispiel als Fachkaufleute, Fachwirte, Industriemeister oder Technische Betriebswirte – zu erwerben. Sie verbinden praktische Erfahrung mit fundierten theoretischen Kenntnissen und können damit verantwortungsvolle Führungspositionen im Unternehmen ausfüllen. Denn einschlägige Berufserfahrung ist für die Übernahme von Führungsaufgaben in den Unternehmen unverzichtbar.

Auf diesen Arbeitsplätzen können die Unternehmen keine Hochschulabgänger einsetzen, die mit Theorie vollgepackt und dann rasch frustriert sind, weil sie kaum Chancen für einen steilen Karriereweg sehen.
Es ist an der Zeit, überzogene Ansprüche zu revidieren. Ansprüche werden nicht durch formale Schul- oder Hochschulabschlüsse erworben, sondern durch vorzeigbare Leistungen. Und wer sich durch Leistungen auszeichnet, der muß auch die Chance erhalten, im Beruf weiterzukommen.

Der Bedarf an praktisch qualifizierten Fachkräften nimmt stetig zu. In einigen Branchen und Regionen gibt es bereits einen nachhaltigen Mangel an Fachkräften, ja sogar einen Mangel an Ausbildungswilligen.
Die rasanten technologischen Veränderungen und die zunehmende Globalisierung der Märkte, d.h. die zunehmenden internationalen Verflechtungen, setzen die Unternehmen unter einen hohen Wettbewerbsdruck. Er zwingt sie, ihre Betriebsorganisation grundlegend zu überdenken. Dies ist fast zwangs-läufig mit der Entstehung anspruchsvollerer Arbeitsplätze verbunden.

Schon heute steht die Verantwortung eines jeden Mitarbeiters im Betrieb viel stärker im Vordergrund als früher. Die Menschen sind kein namenloses Rädchen im Getriebe, sondern Gestaltungsfaktoren der Unternehmensentwicklung. Schlanke Strukturen, beschleunigte Abläufe und ein umfassendes Qualitätsmanagement setzen auf Verantwortung und Motivation jedes einzelnen.

Hinzu kommt der mit der Globalisierung der Wirtschaft einhergehende Bedarf, sich mit Menschen anderer Länder und Kulturkreise zu verständigen. Die Beherrschung von mindestens einer Fremdsprache ist unumgänglich, die Kenntnis einer oder zwei weiterer sicherlich nützlich.

Unter diesen veränderten Voraussetzungen lassen sich Erfolge am Markt nur dann erzielen, wenn die Persönlichkeit der Mitarbeiter, ihre Fähigkeiten, Begabungen, Neigungen frühzeitig ausgelotet und ihre individuellen Stärken gezielt gefördert werden. Dabei zählt die fachliche Qualifikation ebenso wie persönliche Befähigungen und soziales Verhalten.

Es kann nicht allein Aufgabe der Unternehmen sein, die junge Generation an dieses neue Rollenverständnis und Qualifikationsprofil heranzuführen. Schule und Schulpolitik müssen dazu ihren Beitrag leisten. Konkret bedeutet dies, daß auch das Schulsystem dem veränderten Qualifikationsbedarf der Wirtschaft verstärkt Rechnung tragen muß.

Die Spitzenorganisationen der deutschen Wirtschaft haben dazu bereits in den Jahren 1992 und 1993 eine umfassende Bestandsaufnahme und entsprechende Reformvorschläge unter dem Titel „Differenzierung, Durchlässigkeit, Leistung“ erarbeitet und in die öffentliche Diskussion eingebracht. Schon der Titel bringt zum Ausdruck, daß aus Sicht der Wirtschaft eine grundlegende Reform des Schulwesens vom Prinzip der Nivellierung durch Herabsetzen der Anforderungen Abschied nehmen muß. Wer Schule als „Insel der Seligen“ gestaltet, programmiert das spätere Versagen seiner Absolventen in der Berufswelt. Mit Gleichmacherei auf niedrigem Niveau werden wir die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen in der Zukunft nicht meistern können. Was wir in Deutschland vielmehr brauchen ist eine Schullandschaft, in der Qualität und Vielfalt die Leitprinzipien sind, nicht Quantität und Einfalt.

Wenn man aus der Sicht der Wirtschaft das Wunschprofil des Schulsystems im allgemeinen und des Gymnasiums im besonderen kurz umschreiben sollte, dann müßte es wie folgt aussehen:

leistungsbezogen – werteorientiert – allgemeinbildend.

Leistungsbezogen heißt, daß Schule die Begabungen, Neigungen und die Leistungsbereitschaft der Schüler fördern und auf dieser Grundlage Leistung auch fordern muß. Die Leistung ist das Auswahlkriterium der Demokratie. Unter der Voraussetzung der Chancengleichheit muß dem Leistungsprinzip wieder der Stellenwert zuteil werden, der ihm gebührt. Die Erkenntnis, daß mit hohem Einsatz auch gute Erfolge erzielt werden können, muß vermittelt werden.

Werteorientiert heißt, daß Schule grundlegende Werteinstellungen vermitteln soll. Sie bietet damit unverzichtbare Lebensvorbereitung für Arbeit und Gesellschaft. Ich denke hier insbesondere an das, was wir in der bildungspolitischen Diskussion als Schlüsselqualifikationen bezeichnen:
die persönlichen Kompetenzen (Befähigungen) als Grundhaltungen, die die Jugendlichen befähigen, den Anforderungen im Unternehmen gerecht zu werden. Lassen Sie mich einige nennen: Zuverlässigkeit, Lernbereitschaft, Ausdauer, Sorgfalt, Verantwortungsbereitschaft usw.
die sozialen Kompetenzen (Verhaltensweisen) als Einstellungen, die eine organisierte Zusammenarbeit im Unternehmen erst ermöglichen. Auch hier nenne ich einige: Teamfähigkeit, Höflichkeit, Konfliktfähigkeit, Toleranz.

Allgemeinbildend bedeutet, daß Schule eine allgemeine Grundlage anbieten und damit das notwendige Rüstzeug für alle weiterführenden Bildungsschritte vermitteln muß. Auf bestimmte Mindeststandards muß einfach Verlaß sein. Was die Wirtschaft erwartet, sind etwa:
die grundlegende Beherrschung der deutschen Sprache in Wort und Schrift
die Beherrschung der gängigen Rechentechniken
Fremdsprachenkenntnisse
Kenntnisse über das Funktionieren unseres Wirtschaftssystems, der Sozialen Marktwirtschaft.
Es darf nicht sein, daß Kulturtechniken – wie Lesen, Schreiben, Rechnen – erst in der Berufsausbildung neu erlernt werden müssen, was immer häufiger passiert wie Ausbildungsbetriebe und Berufsschulen gleichermaßen beklagen. Das allgemeinbildende Schulsystem muß seinem Bildungsauftrag hier stärker gerecht werden.

Doch auch vor diesem Hintergrund wird sich die gymnasiale Bildung in Zukunft zuallererst an den Erfordernissen der allgemeinen Hochschulreife orientieren. Sie bleibt damit auch weiterhin auf Studierfähigkeit und damit auf wissenschaftliche Orientierung angelegt. Dabei geht es nicht darum, Studieninhalte möglichst frühzeitig in den Lehrplan des Gymnasiums aufzunehmen, sondern vor allem um das Erlernen von Methoden, Techniken und Werten. Für das wissenschaftliche Arbeiten sind diese unerläßlich.

Dieses Ziel läßt sich nur erreichen, wenn die Qualität des Abiturs gestärkt und die Vergleichbarkeit des Abiturniveaus nicht nur zwischen den einzelnen Schulen, sondern auch zwischen den einzelnen Bundesländern sichergestellt ist. Das Abitur ist ein Markenzeichen, an dessen Imagebewahrung gerade die Gymnasien ein Interesse haben sollten.

Aus Sicht der Wirtschaft sollten in allen Bundesländern bestimmte Kernfächer bis zum Abitur unterrichtet und auch geprüft werden. Dazu zählen Deutsch, Mathematik und eine Fremdsprache ebenso wie Geschichte, ein naturwissenschaftliches und ein musisch-künstlerisches Fach.

Doch vor dem Hintergrund des enger werdenden Arbeitsmarktes für Akademiker muß der ursprüngliche Bildungsauftrag des Gymnasiums heute weiter gefaßt werden, muß über die Vorbereitung auf das Studium hinausgehen. Es muß gelingen, auch den Gymnasiasten mit Blick auf die Berufswahl außerhalb des Studiums Orientierungen zu geben, sie in die Lage zu versetzen, Berufschancen realistisch zu erkennen und einzuschätzen.

Praxiserfahrung durch Betriebspraktika, Praxiswissen durch Betriebsbesuche und Unternehmer-gespräche sowie Projekttage ermöglichen einen besseren Übergang von einem Bereich des Bildungs-systems in den anderen. Was sich an Real- und Hauptschulen bewährt hat, kann für die Gymnasien nicht falsch sein. Die bereits bestehenden Kontakte zwischen Gymnasien und Wirtschaft sollten daher intensiviert, neue Kontakte aufgebaut werden. Gemeinsame Arbeitskreise von Schule und Wirtschaft bieten aus unserer Sicht eine geeignete Plattform für effektive Zusammenarbeit.

Lassen Sie mich einen weiteren Wunsch vortragen. Mit Blick auf die bedrückenden ökonomischen Probleme in Deutschland und der Welt ist es unhaltbar, daß Schüler das allgemeinbildende Schulsystem, insbesondere das Gymnasium verlassen, ohne über grundlegende ökonomische Kenntnisse zu verfügen. Aus Sicht der Wirtschaft ist eine Aufwertung der „Wirtschaftslehre“ an Gymnasien unverzichtbar.
Die individuelle Existenz wird ebenso wie der gesellschaftliche Wohlstand in hohem Maße von wirtschaftlichen Faktoren bestimmt. Eine Lösung zentraler Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben – Arbeits-losigkeit, Umweltverschmutzung, Unterentwicklung – ist national wie international ohne ökonomischen Sachverstand und ohne eine leistungsfähige Wirtschaft schlichtweg nicht denkbar.

Doch eine fundierte Einführung in die Grundzüge der Sozialen Marktwirtschaft findet in den Gymnasien nicht statt. Das führt allzu häufig zu Berührungsängsten, ja sogar zu Mißtrauen bei jungen Leuten gegenüber der Wirtschaft. Diese Einstellung ist für eine führende Industrienation nicht akzeptabel. Ökonomische Inhalte sind zwar in verschiedenen Fächern – wie Geographie, Sozialkunde, Politik, Gemeinschaftskunde – versteckt, doch gibt es kein inhaltlich geschlossenes Konzept für die ökonomische Bildung, weder in der Sekundarstufe I noch in der Sekundarstufe II des Gymnasiums. Diese Lücke muß gefüllt werden.
Erst gestern hat der Deutsche Industrie- und Handelstag zu diesem Thema ein schulpolitisches Symposium mit dem Titel „Wirtschaft und Gymnasium“ veranstaltet. Im Mittelpunkt stand die Präsentation eines nach modernen Lern- und Lehrmethoden aufgebauten Lehrplans für einen eigenständigen Wirtschaftskundeunterricht in der Sekundarstufe I an Gymnasien.

Ziel ist es, ökonomische Grundkenntnisse und Zusammenhänge im Rahmen der Allgemeinbildung zu vermitteln, um die wirtschaftliche und gesellschaftliche Basis der menschlichen Existenz überhaupt erst verständlich zu machen. Es geht also nicht – um möglichen Mißverständnissen vorzubeugen – um berufliches Spezialwissen oder berufskundliche Informationen, sondern um allgemeine Grundlagen für das Verständnis beruflicher, wirtschaftlicher und technischer Prozesse in einer hochentwickelten Industriegesellschaft mit umfassenden internationalen Verflechtungen.

Eine marktwirtschaftliche Ordnung ist wesentlich auf die Akzeptanz durch die Bürger angewiesen. Dies setzt die Einsicht in wirtschaftliche Gesamtzusammenhänge voraus. Ökonomische Bildung ließe sich in diesem Sinne als eine notwendige geistige Ressource sowohl für das Verhältnis als auch für die Weiterentwicklung einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung bezeichnen.

Lassen wir einmal dahingestellt, ob es gleich ein neues Fach sein muß. Es wäre jedenfalls schon ein großer Fortschritt, wenn das Thema „Wirtschaft“ in den Rahmenrichtlinien für das Fach Gemeinschafts-kunde erscheinen würde und zwar in den Jahrgangsstufen 7 bis 10, in denen sinnvoll eine Grundsatzentscheidung über die spätere Berufs- oder Studienwahl getroffen werden sollte.
Wir hoffen sehr, daß dieses Projekt durch die Präsentation beim Deutschen Industrie- und Handelstag neue Denkanstöße gibt.

Der Wunschzettel der Wirtschaft an das Gymnasium ist lang: mehr Abiturfächer, mehr Berufsorientierung, mehr Praxis sowie die „Wirtschaftslehre“ als neues Fach. Und dann noch die Forderung der Wirtschaft nach Verkürzung der Schulzeit. Wie kann das gehen? Wie soll die Schule das alles schaffen?

Die Antwort muß lauten: Auch das Bildungssystem muß sich mit dem Prinzip der Effizienz anfreunden. Mehr Inhalte in kürzerer Zeit, mehr Stunden mit weniger Lehrern, usw. Daß dabei nicht nur draufgesattelt werden kann, ist aber ebenso klar. Wir kommen nicht umhin, auch in der Bildung Prioritäten zu setzen und Althergebrachtes zu hinterfragen. Zur Bewältigung unserer gesellschaftlichen Zukunftsaufgaben brauchen wir ein zeitgemäßes Schulsystem. Eine Alternative dazu gibt es nicht.

Meine Damen und Herren , ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür, daß ich in meinem Vortrag die kritischen Entwicklungen unseres Bildungssystems aus Sicht der Wirtschaft so besonders hervorgehoben und betont habe. Das ist der Stoff, über den wir trefflich diskutieren können. Ich möchte aber auch deutlich sagen, daß an unseren Schulen von engagierten Lehrern und Schülern hervorragende Arbeit geleistet wird, trotz mancher ungünstiger Rahmenbedingungen. Das wollen wir anerkennen und darauf dürfen Sie und wir mit Recht stolz sein. Der Nachwuchs verdient unser Vertrauen.

Gerade deshalb haben die Vertreter der Wirtschaft ein so großes Interesse, den Dialog mit den Schulen, den Schülern und nicht zuletzt auch mit der Schulpolitik intensiv weiterführen.

Die globalen Veränderungen unserer Lebensverhältnisse wie z.B. der Wandel zur Informationsgesellschaft und das Zusammenwachsen Europas müssen Eingang finden in eine zukunftsorientierte gymnasiale Bildung. Der Bedarf an informationstechnischer Grundbildung steigt ebenso wie die Beherrschung fremder Sprachen. Dabei gilt es auch, über die Organisation des Lernens neu nachzudenken, um Teamfähigkeit und selbständiges Arbeiten als notwendige Schlüsselqualifikationen zu vermitteln. Nur so können wir kreativ für eine dauerhafte Fortentwicklung von Gesellschaft, Wirtschaft und Technik eintreten und unserer nachwachsenden Generation erstrebenswerte Perspektiven bieten.

Wir wollen Schülern und Lehrern noch mehr und noch kontinuierlicher Einblick in die Praxis geben, damit sie erfahren, wie die konkreten Anforderungen des Berufslebens aussehen. Nur so können sie die Wege in unsere Zukunft bereiten und gestalten. In diesem Sinne biete ich Ihnen die Zusammenarbeit mit der hiesigen Wirtschaft an, damit dieses und die anderen Gymnasien unseres Wirtschaftsraumes als ein lebendiger Teil unserer Gesellschaft an der Weiterentwicklung unserer Region teilhaben und die Schüler nicht nur für die Schule, sondern tatsächlich auch für das Leben lernen.

Podiumsdiskussion zum Thema „Was erwartet die Wirtschaft vom Gymnasium und vom Gymnasiasten?“

Teilnehmer:

Dr. Hans Berentzen, Präsident der Industrie- und Handelskammer Osnabrück-Emsland
Dr. Gerhard Mammen, Geschäftsführer der der Industrie- und Handelskammer Osnabrück-Emsland
Dr. Jörg Scheinpflug, Industrie- und Handelskammer Osnabrück-Emsland – Abt.-Leiter Berufsbildung
P. Dr. Josef Meyer-Schene SCJ, OStD und Schulleiter am Gym.Leoninum Handrup
Rolf-Heiner Keller, OStR und Fachobmann für Geschichte/Gemeinschaftskunde am Gym. Leoninum
Alfons Veer, Oberstufenschüler am Gym. Leoninum Handrup
Michael Overesch, Oberstufenschüler am Gym. Leoninum Handrup

Moderator:

Paul Wöste, OStR und verantwortlicher Leiter des Handruper Forums

Herr Wöste:

Meine Damen und Herren, ich glaube, dass wir genügend Anreiz für eine Diskussion haben. Herr Dr. Berentzen hat einige z.T. sehr kritische Anmerkungen gemacht, auf die wir sicherlich noch eingehen werden. Ich darf zunächst aber die Teilnehmer der Podiumsdiskussion vorstellen. Zu meiner Rechten die Vertreter der Industrie- und Handelskammer, Herr Dr. Mammen als IHK-Geschäftsführer, Herr Dr. Scheinpflug, zuständig für den Bereich Berufsbildung. Im Publikum hat noch Herr Falkenstein platz genommen, er ist stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer, dort zuständig für den Bereich Volkswirtschaft. Zu meiner Linken die Vertreter der Schule. P. Dr. Meyer-Schene kennen Sie bereits. Begrüßen darf ich meinen Kollegen, Herrn Heiner Keller, den Fachobmann für das Fach Geschichte. In dieses Fach ist an unserer Schule das Fach Gemeinschaftskunde integriert, von daher kann er sicherlich zu Fragen des Lehrplanes Auskunft geben. Als Vertreter der Schüler darf ich Alfons Veer und Michael Overesch willkommen heißen, und ich freue mich ganz besonders, dass beide sich bereit erklärt haben, hier vorne mit uns zu diskutieren.

Zum Organisatorischen würde ich folgendes vorschlagen: Wir werden hier zunächst in einer Podiumsrunde versuchen, grundlegende Fragen, die das Referat von Dr. Berentzen aufgeworfen hat, anzusprechen, und im Anschluß daran wird es dann eine Publikumsrunde geben. Ein Schüler hat ein schnurloses Mikrofon, so dass Ihre Fragen und Anregungen entsprechend für alle zu verstehen sind.

Ich darf dann beginnen mit einem Aspekt, den auch Herr Dr. Berentzen an den Anfang seines Vortrages stellte. Gemeint sind die Zulassungsvoraussetzungen für das Gymnasium. Ich darf mich hier zunächst an P. Dr. Meyer-Schene wenden. Es wurde gesagt, dass das Bildungssystem in eine Schieflage geraten sei und es wurde beanstandet, dass zu viele Schüler, und ich interpretiere jetzt einfach mal, zu viele unzureichend qualifizierte Schüler das Gymnasium besuchen. Dr. Berentzen hat das mit einer Reihe von Statistiken belegt. P. Dr. Meyer-Schene: „Sind die Zulassungsvoraussetzungen für das Gymnasium zu niedrig? Und können wir davon sprechen, dass das gymnasiale Niveau gesunken ist?”

P. Dr. Meyer-Schene:

Herr Dr. Berentzen hat davon gesprochen, dass etwa 30% der Studienanfänger ihr Studium abbrechen, und das ist sicherlich eine alarmierende Zahl. Ich würde allerdings nicht daraus so ohne weiteres den Schluß ziehen, dass es sich dabei nur um ehemalige, nicht geeignete Gymnasialschüler handeln muß. Es kann sein, muß aber nicht.

Herr Dr. Berentzen hat auch dargelegt, dass die Zahl der Gymnasiasten von 1960 bis 1990 sich um rund 100% gesteigert hat. Diese Steigerung sagt auch noch nichts darüber aus, ob das geeignete oder nicht geeignete Schüler gewesen sind, die aufgenommen wurden. Fest steht, diese Steigerung ist zum Teil auch darauf zurückzuführen, dass hier im hiesigen Raum – und damit meine ich das Emsland, Südoldenburg und den nördlichen Teil des Landkreises Osnabrück – ab Mitte der 60er Jahre 14 neue Gymnasien entstanden sind. Als ich hier vor 25 Jahren Schulleiter wurde, waren 14 Gymnasien im Aufbau, und damit wurde ein sehr ortsnahes Bildungsangebot vorgehalten. Die Eltern konnten die Kinder auf Gymnasien schicken, während sie sich früher auf die ortsansässigen Mittelschulen, wie die Realschulen damals hießen, beschränken mussten. Ich nenne da z.B. Löningen, Damme, Lohne in Oldenburg, hier im Emsland waren z.B. Haren und Sögel dabei, so dass dadurch die Zahl der Gymnasiasten enorm erhöht worden ist, weil das Bildungsangebot ortsnäher wurde. Ich kann das aus persönlicher Erfahrung hier vom Hause sagen, wir hatten im Jahr 1970, als ich Schulleiter wurde, 250 interne Schüler. Wir hatten eine eigene Fußballmannschaft aus dem Ort Lohne in Oldenburg. Damit will ich sagen, ganze Gruppen gingen weg von zu Hause, um ein gymnasiales Bildungsangebot im Internat wahrnehmen zu können. Dann hat die Orientierungsstufe hier in unserm Raum speziell, das kann ich nicht generell behaupten, zu einer enormen Steigerung der Zugänge zum Gymnasium geführt, etwa 15 bis 20% je nach Orten. Und zwar haben viele Eltern, die gar nicht vorhatten, ihre Kinder auf das Gymnasium zu schicken, durch die Orientierungsstufe die Empfehlungen bekommen, auf das Gymnasium zu gehen, und ich habe viele Gespräche geführt mit Eltern, die gar nicht vorhatten, das Kind hier hin zu schicken, wo aber die Stufenleiter der Orientierungsstufe gesagt haben, führen sie wenigstens ein Gespräch. Das hat in vielen Fällen dazu geführt, dass die Eltern das Gymnasium annahmen. Hier kommt allerdings jetzt ein zweites wesentliches Problem und das ist ein Punkt, den Herr Dr. Berentzen bereits angesprochen hat, dass nämlich vielfach die Empfehlungen der Orientierungsstufe nicht berücksichtigt werden, sondern einfach vernachlässigt werden. Es gibt Schulen in der Umgebung, ich meine jetzt keine konkrete, die ganze Klasse von nicht für das Gymnasium empfohlenen Schülern unterhalten. Und das ist natürlich ein Riesenproblem. Selbstverständlich stehe ich dazu, gerade als Vertreter der freien Schule, dass der Elternwille absoluten Vorrang haben muß, aber es muß auch vernünftig sein. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass ich an unserer Schule dieses Problem nicht habe. Die öffentliche Schule kann jedoch nicht anders, sie muß einfach diese Schüler aufnehmen, und das sind ganz sicher Fehlentwicklungen. Ich kann das mit einem alten Spruch von Dr. Remmers sagen, der früher sagte: „Zum Gymnasium müssen alle empfohlenen Kinder und meines.” Und da ist genau das Problem, was wir auch nicht lösen können. Wenn Herr Wöste den häufig zu vernehmenden Vorwurf aufgreift, dass sich das Gesamtniveau des Gymnasiums gesenkt habe, muß das sicherlich differenziert betrachtet werden. Ich will das an einem konkreten Beispiel erläutern. Wenn ich die Abiturarbeiten der letzten fünf Jahre in Latein vergleichen müßte mit den Abiturarbeiten aus den beginnenden 70er Jahren oder Mitte der 60er Jahre, dann ist ein ganz deutliches negatives Gefälle festzustellen. Unsere Schüler könnten diese Arbeiten, die 65 bis 70 geschrieben wurden, nicht bewältigen. Aber man muß bedenken, dass eben hier ganz andere Stundentafeln und andere Inhalte durch die Reformen gekommen sind. Durch die Reformen, das wird häufig behauptet, sei ein Niveauverlust eingetreten. Man muß dabei allerdings auch bedenken, dass früher ein Schüler an einem Fach scheitern konnte, wo er heute durch die Möglichkeit der Wahl nach Leistung oder Neigung zum Abitur kommen kann. Das sind Vor- und Nachteile, die man ganz genau abwägen müßte. Es gibt einen Niveauverlust oder eine Niveausenkung ganz sicher in ganzen Fachbereichen, weil die Stundentafeln total verändert sind. Als ich 1971/72 die letzten altsprachlichen Klassen ins Abitur führte, hatten die Schüler 6 bzw. 7 Stunden in jedem altsprachlichen Fach. Heute undenkbar! Es sind also erhebliche Verschiebungen und Veränderungen eingetreten. Man muß eben auch sehen, dass es für die Schüler andere Entwicklungsmöglichkeiten gegeben hat, nämlich bedingt durch die Möglichkeit der Wahl nach Leistung und Neigung.

Dann gibt es ganz sicher, was Niveausenkung angeht, sogenannte Billigangebote, wie ich zum Abitur kommen kann. Ganz bestimmte Kombinationen von Fächern, ich will die jetzt hier nicht nennen, weil ich auch kein Fach diskriminieren will. Dem haben wir an unserer Schule einen Riegel vorgeschoben, indem wir bestimmte Fächer und bestimmte Kombinationen nicht zulassen. Und das, was Herr Dr. Berentzen am Schluß gesagt hat, ist genau das, was ich voll unterstütze. Die Fächer, die er genannt hat, Deutsch, Mathematik, eine Naturwissenschaft, ein musisches Fach, eine Sprache müßten und sollten wieder im Abitur vertreten sein.

Herr Wöste:

P. Dr. Meyer-Schene sprach gerade die Veränderung der Stundentafel an und ich würde in diesem Zusammenhang gern zum Aspekt „Wirtschaft in der Schule“ kommen. Ich möchte mich hierzu an den Fachobmann für Geschichte und Gemeinschaftskunde wenden. Ist bei der Veränderung der Stundentafel aus Ihrer Sicht denkbar bzw. war es jemals in der Diskussion gewesen, das Fach Wirtschaftslehre aufzunehmen?

Herr Keller:

Nein, also nach meinen Informationen ist das nicht ernsthaft diskutiert worden. Man muß ja auch bedenken, dass diese Diskussionen nicht auf Schulebene laufen, sondern auf höherer Ebene, d. h. in den einzelnen Bundesländern. Und man kann auch den Diskussionsprozeß, der zu den sogenannten Rahmenrichtlinien führt, als Schule oder Lehrer kaum durchschauen. Man wird mit den fertigen Rahmenrichtlinien konfrontiert und vielleicht man hat Glück, dass man einen Entwurf bekommt und um eine Stellungnahme gebeten wird, und ich weiß ganz konkret, was jetzt die neuen Rahmenrichtlinien in Gemeinschaftskunde angeht, dass auch Stellungnahmen von der Schule abgegeben wurden. Ich persönlich habe eine abgegeben und auch unser Schuldezernent. Doch bei der letzten Fortbildungsveranstaltung wurde dann gefragt, ja was ist eigentlich aus unseren Anmerkungen geworden? Und man hat auf Regierungsbezirksebene darauf keine Antwort gewußt. Hannover hat eben anders entschieden, so würde ich das jetzt einfach mal formulieren. Also über die Einführung eines Faches Wirtschaftslehre am normalen Gymnasium ist mir nichts bekannt.

Herr Wöste:

In diesem Zusammenhang ist es für uns sicherlich interessant zu erfahren, wie denn der aktuelle Stand bzgl. der Rahmenrichtlinien ist. Dr. Berentzen hat ja angesprochen, dass zu wenig ökonomisch orientierte Themen angesprochen werden. Sieht der Lehrplan überhaupt so etwas vor?

Herr Keller:

Im Wesentlichen kann ich bestätigen, was Dr. Berentzen sagte. Es ist also so, dass für die Klassen 9 und 10 Rahmenrichtlinien vorliegen. Die datieren aus dem Jahr 1989. Dort taucht das Wort Wirtschaft nicht auf. Das will ich jetzt mal nur so in den Raum stellen. Die Rahmenrichtlinien für die Oberstufe gelten seit 1994, und sie sind eine Reaktion auf die veränderte politische Landschaft, d.h. Themen wie Systemvergleich Bundesrepublik-DDR usw. sind dann eben rausgefallen aus dem Fach Politik oder Gemeinschaftskunde. Es gab also Revisionsbedarf. Das hat auch dazu geführt, dass vordergründig ein Rahmenthema mit dem Titel ”Grundlagen unserer Wirtschaftsordnung” herausgefallen ist. Andererseits bieten die Rahmenrichtlinien allerdings die Möglichkeit, das Thema an verschiedenen Stellen zu unterrichten. Aufgewertet wurde dieser Schwerpunkt in Klasse 11. Dort werden Fragen der Arbeitslehre, der Arbeitswelt angeboten, auch EU und Wirtschaft werden angeboten. Zum Kurssystem selbst muß ich sagen, dass es hier auf das Engagement der Fachgruppe ankommt, auch der einzelnen Lehrer, aus den Rahmenthemen entsprechende Kursthemen zu entwickeln, die dann auch auf Probleme der Wirtschaft verweisen. Das kann natürlich dazu führen, dass an bestimmten Gymnasien dieses Thema tatsächlich links liegen gelassen wird. Ein verbindliches Rahmenthema wie z.B. „Grundlagen der Marktwirtschaft” existiert auch in den Rahmenrichtlinien aus dem Jahre 1994 nicht. Wir an dieser Schule haben das bedauert und haben bei dem Rahmenthema, das unter dem Begriff „Zukunftsorientierung unserer Gesellschaft“ steht, die Unterrichtsreihe plaziert, die sich dem Thema Globalisierung und Fragen des Wirtschaftsstandortes Deutschland widmet. Und im Rahmen dieses Kurses muß man im Grunde genommen dann auch eine Reihe einbauen, in der die Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft den Schülern vermittelt werden. Aber das ist im Grunde genommen eine hausinterne Vereinbarung, das kann man nicht in allen Gymnasien voraussetzen. Eine Bemerkung noch dazu, die Rahmenrichtlinien sind problemorientiert, und ich weiß nicht, ob ich Ihre Worte da richtig verstanden habe und überhaupt den Vertretern der Wirtschaft gerecht werde. Ich glaube, Sie vermissen das Einüben bestimmter Kenntnisse, ich will mal sagen das Pauken, Einschleifen von bestimmten Grundkenntnissen. Und das fehlt im Grunde genommen auch. Die heutigen Rahmenrichtlinien, und da stimme ich dem zu, was der Schulleiter eben sagte, gehen doch in die Richtung, Schüler in den Stand zu setzen, Probleme zu erkennen und sich selbst Meinungen zu bilden. Das reine Abspulen von Wissen wird auch in den Abituranforderungen sehr untergeordnet bewertet, und das führt eventuell dazu, dass die Schüler vielleicht gut Probleme diskutieren können, aber über den konkreten Zusammenhang eventuell nicht so genau Bescheid wissen. Ich will das mal so überspitzt formulieren.

Dr. Berentzen:

Ja, schönen Dank. Was Sie jetzt dazu ausgeführt haben, macht schon deutlich, dass unser Wunsch, das heißt der Wunsch der Wirtschaft, die wirtschaftsbezogenen Gesichtspunkte stärker auch einzubringen in die dafür in Frage kommenden Fächer, durchaus berechtigt ist. Wenn Sie hier als Gymnasium, als privates Gymnasium, die Möglichkeiten haben, diese Gesichtspunkte stärker zu berücksichtigen als andere Gymnasien, dann ist das zwar erfreulich, aber Sie bilden dann sozusagen eine Ausnahme von der Regel. Wenn man da die Wünsche, die die Wirtschaft hat und die ja auch gestern vom DIHT konkreter noch mal neu formuliert worden sind, wenn alles dieses in Zukunft im Rahmen von Lehrplänen und Rahmenrichtlinien berücksichtigt werden sollte, dann müßte man ja irgendwo auch bereit sein, Abstriche zu machen. Denn was ich ja auch schon sagte, einfach draufsatteln wird ja nicht gehen. Irgendwo stößt man ja dann auch vom Lehrplan her und von der Zahl der zur Verfügung stehenden Stunden an die Grenze. Was kann man also machen? Wie sehen Sie das nun ganz konkret, es ist notwendig, ich glaube, das ist Ihnen und auch den Schülern und Schülerinnen wohl klar geworden, dass hier etwas geschehen muss, dass also wirtschaftliche Fächer oder wirtschaftskundliche Gesichtspunkte stärkere Berücksichtigung finden. Entweder bei den dafür in Frage kommenden Fächern oder aber auch durch Schaffung eines neuen Faches Wirtschaftslehre. Dann meine ich jedoch, müßten wir von Ihnen auch erfahren, in wieweit Schule damit konform gehen kann und zwar über Ihre eigene Schule hinaus, also generell konform gehen, und was Sie eher für realistisch und für umsetzbar halten. Die Idee nämlich, sagen wir ruhig einmal der im Vordergrund stehende Wunsch der Wirtschaft, ein eigenes Fach Wirtschaftslehre einzurichten oder aber eine stärkere Berücksichtigung wirtschaftskundlicher Bereiche in vorhandenen Fächern, wie z.B. und insbesondere Gemeinschaftskunde, Geographie, sicher auch denkbar, dass man Wirtschaftsgeschichte im Rahmen eines allgemeinen Geschichtsunterrichts mit unterbringt. Ich bin dazu kein Fachmann, ich könnte mir das aber vorstellen. Wie wird das gesehen von der Schule?

P. Dr. Meyer-Schene:

Ich kann zunächst einmal sagen, dass in einigen Bundesländern wie Baden Württemberg und Bayern das Fach Wirtschaftslehre eingeführt ist. Und zwar schon seit mehr als zwanzig Jahren. Ich habe schon als Gemeinschaftskundelehrer in Baden Württemberg in den 60er Jahren Wirtschaftslehre gegeben. Hier ist es nie zur Bildung eines Faches gekommen, aber ich würde es für ganz dringend notwendig halten, dass die Aspekte in den gemeinschaftskundlichen, sozialkundlichen Unterricht kommen, und dass sich wenigstens ein Kurs in der Oberstufe voll auf dieses Thema konzentrieren würde. Und das ist bei den bestehenden Lehrplänen ohne weiteres möglich.

Dr. Berentzen:

Ja, das ist ja nun schon mal eine Aussage!

P. Dr. Meyer-Schene:

Ich muß jetzt hinzufügen, für freie Schulen ohne Weiteres möglich. Wir sind nicht an alle Vorgaben der Rahmenrichtlinien gebunden.

Dr. Berentzen:

Für freie Schulen also ohne weiteres möglich. Und für alle übrigen Schulen?

P. Dr. Meyer-Schene:

Für die, die sich strikt an die Rahmenrichtlinien halten müssen, ist es schwierig, obwohl in der Regel, Herr Keller das müßten Sie beantworten, ein Kursthema in der Kursstufe inhaltlich freigestaltet werden kann. So dass man da die Wirtschaftslehre, wenn sich ein Kollege oder die Fachgruppe dafür entscheidet, einbringen könnte. (Hr. Keller stimmt zu.)

Dr. Berentzen:

Mich würde auch jetzt auch einmal interessieren, wie Schüler das sehen! Sie sitzen ja hier nun auch mit in der Diskussionsrunde und haben sich ja wahrscheinlich auch eine Meinung gebildet. Michael Overesch und Alfons Veer. Wie sehen Sie das?

Michael Overesch:

Ja, dass ein Mangel da ist, das fällt schon auf. Wir hatten letztes Jahr in der zwölften Klasse das Thema Strukturwandel, und da hat man halt dieses spezielle Thema Strukturwandel innerhalb der Wirtschaftslehre abgehandelt, aber die theoretischen Grundlagen hat man in Form einiger Arbeitsblätter bekommen, worauf aber nicht mehr direkt eingegangen wurde, aber es wäre sicherlich in Zukunft möglich, darauf weiter einzugehen innerhalb des Gemeinschaftskundeunterrichts. Aber ein eigenes Fach glaube ich nicht, dass das nötig sein würde. Also innerhalb eines Kurses sicherlich, aber ein ganzes Fach, glaube ich, ist nicht erwünscht.

Herr Keller:

Ich möchte dazu auch noch kurz Stellung nehmen, ich denke, dass es schwierig sein wird, ein neues Fach in der Schule zu plazieren, da wir ja insgesamt eine gewisse Konkurrenz zwischen den Fächern haben. Ich glaube, man kann es im Rahmen der Gemeinschaftskunde unterbringen, um das einmal so salopp zu formulieren. Ich sehe aber ein zweites Problem, wenn ich Ihren Vortrag richtig verstanden habe, und deshalb will ich ein bißchen weg vom Fach Gemeinschaftskunde, denn viele der Ziele, die Sie genannt haben, die lassen sich ja im Grunde genommen im allgemeinen Schulalltag anstreben. Wenn ich also an Begriffe denke wie Leistungsorientierung, Wertorientierung, Teamfähigkeit. Die Verwirklichung dieser Ziele ist insgesamt sicher möglich, wenn man bereit ist, und dass das schwierig ist, das haben eben auch die Ausführungen von P. Dr. Meyer-Schene gezeigt, wenn man bereit ist, das Profil des Gymnasiums zu schärfen. Dann könnte man im Grunde genommen da auch in Ihrem Sinne tätig werden, aber dazu muß man als Schule aber auch den gesellschaftlichen, politischen Rückenwind haben. Das kann man im Grunde genommen von der Schule, so wie sie zur Zeit auch verfaßt oder organisiert ist, nicht erwarten. Das muß von verantwortlicher Stelle angeregt werden!

Dr. Berentzen:

Worauf fuhren Sie es denn zurück, P. Meyer-Schene, dass man sich in Süddeutschland schon seit Jahren mit wirtschaftskundlichen Fächern an Gymnasien befaßt und sie in den Fächerkanon aufgenommen hat, während das hier in Norddeutschland nicht der Fall ist?

P. Dr. Meyer-Schene:

Das hängt im Wesentlichen mit den Vorstellungen über Inhalte zusammen, mit denen Schule gestaltet werden soll. Und diese Inhalte sind in Baden Württemberg und Bayern, diese beiden Länder kenne ich nun ais eigener Erfahrung, diese beiden Länder sind nicht so stark von der Ideologie geprägt, als es hier bei uns in Niedersachsen der Fall ist. Und da liegt ein ganz schwieriges Problem. Ich will Ihnen das mal in einem Witz klarmachen. Ein nicht mit Namen zu nennender Kultusminister hat einmal gesagt, Rechtschreibung ist eine Frage der Muskelkraft. Und wenn Sie, Herr Dr. Berentzen, dann sagen, die Schule soll dahingehend wirken, dass wir wieder schreib- und mathematikfähig usw. werden, kann ich Sie voll unterstützen. Aber wenn man diesen Satz hört, Rechtschreibung ist eine Frage der Muskelkraft, und wenn dann auch entsprechende Erlasse folgen, dass wir die Fehler nicht mehr werten dürfen und nur unter ganz bestimmten Bedingungen usw. dann kommt da eine Grundauffassung über Schule und Inhalte zum Vorschein, die in den verschiedenen Ländern die „Politik” bestimmt. Das sind dann eben die berühmten Ideologien, die uns als Schule manche Dinge unmöglich machen – uns als freie Schule allerdings nicht so gravierend, aber der Schule allgemein doch beträchtlich.

Herr Wöste:

Der Einfluss der Politik kommt in dieser Problematik ja sehr deutlich zum Ausdruck. Weiterführend darf ich einmal hierüber fragen zu den Vertretern der Industrie- und Handelskammer, Herrn Dr. Mammen und Herrn Dr. Scheinpflug. Ich würde Sie gerne in die Diskussionsrunde miteinbeziehen. Welche Notwendigkeiten sehen Sie aus der Sicht der Praxis Ihres Hauses?

Dr. Mammen:

Also dieses Symposium, das gestern stattgefunden hat, und dem ja ein Konzept für ein Fach Wirtschaftslehre zugrundeliegt, ist aus heutiger Sicht sicher schon eine Art Maximalforderung oder Wunsch bzw. eine Art Vision, bildungspolitische Vision, die sicher in der Umsetzung mit einigen Problemen verbunden ist. Wir haben ja gehört, dass die Fächer miteinander konkurrieren, dass es zeitliche Begrenzungen gibt. Hier steht der Wunsch oder die Forderung, die Schulzeit am Gymnasium auf zwölf Jahre zu verkürzen. Das ist ja auch noch nicht ausdiskutiert, es gibt ja Bundesländer, in denen man nach zwölf Jahren das Abitur erwerben kann. Es ist eigentlich nur ein Diskussionsbeitrag, ein bildungspolitischer Diskussionsbeitrag, der dieses Anliegen voranbringen soll. Und ich glaube, auf mittlere Sicht ist es möglich, der Wirtschaftslehre einen festen Platz im Unterricht an Gymnasien einzuräumen, wobei aus meiner Sicht offen bleibt, heute zumindest offen bleibt, ob es ein eigenständiges Fach sein muß oder wie das hier ja auch angeklungen ist, in Form von Themen innerhalb der Rahmenrichtlinien. Für realistischer oder für schneller umsetzbar halte ich, ökonomisch orientierte Themen in den Rahmenrichtlinien unterzubringen. Und das, denke ich, sollte man auch vorrangig anstreben, ohne das andere ganz zu vergessen.

Dr. Scheinpflug:

Ich meine, wenn man sich diese Fragen näher ansieht, dann muß man doch letztlich die Beantwortung vor dem Hintergrund der Notwendigkeiten sehen, vor allem aber auch die Chancen, die man Schülern bietet oder nicht bietet, berücksichtigen. Was ist denn damit erreicht, wenn ich mich heute sperre und sage, ich halte wirtschaftliche Themen nicht für notwendig. Der Fächerkanon, der heute existiert, der ist zwar für die nächsten zehn Jahre auch noch gültig und dabei wird einfach ignoriert, dass die Wirtschaft nicht einfach nur Wünsche hat, sondern Forderungen stellen muß, Anforderungen, die heute eben ganz anders aussehen als vor zehn Jahren. Selbst wenn man also hier der Wirtschaft nicht entgegenkommen wollte, aus welchen Gründen auch immer, was ich allerdings nicht glaube, müßte jedoch auf der anderen Seite das Interesse der Schule und auch der dafür in Frage kommenden Ministerien in den Ländern darauf gerichtet sein, den Schülern ganz reelle Zukunftschancen zu bieten. Und vor dem Hintergrund kann ich mir einfach nur vorstellen, als dass wirtschaftsbezogene Fächer Eingang finden müssen, auch beim Gymnasium.

Dr. Mammen:

Ja, ich würde hier gerne Herrn Dr. Berentzen noch ein bißchen unterstützen. Wir sollten eben nicht vergessen, es handelt sich hier letztendlich nicht um eine akademische Debatte, sondern es geht um die Zukunft. Und es geht um die Zukunft – einmal sicher um die Zukunft der Wirtschaft, aber ganz konkret eben auch um die persönliche Zukunft der Schüler. Deswegen brauchen wir einfach jetzt auch Schritte in die Richtung um das stärkere Einbinden wirtschaftlicher Inhalte zu ermöglichen. Wie, darüber kann man diskutieren, Tatsache ist, wir brauchen diese institutionalisierenden Schritte und zwar bald.

Herr Wöste:

An dieser Stelle würde ich jetzt gerne für das Podium eine kleine Pause machen und Fragen und Anregungen aus dem Publikum zulassen.

Publikum (P. Olav, Schulseelsorger am Gymnasium Leoninum):

Ja, mein Name ist P. Olav, ich arbeite als Schulseelsorger an dieser Schule. Wenn Sie, Herr Dr. Berentzen, ein Fach Wirtschaftslehre fordern, dann würde ich im gleichen Schritt das Fach Christliche Gesellschaftslehre fordern. Ich habe jetzt so ein bißchen den Eindruck, dass unser Auftrag lediglich darin besteht, der Wirtschaft zuzuarbeiten und dass die Werte, die wir zu vermitteln haben, eben innerbetrieblich brauchbar sind. Mir ist jedoch auch klar, dass wir Sie eingeladen haben, für die Wirtschaft zu sprechen. In wie weit erhoffen Sie sich jedoch von Gymnasiastinnen und Gymnasiasten auch eine kritische Distanz zu wirtschaftlichen Entwicklungen? In wie weit ist es für Sie auch wichtig, Leute zu haben, die die Fähigkeit haben, zu sehen, wo es Fehlentwicklungen gibt, wo es Gefahren gibt, die im Zusammenhang mit einer Solidarität eben auch eine weltweite Solidarität im Blick haben?

Dr. Berentzen:

Da ich dem Bund katholischer Unternehmer angehöre, weiß ich, was Sie ansprechen. Das ist ein Thema, das einbezogen werden muß, fraglos. Wenn über Wirtschaft informiert wird, wenn über Grundlagenwissen, insbesondere im Bereich der Volkswirtschaft informiert wird, dann gehört selbstverständlich auch mit dazu, dass man nicht verschweigt, dass es Fehlentwicklungen gibt. Dann gehört aber auch dazu, dass man nicht verschweigt, dass es Fehlentwicklungen bei anders ausgerichteten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen gegeben hat und auch zur Zeit noch in einigen Ländern gibt. Man muß dann also die Parallelen aufzeigen und dem Schüler deutlich zu machen versuchen, dass ein System, sagen wir einmal ein System der sozialen Marktwirtschaft, eher Bestand haben kann vor christlicher Verantwortung, als ein System der gelenkten Wirtschaft. Wir kommen dann zwangsläufig zu der Frage der Vergleichbarkeit. Ich habe als Vorsitzender des Schul-Elternrates des Kreisgymnasiums St. Ursula in Haselünne auch in Diskussionen mit Eltern vor vielen Jahren mich mit dieser Frage auseinandersetzen müssen. Kann es denn eigentlich angehen, dass über das System Kommunismus ja in aller epischer Breite gelehrt wird und dieses Thema ausdiskutiert wird, wo hingegen die Entwicklungen auf dem Sektor der sozialen Marktwirtschaft entweder verkümmert oder aber gar nicht deutlich gemacht, bzw. diesen Fehlentwicklungen auf kommunistischem Sektor gegenübergestellt würden. Ich weiß, dass wir damit ein schwieriges Thema ansprechen, das allein mindestens abendfüllend sein müßte, aber wenn Sie so fragen, wenn Sie mich fragen, wenn wir als Vertreter der Wirtschaft nun fordern, oder den dringenden Wunsch haben, dass wirtschaftliche Fächer stärker Eingang finden in den Fächerkanon eines Gymnasiums, dann gehört mit dazu, dass man Fehlentwicklungen, die es zweifellos auch gibt, deutlich macht im Rahmen dieses Unterrichts.

Dr. Mammen:

Ja, ich möchte gerne das Stichwort „verwertbares Wissen” aufgreifen, weil das häufig in diesen Diskussionen so einen Scheideweg darstellt. Ich hoffe, es ist nicht der Eindruck entstanden, dass die Wünsche der Wirtschaft an das allgemeinbildende Schulwesen oder insbesondere an das Gymnasium darauf hinauslaufen, dass es hier darum geht, sozusagen unmittelbar verwertbares Wissen abzuliefern, praktisch fertige Leute an die Wirtschaft abzuliefern. Das kann deshalb schon nicht der Fall sein, weil wir über das, was verwertbar, oder was sozusagen Selbstzweck des Lernens ist, grundsätzlich neu nachdenken müssen und auch den Begriff von Kenntnissen, Fertigkeiten, von Befähigung neu definieren müssen. Wir stellen fest, dass die technologischen Veränderungen in den letzten Jahren dazu geführt haben, dass berufliches Fachwissen innerhalb von fünf Jahren die Hälfte an Bedeutung verliert, also die Halbwertzeit des beruflichen Fachwissens beträgt fünf Jahre. Sie kennen diesen Begriff aus der Physik und das bedeutet, dass wir heute gar nicht die Leute brauchen, die das Fachwissen haben, sondern die Leute, die die Befähigung haben, dieses Fachwissen ständig zu erneuern. Einmal das Neue dazuzulernen und das Alte wieder zu vergessen, damit der Kopf auch noch wieder frei wird. Und in dem Sinne ist heute Berufsausbildung nicht so sehr das Anhäufen von Fakten, sondern es ist mehr und mehr ein Stück Persönlichkeitsentwicklung. Herr Dr. Berentzen hat in seinem Vortrag gesagt, dass Schlüsselqualifikationen eine Rolle spielen. Wir haben hier so eine Untersuchung, die deutlich macht, wie sich die Bedeutung von Schlüsselqualifikationen, von Persönlichkeitsmerkmalen für die berufliche Bildung und für die Befähigung von Mitarbeitern in Betrieben erhöht. Und deshalb ist dieser Wunschkatalog der Wirtschaft nicht so zu verstehen, dass es um verwertbares Wissen geht, sondern es geht um die Bewältigung praktischer Lebensaufgaben. Und Jugendliche, die heute die Schule verlassen, haben ein Berufsleben von dreißig Jahren vor sich, oder vierzig sogar, das geht also von heute bis ins Jahr 2035, und wer weiß wie das da aussieht, aber wir müssen mit den Dingen fertig werden, oder besser gesagt, Sie müssen damit fertig werden! Das Rüstzeug allerdings, das müssen wir Ihnen heute mit in den Tornister tun, darum geht’s!

Alfons Veer:

Also meiner Meinung nach hat Herr Dr. Mammen gerade eine Sache angesprochen, die eigentlich viel wichtiger ist als das, was wir hier die ganze Zeit diskutieren. Das Thema heißt doch „Was erwartet Wirtschaft vom Gymnasium und vom Gymnasiasten?“. Wenn wir jetzt so einen Vortrag an die Eltern oder an die Schüler richten, können wir nicht darüber diskutieren oder nicht nur darüber diskutieren, was jetzt von der Schule verlangt wird, sondern es geht gerade darum, was jetzt von den Schülern und dazu gehören natürlich auch die Eltern, die da mitzubestimmen haben, erwartet wird. Es ist richtig, dass vielleicht ein Fach Wirtschaftslehre oder die Wirtschaftslehre im Gemeinschaftskundeunterricht gefordert wird, nur aus eigener Erfahrung sehe ich wohl, dass das Interesse an rein wirtschaftlichen Fakten eher nicht vorhanden ist bei Schülern. Dagegen wurde das Thema „Berufspraktikum“ in der Diskussion überhaupt noch nicht erwähnt. Dies wäre viel beliebter bei den Schülern, also hier an unserer Schule ist die Initiative von Schülern ausgegangen, dass ein Berufspraktikum eingeführt wurde, und nur mit viel Muhe haben wir es geschafft, überhaupt so etwas durchzusetzen. Also ich würde auch gerne mal einige Schüler, die sitzen jetzt etwas weit hinten, dazu hören, wie die Meinung ist. Ob wirklich der Wunsch da wäre, mehr über die Wirtschaft an sich zu lernen oder nur darum, mehr Sicherheit zu bekommen, um die richtige Berufswahl treffen zu können. Denn, um für mich zu sprechen, ich denke, dass ich keine Angst habe, irgendwann einmal mit der Wirtschaft in Konflikt zu gelangen, nur weil ich in der Schule zu wenig gelernt habe, ich habe eher Angst, dass mir der Beruf nicht das bringt, was ich mir darunter vorstelle.

Publikum (Herr Deeken):

Mein Name ist Deeken, ich bin beschäftigt in der Firma Erwin Müller in Lingen, einem Industriebetrieb mit ca. 600 Mitarbeitern. Wir haben zur Zeit ca. 30 Auszubildende oder Lehrlinge, wie das früher hieß, und möchte ersteinmal zur IHK etwas sagen. Ich bin der Meinung, dass die Vertretung der Wirtschaft, vertreten durch die IHK, auf die Gestaltung dieser Möglichkeiten mehr Einfluß nehmen sollte! Also auch im politischen Rahmen tätig werden sollte, dass die Lehrinhalte in den Schulen präsent sind. Es wäre vielleicht eine Aufgabe, die man etwas stärker in Angriff nehmen sollte.
Das zweite ist, ich weiß nicht, ob an den Gymnasien die notwendigen Fähigkeiten vorhanden sind, diesen Unterricht zu machen. Ich weiß, dass viele Ihrer Kollegen, Anwesende selbstverständlich immer ausgeschlossen, von wirtschaftlichen Dingen nicht viel Ahnung haben. Und wenn man dann mit diesen Kollegen redet, ist man erstaunt, dass sie nicht wissen, dass nicht jede Mark Umsatz auch gleichzeitig eine Mark Gewinn ist.
Was ich aber eigentlich sagen wollte, ist, nach meiner Beobachtung wird sich die Arbeitswelt gravierend ändern. Es wird viel mehr Indianer geben und weniger Häuptlinge, d.h., dass viel mehr Arbeitsplätze, die früher bevorzugt von Akademikern in Anspruch genommen werden konnten, überhaupt nicht mehr existieren werden. Dafür wird die Zahl der Arbeitsplätze mit ungeheurer Qualifikation und Verantwortung, ohne viele Vorgesetzte, zunehmen. Das bedeutet, dass der Anspruch an die Arbeitswelt, an den Arbeitsplatz sich verändern muß. Man muß von vornherein andere Ansprüche, wenn man studiert, an seinen zukünftigen Arbeitsplatz vor Augen haben. Ich kann nicht sagen, ich werde Vorgesetzter oder Chef. Diese Posten sind zu meist vergeben und sehr, sehr rar. Man wird also mehr, was früher sachbearbeitende Tätigkeiten waren, heute allerdings höher qualifiziert, vorfinden als früher. Das haben Sie, Herr Dr. Berentzen, vorhin auch schon mal angedeutet, aber ich wollte das eigentlich in der Klarheit mal deutlich herausarbeiten.

Dr. Mammen:

Ich möchte eine Antwort auf die Einwände von Herrn Veer geben, und zunächst einmal sagen, dass ich es für eine sehr gelungene Idee halte, wenn Sie hier diesen Wunsch durchgesetzt haben, Betriebspraktika zu machen. Ich denke, das ist schon ein kleiner, praktischer Schritt in die richtige Richtung, und dahinter, da liegen dann die bildungspolitischen Schritte, aber man muß ja den ersten tun, um auch die Weiteren machen zu können und eine Wegstrecke zurückzulegen. Ich möchte Ihnen dazu auch noch einige weitere praktische Hinweise geben. Betriebserkundungen, Betriebsbesichtigungen, Unternehmergespräche, Herr Dr. Berentzen hat das gesagt, das sind alles praktische Maßnahmen, um bestimmte Themen, die um uns herum in der Wirtschaft, in der Gesellschaft aktuell sind, hier in die Schule zu tragen. Und ich darf Ihnen dazu auch ein Angebot machen, wir führen regelmäßig an Gymnasien Berufsinformationsgespräche durch. Das ist nämlich gar nicht so einfach. Das Thema Berufswahl, das Sie so in den Vordergrund gestellt haben möchten, das müssen wir jetzt hier nicht vertiefen, aber Sie können hier im Bezirk im Prinzip wählen zwischen 120 verschiedenen Ausbildungsberufen, und da muß man erst mal den richtigen finden, also das ist nichts, was einem morgens plötzlich einfällt, sondern da gibt es Informationsbedarf, Gesprächsbedarf. Ganz konkret können Sie uns da ansprechen und in Anspruch nehmen. Ob wir hier heute Abend jedoch persönliche Berufsberatung leisten können, möchte ich in Frage stellen. Wir führen ferner Gespräche mit Lehrern, Schülern über das Thema Schlüsselqualifikationen durch, beispielsweise im Rahmen schulinterner Lehrerfortbildung, SCHILF, wie das so schön heißt, oder wir haben auch eine eigene Einrichtung dafür, die Arbeitsgemeinschaft Ausbildung und Bildung der norddeutschen Industrie- und Handelskammer, die sich auf diese Fragen spezialisiert hat und in einem großen Unternehmen in Haselünne hat vor einiger Zeit eine Veranstaltung mit Direktoren von Gymnasien stattgefunden. Also nehmen Sie diese Angebote, die da stehen, wahr. Ich mache Sie Ihnen hier bekannt. Das ist sozusagen nur ein praktischer Beitrag zu diesem Thema, nicht ein bildungspolitischer.

Herr Wöste:

Ich danke Ihnen für diese Klarstellung. Wir werden auf das Thema Berufswahl sicherlich noch zu einem geeigneten Zeitpunkt zurückkommen. Ich würde jetzt ganz gerne den Bereich wechseln. Herr Dr. Berentzen hat den Aspekt „Wunschprofil der Wirtschaft“ in die Diskussion eingebracht. Dieses Wunschprofil wurde sicherlich aufgrund bisheriger Erfahrungen mit Abiturienten erstellt. Ich würde nun gerne von Herrn Dr. Scheinpflug, der ja für den Bereich Betriebsbildung zuständig ist, wissen, auf welche konkreten Erfahrungen Bezug genommen wurde? In welchen Bereichen möglicherweise Defizite festgestellt wurden?

Dr. Scheinpflug:

Ja, also es gibt natürlich ganz handfeste Defizite, greifbare Beispiele, die man jetzt aufzählen könnte. Ich denke, das ist gar nicht so sehr gefragt. Dass im Einzelfall über gravierende Rechtschreibprobleme geklagt wird, ist die eine Sache, aber wie gesagt, das sind Einzelbeispiele tatsächlich, um diese Frage vielleicht ein bißchen anders aufzugreifen, kommt es letztlich auf die unterschiedlichen Kompetenzen an, die gefördert werden sollen. Das ist ja auch schon im Vortrag von Herr Dr. Berentzen durchgeklungen, dass wir eigentlich diesen Dreiklang brauchen, dass wir den Dreiklang brauchen von fachlichen Kompetenzen, von persönlichen und von sozialen Kompetenzen. Wenn wir uns hier in diesem Mix letztendlich dann stärker präsentieren, wenn wir hier auf die Bedürfnisse eingehen, die halt dann eben gestellt werden. Auf der fachlichen Seite waren das unter anderem eben die Kernfächer, die Herr Dr. Berentzen angesprochen hatte, das waren Deutsch, Mathematik, Fremdsprache, künstlerisch-musisches Fach und ein naturwissenschaftliches Fach. Auf der Seite der sozialen Kompetenzen war ganz wichtig auch dieser Punkt, der hier schon des öfteren durchklang, die Frage der Teamfähigkeit. Es gibt Untersuchungen, ich hab jetzt hier mal zufällig geblättert, von der Ruhruniversität Bochum, die bei ungefähr 1.500 Betrieben eine Umfrage gestartet haben, über die Bedeutung von Teamarbeit im Maschinenbau bei Fertigung und Montage. Und da stellte sich raus, dass innerhalb von wenigen Jahren der Anteil an Teamarbeit von 30% auf 66% angeklettert ist. Teamarbeit ist ganz bestimmt einer der Dinge, die halt stärker gefördert werden müssen auch im Bereich des Schulischen. Ich denk mir hier ist dann z.T. auch eine Lernorganisation von Nöten. Also wir sollten uns – glaube ich – auch hier auf diesen Punkt relativ stark konzentrieren. Zusätzlich halt dann diese Dinge, der dritte Schritt, der auch schon mal angesprochen worden ist, eben dann halt die persönlichen Kompetenzen. Und hier müssen wir dann auch wieder klarmachen, dass ein Wort wie Leistung auch nicht unbedingt etwas Schädliches oder Schmutziges ist. Leistung soll ja letztendlich die Basis von Chancengleichheit dann fördern, und das ist genau der Punkt, den wir – glaube ich – auch wieder stärker beachten müssen. Wir müssen hier auch wieder Möglichkeiten einfach hereinbringen, wodurch die Schüler gefördert werden können, sowohl leistungsstarke Schüler wie auch wieder leistungsschwächere Schüler. Und um das Ganze dann noch mal halt zusammenzufassen, eben der Mix der drei Komponenten. Das ist das, wo wir von der Wirtschaft letztendlich dann die Ansatzstelle sehen.

Herr Keller:

Nur eine Bemerkung dazu, also ich kann das wohl nachvollziehen und teile auch die Wünsche, denn ich denke, wir Lehrer hätten auch nichts dagegen, wenn die Schüler höflich und leistungsorientiert wären. Ich rede hier ganz allgemein als Lehrer und nicht als Fachobmann für Geschichte und Gemeinschaftskunde, wir brauchen natürlich auch die Eltern. Wir bekommen ja doch verstärkt Schüler an das Gymnasium, die gerade in diesen Bereichen, was das soziale Verhalten angeht, große Defizite mitbringen, so dass wir, das ist meine Sicht der Dinge, auch nur bedingt oder beschränkte Möglichkeiten haben, eine Kurskorrektur vorzunehmen. Es geht wirklich nur dann, wenn man halt auch die Unterstützung der Eltern hat. Im konkreten Fall kann man diese Unterstützung auch bekommen, man muß als Lehrer dann auch den Mut haben und die Dinge beim Namen nennen. Und wir müssen einfach weg von so einer Käseglocke, die wir also über alles stülpen und damit auch die Probleme unter den Tisch kehren. Ich denke, dass da also auch bei den Lehrern und in den Schulen ein Umdenkungsprozeß stattfinden muß.
Wenn im Weiteren Teamfähigkeit als Kompetenz gefordert wurde, dann kann ich das persönlich nur sehr stark unterstützen. Zu diesem Begriff Teamarbeit aber vielleicht noch eine kurze Bemerkung: Wenn man Gruppenarbeit macht, leidet oft allerdings darunter der Unterrichtsfortschritt sehr stark. D.h, wir kommen in eine Zwickmühle, wir stehen unter einem relativ starken Druck, den Stoff durchzubekommen, und müssen andererseits dieses soziale Verhalten einüben. das ist für uns Lehrer eine schwierige Aufgabe, und da muß man also wirklich den Lehrern Rückendeckung geben. Auch durch Fortbildungsmaßnahmen von verschiedener Seite, dieses eben gemachte Angebot finde ich sehr interessant
Ich will die Diskussion jetzt zwar nicht mit meiner persönlichen Frage bestimmen, aber ich möchte von Ihrer Seite auch einmal konkretere Angaben haben, wie hoch denn der Anteil der benötigten Abiturienten Ihrer Meinung nach pro Jahrgang ist, denn das ist vielleicht eine ganz unbequeme Wahrheit, der wir uns stellen müßten. Und zweitens würde ich ganz gerne wissen, welche Fächer Sie denn in der Schule kürzen würden?

Dr. Berentzen:

Ich würde diese Frage gerne weitergeben an die Schüler. Bei welchen Fächern würden Sie denn gerne Kürzungen sehen? Frag ich mal nach drüben, da sitzen ja die Schüler. Wahrscheinlich je nach Begabung und Liebe zu verschiedenen Fächern sehr unterschiedlich. Aber lassen wir mal den Scherz. Die Frage, wo wir Kürzungen vorschlagen oder Kurzungen sehen, muß ich sagen, ist ja hier für uns, die wir nicht in der Schulpraxis stehen, außerordentlich schwer zu beantworten. Ich würde schon fast sagen, man oder Sie würden der Auffassung sein, dass wir überheblich sind, wenn wir dazu Stellung nähmen. Sie haben ja auch eine klare Vorstellung, gerade eine klare Vorstellung von dem, auf welchen Gebieten Schülern unbedingt Wissen vermittelt werden muß, damit sie über eine breite Grundlage verfügen, die sie eben auch befähigt, zu studieren, im Anschluß an das Abitur. Das muß sicherlich auch weiterhin gefordert werden. Eine breite Allgemeinbildung, daran liegt ja auch der Wirtschaft sehr. Und diese breite Allgemeinbildung eben so verstanden, dass sie zum Studium befähigt, sollte auch weiterhin Ziel sein und sollte auch, meine ich, im Vordergrund der Ziele des Gymnasiums stehen. Ich kann also überhaupt gar nicht sagen, man müßte schon mal einen Blick darauf werfen können, auf die Stundentafel und wissen, wie viele Stunden entfallen auf welche Fächer, Geographie, Geschichte, Fremdsprachen etc., um irgendwie vielleicht dann den Vorschlag zu machen, Es ist ja vielleicht möglich, auf eine Stunde in einem bestimmten Fach zu verzichten, zu Gunsten eines Faches Wirtschaftslehre, Sie überfordern uns mit dieser Frage etwas, wenn wir nicht ganz genau wissen, wie gesagt, wie viele Stunden auf welche Fächer entfallen. Und da müßte man mal eben stärker ins Visier nehmen die Mittelstufe und die Oberstufe, d.h. also die Sekundarstufen I und II. Wir möchten, und ich meine, das ist ja aus der Diskussion deutlich geworden und aus dem, was ich hier ausgeführt habe, wir möchten den Blick der Schüler und auch der Schüler dafür schärfen, dass die wirtschaftsbezogenen Fächer und das Wissen auf diesem Sektor immer wichtiger und immer bedeutender wird, auch fast unabhängig davon, welches Studium sie später ergreifen oder ob sie eine Ausbildung im dualen System dann im Anschluß an die Schule, im Anschluß an das Abitur hinter sich bringen wollen. Und es gehört, so meine ich, einfach auch zur Allgemeinbildung, über Wirtschaft etwas zu wissen. Denn sie lesen täglich in den Zeitungen von Problemen, die es gibt von Unternehmen mit Betrieben, dass also dieser oder jener Konkurs angemeldet hat, oder versucht, einen Vergleich zustande zu bringen, dass also die Situation in manchen Branchen weniger erfreulich aussieht, als in anderen, dass es einen Konjunkturaufschwung gibt, dass es hier und da auch Gott sei Dank jetzt schon wieder, wenn auch nur zarte Andeutungen für einen neuen Wiederaufschwung gibt. Warum ist das alles so? Wie sind da die ursächlichen Zusammenhänge? Warum senkt die Bundesbank den Diskontsatz oder hebt ihn an? Was steht dahinter? Was erreicht man damit? Wie wird denn letztendlich die Wirtschaft belastet, wenn der Diskontsatz von sagen wir einmal 4% auf 5% steigt? Wie prägt sich das aus von den Zinsen, die dann die Geschäftsbanken fordern? Das sind ja alles Fragen, die einem nicht gleichgültig sein können, wenn man später einen anderen Beruf ergreift, als einen wirtschaftsbezogenen. Ich nehme an, dass Sie da auch mit mir übereinstimmen. Wir leben ja in einer Welt, die im Grunde ja für jeden Menschen ein gewisses Minimalwissen sag ich mal erfordert, Und da sollte, finde ich, ein Absolvent einer höheren Schule, eines Gymnasiums nicht über ein Minimalwissen verfügen, sondern über ein Wissen, das im Rahmen eines breit fundierten Allgemeinwissens seinen Platz hat.
Dr. Mammen, ich darf vielleicht noch einmal kurz den ersten Aspekt, den Herr Keller genannt hat, die Frage nach dem Bedarf stellen. Vielleicht verfügen Sie über Zahlen!

Dr. Mammen:

Ja, das ist ja eine ganz heikle Frage und da erwarten Sie eine konkrete Zahl von mir? Ja, da kann ich nur mit Friedrich Dürrenmatt antworten, der gesagt hat „Je mehr man plant, desto härter trifft einen der Zufall!“ Also, es geht auch gar nicht darum, eine konkrete Zahl festzulegen, sondern es geht einfach darum, dass Sie mit diesen Gedanken, die Sie hier angesprochen haben, in die Lage versetzt werden, Optionen offen zu halten. Also nicht sich sozusagen frühzeitig festzulegen, wie das ja bei meinen Kindern z.B. der Fall ist, als sie 6 Jahre alt waren und mal eine Straßenbahn gesehen haben, da wollten die Straßenbahnfahrer werden. Und wenn man das so durchhält und dann mit 65 Jahren als Straßenbahnfahrer in den Ruhestand geht, das wäre ja vielleicht nicht schlecht, aber so läuft das Berufsleben heute ja nicht, sondern es ist viel zu lang, um sozusagen eine gerade Linie zu sein, in den meisten Fällen nicht, und deshalb braucht man auf den Stationen seines Schul- und Berufslebens Optionen, Und hier ist es eine Option, die angesprochen worden ist, Studium oder Beruf, oder Beruf und Studium, oder Beruf und Weiterbildung. Und ich denke, eins ist da auch wichtig, der aufrechte Mensch beginnt nicht erst mit dem Hochschulabschluß, sondern es gibt viele, viele gestandene Leute, die eine praktische Ausbildung gemacht haben, und ich persönlich kenne viele, die sehr große Entbehrungen gemacht haben, über Jahre mehrfach in der Woche 100 km von Twist nach Osnabrück gefahren sind und im Schichtdienst gearbeitet haben, um eine Qualifikation als Meister zu erwerben und heute in Führungspositionen, in technischen Führungspositionen tätig sind. Und das ist durchaus ein erstrebenswerter beruflicher Werdegang. Und das sollte man einfach im Auge behalten, man sollte nicht sozusagen 120 Ausbildungsberufe einfach links liegenlassen und sich nicht drum kümmern, sondern sich nur auf das Philosophiestudium schauen, und darum geht es. Man muß Optionen offen haben, und ich denke, das ist ein ganz wichtiger Punkt gerade in Zeiten, in denen sich so ein rascher Wandel in der Wirtschaft und in der Gesellschaft vollzieht.

Herr Wöste:

Ja, danke schön. Ich glaube, jetzt ist wieder der Zeitpunkt gekommen, Anmerkungen aus dem Publikum aufzugreifen?

Publikum:

Ich möchte gerne auf die Frage von Herr Keller zurückkommen, der sagte, was für ein Fach kann man denn streichen, um das Fach Wirtschaftslehre einzufahren. So wie ich höre und weiß von vielen Schülern, so ist das Fach Latein hier an dieser Schule nicht unbedingt gern gesehen. Ist es nicht möglich, das Fach Latein gegen das Fach Wirtschaftslehre einzutauschen?

P. Dr. Meyer-Schene:

Ich will die Frage gerne aufnehmen. Zunächst muß ich sagen, dass das Fach Latein bis ins Abitur mit Leistungskursen und Grundkursen durchläuft. Austauschen würde ich es sowieso nicht. Ich habe hier an der Schule vor vielen Jahren in langen Diskussionen durchsetzen können, und setze es bis heute durch, dass Latein für alle Schüler unserer Schule ab Klasse 7 verbindlich bleibt. Wenn es stimmt, dass wir unsere Traditionen und uns selbst, nur erklären können aus dem europäischen Humanismus, wie er sich entwickelt hat, dann wäre Verzicht auf Latein ein Stück Verlust von Bildung. Aber ich will den Punkt, ich glaube er war bewußt provokativ, auch noch weiterfahren Ich stehe schon lange auf dem Standpunkt, dass ein gezielter Kurs Wirtschaftslehre in die Schule gehört. Ich bin mir derzeit nicht im Klaren, ob er in den Sekundarbereich I oder II hineingehört. Ich habe selbst im Sekundarbereich eins zu meiner Zeit, als ich vor 25 Jahren an anderen Schulen war, das Fach Wirtschaftslehre gegeben, sowohl in der Oberstufe als auch in der Sek I. Es ist machbar, es sind auch gute Unterrichtsmaterialien da und ich kann hier nur sagen, wir werden ganz sicher die Problematik Wirtschaftslehre in der Fachkonferenz ernsthaft beraten, wie wir esein Stück umsetzen können. Und Herr Dr. Berentzen hat die Zusammenarbeit angeboten, ich komme dann bestimmt auf ihn zurück.

Publikum:

Bevor die Tradition jetzt Opfer der Wirtschaft wird, habe ich nur ganz kurz einmal anzumerken, dass natürlich auch an allen öffentlichen Schulen Rahmenrichtlinien gelten wie für diese Schule, und wir im 11. Schuljahr immer das Thema „Strukturwandel“ haben, da spielt Wirtschaft doch eine große Rolle. Es wird so praktisch als Einführungskurs zu betrachten sein. Dann darüber hinaus, wenn wir über das Thema „Europa“ sprechen, geht es natürlich auch um die Wirtschaft in Europa, und das setzt sich im Kurssystem eigentlich fort. Es ist richtig, dass sich hier natürlich auch immer ausmachen lässt, wie engagiert und wie interessiert der einzelne Gemeinschaftskundelehrer ist, aber in der Regel kann ich auch über Entwicklungspolitik nicht mit Schülern reden, wenn vorher nicht grundlegende Kenntnisse, auch was Wirtschaft betrifft, vorhanden sind. Und nun würde ich ganz gerne auf die Schlüsselqualifikationen zurückkommen, und wollte die Herren der Wirtschaft fragen, ob es für Sie eine Möglichkeit darstellt, dass gerade die Kompetenzen im persönlichen Bereich und auch die sozialen Kompetenzen, die Sie ja auch für so wünschenswert halten, ob das nicht durch ein Praktikum im Kurssystem, ein Betriebs- oder Berufspraktikum aufgefangen bzw. geschärft werden können und hier Kompetenzen verstärkt vermittelbar sind,

Dr. Scheinpflug:

Es stellt sich hier natürlich die Frage, ob ein Betriebspraktikum, das ja in der Regel nur drei oder vier Wochen dauert, genügend lange dauert, um sich auf diesem wichtigen Gebiet Qualifikationen zu erwerben. Ob es überhaupt in einem so kurzem Zeitraum möglich ist, für einen so wichtigen persönlichen Bereich Qualifikationen zu erwerben. Man kann Kenntnisse erwerben auf, sagen wir einmal fachlichem Gebiet, man kann also vielleicht mit bestimmten Teilbereichen im Rechnungswesen sich etwas näher anfreunden, aber Schlüsselqualifikationen im sozialen Bereich, innerhalb einer so kurzen Zeit vertieft zu erfahren und zu erwerben, halte ich vielleicht für doch nicht ganz so leicht. Zumindest kann man aber den Versuch machen! Ich wurde ja dann doch sagen, man stelle den Versuch an, einfach im Zusammenhang und in Parallele zu dem Erwerb von Qualifikationen oder von Kenntnissen im praktischen Bereich, je nach dem, wo der betreffende Schüler eingesetzt wird in den betreffenden Unternehmen. Das kann also in der Verwaltung sein, das kann im Betrieb sein, das kann in der Technik irgendwo sein, auch je nach Interesse des betreffenden Schülers. Dass man also versucht, diese beiden Bereiche, Aneignung von Wissen oder aber zumindest die Möglichkeit, innerhalb einer relativ kurzen Zeit, einen Eindruck von den zu gewinnen, was auf dem entsprechenden technischen oder kaufmännischem Bereich geboten wird, mit nach Hause zu nehmen und parallel auch eben dazu seine soziale Kompetenz irgendwie zu verstärken, indem dann auch schon mal der Versuch gemacht wird, den Betreffenden in eine Aktion mit einzubinden, soweit das möglich ist, aber wie weit das in Unternehmen schon praktisch versucht worden ist, das kann ich nicht sagen, aber ich glaube, dass wir hier erst, zumindest was die Gymnasien betrifft, am Beginn einer Entwicklung stehen.

Herr Wöste:

Verzeihen Sie, wenn ich mich hier einmal inhaltlich dazwischendränge. Ich glaube, wir müssen hier zurechtrücken, dass in Schulen natürlich auch immer schon Schlüsselqualifikationen vermittelt wurden, ob das jedoch immer gerade die waren oder sind, die die Wirtschaft so häufig anmahnt, darf aus Sicht der Wirtschaft sicher legitimerweise in Frage gestellt werden. Aber für uns als christlich geprägte Schule ist z.B. auch das Bemühen um soziale Gerechtigkeit von wesentlicher Bedeutung.

Dr. Mammen:

Ich möchte an dieser Stelle noch auf ein Problem aufmerksam machen, das sich in den letzten Jahren gerade in den berufsbildenden Schulen gezeigt hat. Es gibt in der beruflichen Bildung seit etwa zehn Jahren neue und wirklich gute Lehr- und Lernmethoden, die gerade das Teamarbeiten in den Vordergrund stellen, das selbständige Arbeiten, Verantwortung übernehmen und dergleichen mehr. Aber man muss auch immer sehen, dass wir uns noch so sehr mit Teamarbeit auseinandersetzen können, am Ende schreibt jeder seine Arbeit wieder allein, in jeder Prüfung. Dann ist es nämlich wieder vorbei mit der Teamarbeit und mit deren Bewertung. Zweifelsohne müssen wir über neue Unterrichtsorganisationen nachdenken, da gibt es allerdings keine Patentrezepte, auch das ist ein Prozeß, der uns in die Lage versetzt, gerade diese Befähigung, die für so wichtig gehalten wird, auch richtig zu bewerten und ins rechte Licht zu rücken, d.h. zur Zeit arbeiten wir also mit alten Prüfungsmethoden und zum Teil mit neuen Lernmethoden, wir sind sozusagen auf halbem Wege in eine neue Richtung, aber noch längst nicht am Ende.

Publikum (Herr Deeken):

Ich komme zurück auf das, was Sie gesagt haben, Herr Dr. Berentzen. Unabhängig von Ihren Bemühungen biete ich es an, dass Sie zu uns kommen, sowohl Ihre Kollegen, als auch Ihre Schüler, um im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten, die Sie haben, das auszuprobieren bei uns. Wir können nicht alle nehmen selbstverständlich, aber einige sicher, und wenn Sie als Lehrer Lust haben, z.B. 14 Tage in unserem Betrieb zu verbringen in irgendeiner beliebigen Abteilung, so bieten wir das an. Wir haben das des häufigeren schon geübt mit den kaufmännischen Berufsschulen in Lingen, also wäre es für uns nichts Neues. Ich weiss, dass Sie arbeitsrechtliche Probleme berücksichtigen müssen. Wir bieten das an, auch Ihren Schülern, was zu tun, wir erwarten allerdings eins von den Schülern, dass sie wollen, nicht dass sie schon was können, sondern dass sie das wollen, also bereit sind, etwas auf sich zu nehmen. Das kann alles mögliche sein, das weiss man vorher nicht. Aber sie sollen davon getragen sein, dass sie das, was sie da bei uns tun auch wollen. Also es geht um eine von diesen charakterlichen Übungen, die wir eben schon einmal angefragt hatten. Also ich biete das an. Darf ich noch einmal fragen, ich habe das nie verstanden und ich werde es auch wohl nie lernen, warum das Kurssystem so viel besser ist als der Klassenverband? Im Kurssystem wird doch gerade die Konkurrenz sehr gefördert und das Gemeinschaftstun wenig, soweit ich das verstanden hab von meinen Kindern. Die sind also durch dieses System durch und ich frage mich, ist dieses Kurssystem aus Ihren Augen ein geeignetes Instrument, um dieses Team im Beruf zu fördern? Danke.

P. Dr. Meyer-Schene:

Zu dieser letzten Frage gleich direkt die Antwort, Warum das Kurssystem besser sein soll als das Klassensystem würde ich so vielleicht gar nicht beantworten können. Aber das Klassensystem hatte als soziales Gefüge sicher einen Zusammenhalt unter den Schülern, aber sicher auch einen so fest gefügten Fächerkanon, dass ein Schüler mit einer sechs scheitern konnte in der Schule und nie, wirklich nie mehr weiter konnte. Griechisch sechs, kein Abitur, das sind Fakten gewesen. Und im Kurssystem hat man gesagt, man will den Schülern, die einseitiger begabt sind, sei es sprachlich oder mathematisch- naturwissenschaftlich, durch Wahl von Fächern nach Neigung Möglichkeiten eröffnen, zu qualifizierten Abschlüssen zu kommen. Die beiden Dinge muss man gegeneinander abwägen, dann würde ich sagen, wenn man in der Lage gewesen wäre, mit vernünftigen Erlassregelungen dem Klassensystem die Härten zu nehmen, dann wäre auch ein anderer Weg möglich gewesen, ohne in das heutige Kurssystem hinein zu gehen.

Publikum (P. Olav):

Ja, ich möchte die Gelegenheit einmal nutzen und würde die Fragen gerne einmal umzudrehen. Nicht „Was erwartet die Wirtschaft vom Gymnasiasten?, sondern „Was erwartet der Gymnasiast von der Wirtschaft?“ Alfons und Michael, habt Ihr da Ideen?

Alfons Veer:

Ja, danke, dass wir zu Wort kommen können. Also ich weiss nicht, ob ich mich eben klar genug ausgedrückt habe, aber der Gymnasiast erwartet erst einmal von dieser Diskussion, dass er nicht nach Hause geht und sagt, die Lehrer haben darüber diskutiert, sollen wir dieses Fach einführen? Das hätte auch im kleinen Kreis gemacht werden können, und zwar mit ein paar Zuhörer und sehen, wie so eine Diskussion abläuft. Schüler wollen erst einmal etwas Handfestes haben, deshalb wurde man sich als Schüler sicherlich wünschen, konkrete Hinweise, Ratschläge, was kann ich tun, um der Wirtschaft gerecht zu werden? Es ist jedem Schüler, der hier hingekommen ist, heute Abend sicherlich klar, dass er besser zurechtkommt, wenn er viel lernt, dass er besser zurechtkommt, wenn er Lehrer respektiert, wenn er sich angemessen verhält. Es ist auch jedem klar, dass heute Abend darüber geredet wird, dass Wirtschaft im Unterricht mehr Anteil haben soll. Das ist für mich jetzt rausgekommen, nur was der einzelne Schüler dazu beitragen kann, da hab ich bis jetzt noch keine Antwort drauf bekommen.

Dr. Scheinpflug:

Ich möchte auf Ihren Einwand sofort eingehen. Was Herr Doktor Mammen vorhin gesagt hatte, war einer der Schlüsselsätze, dass es nämlich darum geht, dass Sie als Schüler sich für Ihre berufliche Zukunft alle Optionen offenhalten. Dass Sie nicht schon heute und sofort sagen, ich will jetzt unbedingt Jura studieren, egal ob ich dafür geeignet bin oder wie das eben auch bei Herrn Deeken anklang, „Ich will Chef werden.“ Das ist heute nicht mehr! Könnte sein, dass Sie dann irgendwann das Glück haben, muss aber nicht so sein. Wichtig ist für Sie heute Abend hier, dass Sie alle Optionen der beruflichen Bildung, das ist der Rat von uns, in Betracht ziehen, wo da Ihre Fähigkeiten tatsächlich konkret eingebracht werden können, wo Sie sich wohl fühlen, wo es dann eben auch Möglichkeiten gibt, vielleicht an irgendeiner anderen Stelle Karriere zu machen. Das ist der konkrete Tip, den man dabei herausholen kann. Sie können doch nicht allen Ernstes erwarten , dass wir Ihnen heute Abend sagen, gehen Sie in diese und jene konkrete Brennerei, da werden Sie ihr Glück machen, machen Sie dieses oder jenes Studium, wählen Sie diesen oder jenen Kurs ab, das können wir nicht, diese Verantwortung können und wollen wir Ihnen nicht abnehmen. Wir können Sie nur darauf hinweisen, dass sie sich die Optionen offenhalten sollten, und dass Sie sich eben auch an diesem Ziel gemessen an Ihren schulischen Leistungen orientieren sollten.

Dr. Berentzen:

Ich möchte in Ergänzung zu dem, was Herr Scheinpflug gesagt hat, noch sagen, dass es ja doch ein großes Bündel von Chancen ist, das sich den Schülern und Schülerinnen eröffnet. Sie müssen zunächst einmal wirklich davon ausgehen, dass es wirklich auch eine ganze Reihe von sehr interessanten und auch neuen Berufen gibt. Man ist damit z.Zt. auch befasst, neue Berufsbilder zu schaffen. Wenn sie dann fertig sind, können wir damit die Wirtschaft für Sie noch attraktiver machen. Zudem steht es ja um die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen oft gar nicht so schlecht. Ich habe ja vorhin auch gesagt, vor etwa 10 bis 12 Jahren 7% eines Jahrgangs an Gymnasiasten sich um einen Ausbildungsplatz bemühten, dass dieser prozentuale Anteil heute 20 bis 21% beträgt, sich also innerhalb von gut 10 Jahren verdreifacht hat. Dies macht doch deutlich, dass wir, d.h. die Wirtschaft, für den Gymnasiasten zunehmend interessanter werden. Es ist also ja nicht so, als würden sie sich fragen müssen, was kann ich denn da machen? Damit haben sich offensichtlich vorher eine ganze Reihe von Gymnasiasten schon mit Erfolg auseinandergesetzt. Ich möchte in diesem Zusammenhang aber auch noch einmal darauf hinweisen, dass wir demjenigen, der weder das eine noch das andere eigentlich lassen möchte, sicher die wirklich sehr gute, reale Chance in Lingen bieten, natürlich in Abstimmung mit einem Unternehmen, bei dem ein Lehrvertrag dann abzuschließen ist bzw. mit dem ein Lehrvertrag dann abzuschließen ist, dann die Berufsakademie zu besuchen. Eine Chance, die auf jeden Fall zumindest von Ihnen geprüft werden sollte, für den Fall, dass Sie ernsthaft den Wunsch haben, direkt vom Gymnasium, also nach dem Abitur einen praktischen Beruf zu ergreifen, eine Lehre im dualen System, eine Ausbildung im dualen System hinter sich zu bringen. Und die Forderungen, die Sie da an die Wirtschaft stellen oder die Sie an den Ausbildungsbetrieb stellen, da würde ich einmal sagen, die stellen Sie am Besten bis dahin zurück. Die Möglichkeiten, die sich in Ausbildungsbetrieben bieten, sind sehr unterschiedlich und vielfältig. Je nach dem einmal, ich will nicht unbedingt sagen, dass das unbedingt branchenspezifisch anders ist, aber es ist eine Frage auch der Betriebsgröße und des Standorts und auch der Neigungen, die Sie selbst für eine bestimmte Fachrichtung, für einen Beruf einbringen. Außerdem spielt natürlich auch in jedem Betrieb die menschliche Komponente, das ist ja auch nicht zu kurz gekommen im Rahmen dieser Diskussion, eine große Rolle. Sie müssen sich irgendwie auch als Auszubildende wohl fühlen, auch getragen fühlen von der Betriebsgemeinschaft, mitgefördert fühlen, menschlich wie eben auch mit der Absicht Sie fachlich auf den Punkt zu bringen und Sie dahinzubringen, dass Sie eines Tages auch Ihre kaufmännische Prüfung oder Ihre Gehilfenprüfung ablegen können. Das, was die Wirtschaft Ihnen bietet ist vielfältig interessant und auch von den Chancen her durchaus nicht zu verachten, so will ich mich einmal ausdrucken. Ich möchte doch einmal auch darauf aufmerksam machen, aufbauen auf einen normalen, völlig normalen Abschluß dadurch können Sie sich dann weiter qualifizieren, das nennt man dann eher Fortbildung als Weiterbildung, fortbilden können Sie sich z.B. im Falle also eines Industriekaufmannes zum Industriefachwirt, im Falle eines Handelskaufmannes zum Handelsfachwirt, Bankfachwirt etc., sehr interessante Chancen, die wirklich eine nähere Betrachtung verdienen. Vielleicht finden Sie auch einmal Eingang in einer Diskussion, die Sie führen mit Vertretern der Wirtschaft hier am Gymnasium, da lässt sich das dann anhand konkreter Beispiele noch etwas mehr verdeutlichen, als man das hier so jetzt in dieser Abendstunde versucht noch einmal wieder zu rekapitulieren.

Herr Keller:

Ich glaube das, was eben Herr Dr. Berentzen gesagt hat steht ja außer Frage. Die Frage des Schülers Alfons Veer habe ich aber auch so verstanden, dass da ein gewisses Unbehagen ist und dieses Unbehagen empfinde ich auch, wenn ich mir die Beiträge der Vertreter der Wirtschaft noch einmal so in Erinnerung rufe. Im Grunde genommen scheut man sich vielleicht unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Das wird in der Formulierung „Option offenhalten“ nach meiner Einschätzung sehr deutlich. Wenn man das nämlich interpretiert, heißt das ja eigentlich, man muss eventuell auch die Erwartungshaltung auf Seiten des Gymnasiasten senken, wenn Herr Deeken sagt, in Zukunft gibt es viele Indianer und weniger Häuptlinge, dann heißt das im Grunde genommen, man muss die Optionen offenhalten, das ist eine schöne Formulierung, aber man muss auch damit rechnen, dass man Bildungsangebote annimmt eventuell, die bislang nicht so in der Erwartungshaltung des Schülers an erster Stelle standen. Das ist eventuell vielleicht auch ein Grund, warum von Schülerseite hier ein gewisses Unbehagen über unser Gespräch vorhanden ist. So würde ich das mal sehen und das können wir Lehrer im Grunde genommen schlecht formulieren, das müßte dann schon von Seiten der Wirtschaft, das muss nicht heute Abend sein, aber dann doch klarer ausgesprochen werden.

Dr. Berentzen:

Ja, also ich muss ehrlich sagen, dass mir das nicht klar ist, was Sie mit diesem Unbehagen meinen. Die wachsende Zahl von Interessenten für praktische Berufe zeigt meines Erachtens, dass man dann mit dem Unbehagen, wenn es denn eins gibt, gut fertig wird. Man hat ja die Möglichkeit, sich rechtzeitig einmal zu informieren und sich im Land umzusehen, wo gibt es Möglichkeiten der Ausbildung, was ist denn eigentlich meine Idee als junger Mensch, wofür habe ich eine Neigung, möchte ich in einen Handelsbetrieb gehen, bewerbe ich mich vielleicht bei der Kreissparkasse? Das Unbehagen – könnte ich verstehen – wäre dann groß, wenn man also einen Lehrvertrag abschließt mit einem Betrieb, dessen Inhaber man weder kennt noch den Mitarbeiter, mit dem man es zu tun hat, aber das ist ja nicht der Regelfall. Der Regelfall ist doch der, dass man sich rechtzeitig informiert, sich bewirbt, dort bewirbt und bemüht um einen Ausbildungsplatz, wo man entweder schon Leute kennt oder aber mit leichter Mühe Kontakte knöpfen kann, auch rechtzeitig vor Beginn der Ausbildung. Also dieses mit dem Unbehagen, das müsste ich ja vor Beginn eines jeden Studiums auch haben. Ich wende mich also an die ZVS Zentrale in Dortmund und da wird mir dann mitgeteilt, wohin Sie zu gehen haben. Schön, Sie haben vorher drei Städte in die engere Auswahl genommen. Doch dann beginnt doch eigentlich das Unbehagen. Ich muss also mich hier aus Lingen oder Meppen oder hier aus dem Emsland nun aus bequemen und liebgewonnenen Umgebung lösen, und mir z.B. in Erlangen, Entschuldigung, eine „Bude“ suchen, mich dort mit völlig neuen Verhältnissen vertraut machen. Ich finde da ist das Unbehagen, aus meiner Sicht, doch für einen jungen Menschen größer, als wenn er sich hier, in unmittelbarer Nähe seines häuslichen Bereichs seiner elterlichen Wohnung um eine Ausbildungsplatz mit Erfolg bemüht.

Alfons Veer:

Um mal auf das Unbehagen zu sprechen zu kommen. Mein Unbehagen im Moment liegt darin, dass immer noch über Schüler diskutiert wird, aber weniger mit Schülern, das ist zumindest mein Eindruck im Moment. Es tut mir leid, aber ich würde mir eher eine andere Verfahrensweise wünschen, denn wir Schüler haben eigentlich keine Chance, wenn man hier das Podium betrachtet, ich würde nicht unbedingt den Mund gegen solche Leute aufmachen. Ich würde mich auch nicht unbedingt trauen, etwas zu sagen, deshalb kann ich gut verstehen, das sich nur wenig Schüler zu Wort melden. Was ich damit sagen möchte ist, wenn hier gesagt wird, wir müssen uns Optionen offenhalten, kann das heißen, wir müssen viele Fächer so lange wie möglich durchhalten, um später in vielen Berufen die besten Voraussetzungen zu haben. Unter der Voraussetzung ist doch schon für das Fach Wirtschaftskunde gar kein Platz. Allerhöchstens wäre Platz, die Grundlagen im Fach Gemeinschaftskunde zu legen. Die Grundlagen werden jedoch heutzutage schon gelegt. Wenn wir uns Optionen offenhalten sollen, dann kann nicht mehr verlangt werden. Wir können nicht dann als Schüler auf Wirtschaft hinarbeiten, dass wir alle in denn Handel gehen oder einen Ausbildungsberuf hier in der Gegend machen. Dsa Gymnasium bereitet auch zukünftige Sprachwissenschafter und Philosophen oder Geisteswissenschaftler aus, das sollte doch gerade das Gymnasium leisten und da spielt das von Ihne geforderte wirtschaftliche Wissen eigentlich weniger die Rolle. Was aber die Schüler jetzt heute abend interessiert sind Fakten, nicht Fakten, was sich jetzt die Wirtschaft hier im Raum von Schülern wünscht oder Fakten, die die Wirtschaft benötigt, um Schüler anzuwerben, sondern eher Fakten, die uns Schülern die Möglichkeit zu geben, eine objektive Wahl zu treffen zwischen der Wirtschaft und anderen Berufsmöglichkeiten, und man diese dann auch mal in ein Verhältnis setzen kann mit den Möglichkeiten, die dem Schüler im Endeffekt wirklich bleiben.

Publikum (Herr Collienne, StR)

Ich möchte noch etwas zu den Optionen sagen, sich Optionen offenzuhalten. Ich denke, es ist wichtig, dass der Gymnasiast schon etwas weiß über die Wirtschaft, und Optionen offenhalten bedeutet für mich, dass man leistungsbereit ist und zielgerichtet arbeitet an seinem Berufswunsch, und den Beruf dann auch ergreift, und im Laufe der Zeit dann auch sieht, ob man in diesem Beruf weiterkommt oder nicht. Und wenn man dann eine vernünftige Grundausbildung hat, hat man sich die Option geschaffen, eventuell sich dann weiterzubilden oder vielleicht sogar noch mal einen anderen Beruf anzunehmen, aufgrund der Tatsache, dass man eben eine fundierte Ausbildung hat. Ich bin selbst als Dozent in Lingen an der Berufsakademie tätig, und was mir dort auffällt und gefällt, dass die Studenten dort sehr zielgerichtet sind. Das vermisse ich teilweise hier an den Oberstufenschülern. Ich selbst unterrichte hier an dieser Schule Mathematik und Physik und habe sechs Jahre Industrieerfahrung hinter mir. Ich sehe das jetzt also aus diesen drei Blickpunkten Schule, Berufsakademie und Industrie. Und was mir besonders auffällt, ist die fehlende Zielgerichtetheit der Gymnasialschüler.

Publikum:

Ja, gleich dazu, ich denke, dass die Schüler schon zielgerichtet arbeiten können, viele haben sich ja auch schon entschieden, aber der Gymnasiast, der Abiturient hat der sich überhaupt noch nicht entschieden. Der ist auf der Suche und ich denke, immer mehr auch auf der Suche nach Berufen, die nicht nur Studienberufe sind. Hier muss man sich jetzt die Frage stellen, soll man die Schüler, diese jungen Leute alleine sich selbst überlassen, die Wirtschaft alleine erkunden und erforschen, oder ist nicht hier die Schule gefordert, Sie dahingehend zu unterstützen. Ich denke, dass ist sie und ein Schritt ist von dieser Schule ja erfreulicherweise mit dieser veranstaltung auch schon gemacht worden. Ein zweiter Schritt ist nämlich das Praktikum, was in diesem Jahr erstmalig angeboten wird. Ob es reicht, nur das Praktikum anzubieten, oder ob nicht besser wäre, dieses Praktikum in eine Vor- und Nachbereitung im Unterricht einzubinden, wo natürlich wirtschaftskundliche, aber vor allen Dingen auch arbeitsplatzkundliche Fragen behandelt werden müssen,das sehe ich als unbedingt notwendig an. Also was ich sagen will, und vielleicht ist es auch das, was Alfons Veer vorhin gesagt hat, sich orientieren heißt eben nicht bis zum Schluss warten und dann eigentlich studieren wollen oder mal gucken, was die Wirtschaft anbietet, sondern schon rechtzeitig auch den Blick schärfen für andere Dinge, für das, was außerhalb sonst noch los ist. Und hier kann natürlich die Wirtschaft ganz konkrete Hilfen auch geben und – im übrigen Schulwesen wird das ja schon längst auch getan. Da kann vielleicht das Gymnasium hier und da von Realschulen z.B. oder auch Hauptschulen lernen.

Publikum:

Ja, zuerst einmal möchte ich voranstellen, dass es uneingeschränkt positiv ist, dass wir heute Abend hier sitzen können. Denn im Grunde genommen es gibt eine ganze Menge Fragen, aber die Fragen bewegen ja einen Menschen von Anfang an und so wie ich das Berufsleben kennengelernt habe, ist es nicht mehr das, was man sich davon versprochen hat. Es wurde ja auch von den Auseinandersetzungen gesprochen und ich glaube, die Auseinandersetzungen die bleiben. Und ich glaube auch, dass die Wirtschaftsvertreter diese Auseinandersetzungen selbst als Erfahrungsbereich kennengelernt haben. Also man spricht ja heute gerne von Unternehmenskultur, auch in der Veränderung zu den Mitarbeitern hin, wie man sich verständigt, die Teamarbeit kann ja nicht nur da enden, dass Mitarbeiter untereinander klarkommen, sondern, dass Sie sich auch mit den Unternehmenszielen oder auch mit den Inhabern der Firmen auseinandersetzen dürfen, und dennoch akzeptiert werden. Ich glaube, dass der jugendliche Drang schon als Potential da ist, etwas erreichen zu wollen, die Frage ist nur, in wie weit werden sie in ihren Bemühungen aufgefangen? Und ich glaube, dass die Wirtschaft da etwas gelernt hat, dass sie also versucht, das wirklich anzufangen, In wie weit sich also das auch realisieren lässt, mit allen menschlichen Gegebenheiten, das weiß man nicht, aber ich glaube, die Einladungen, die hier gemacht worden sind, sind wichtig, aber ich glaube auch, dass man damit nicht alle Reibungspunkte, die einfach täglich stattfinden, außer Kraft setzen kann. Die Frage bleibt einfach, an welcher Stelle der Jugendliche sich bewegt, und wie bereit er ist, überhaupt für sich tätig zu werden, auch in Verantwortung zu treten. Und ich glaube, er muss auch fordern können und auch gefördert werden. Sicherlich reicht es nicht, wenn er einfach Angebote annimmt, Angebote werden jeden Tag gemacht. Ich glaube, wenn die Wirtschaft wirklich auch sich so darstellt, dass sie diese Erfordernisse, die sie selber wünscht, auch selber anbieten kann, dass sie auch gefordert werden kann, finde ich das ganz in Ordnung. Danke.

P. Dr. Meyer-Schene:

Ich würde gerne noch einmal auf Alfons Veer eingehen, der indirekt auch die ganz besondere Situation des Oberstufenschülers des Gymnasiums anspricht. Es mus an dieser Stelle doch auch deutlich gesagt werden, dass der Oberstufenschüler des Gymnasiums von nichts anderem als von der Schule gefordert wird. Während der Auszubildende schon konkret in Schule und Betrieb ist, und je nachdem, welche Bildungsgänge er nimmt, ganz anders gefordert ist. Der Schüler der gymnasialen Oberstufe ist ein in allem versorgter Schüler, ich sage das jetzt bewusst überspitzt. Und wenn ich höre, was Herr Dr. Berentzen über Leistungsprinzip als Auswahlkriterium der Demokratie hier gesagt hat, dann müssen wir in den nächsten Tagen dringend darüber diskutieren, und zwar ganz eindeutig. Wenn Herr Dr. Berentzen für die Wirtschaft die einfachen Tugenden der Sittlichkeit, so wie ich sie nenne, einfordert, wie Respekt, Höflichkeit, Ausdauer, Verlässlichkeit, dann müssen wir in der Schule darüber sprechen, wenn wir den Anforderungen gerecht werden wollen und darauf vorbereiten wollen, was am Tage X, wenn sie nicht mehr in der Schule sind, auf sie zukommt. Gerade dieser Teil seines Vortrages hat mich sehr beeindruckt, und ich werde es sicher veranlassen, dass wir in der Oberstufe gemeinsam darüber diskutieren, hier gibt es nämlich wirklich Defizite.

Herr Wöste:

Meine Damen und Herren, wir nähern uns jetzt 22 Uhr. Auch wir müssen heute Abend sicherlich auch wieder mit einem Defizit nach Hause gehen. Sowohl der Vortrag als auch die Diskussion erbrachte viele weitere Möglichkeiten zum Gespräch. So wurde z.B. die Effizienz der Schule nicht ausführlich angesprochen. Ich glaube, auch das könnte ein abendfüllendes Thema sein. Dennoch habe ich den Eindruck, eine gute Veranstaltung erlebt zu haben. Ich möchte mich aber nun abschließend bei allen Teilnehmern dieser Podiumsdiskussion ganz herzlich für Ihre Bereitschaft und für die vielen guten Beiträge bedanken. Ich bedanke mich auch bei den Zuhörern, wünschen Ihnen allen einen guten Heimweg, möchte jedoch bevor wir die Aula verlassen noch das Wort an den Schülersprecher Ekke Seifert abgeben.

Ekke Seifert, Schülersprecher der Kursstufe

Im Namen der Schüler des Gymnasiums Leoninum möchte ich mich ganz herzlich bei Ihnen, Herr Dr. Berentzen, für den Vortrag bedanken. Ich denke es war für uns als Schüler sehr interessant, einmal zu erfahren, worauf es heutzutage in der Welt der Wirtschaft überhaupt ankommt und welche Ansprüche gestellt werden. Ein fachgerechter Einblick in die wirtschaftlichen Zusammenhänge wurde heute Abend geboten und hat zur Orientierung beigetragen. Darum appellieren wir Schüler an Sie, und auch an andere Wirtschaftsfunktionäre, Informationen zum Thema Wirtschaft zu vermitteln und gerade uns jungen Menschen immer wieder neue Wege zu eröffnen, auch gerade dort, wo Schule nicht die Möglichkeit zur Information anbieten kann. In diesem Sinne für Ihren Vortrag und Ihr Engagement noch einmal herzlichen Dank.

P. Dr. Meyer-Schene:

Ich brauche eigentlich den Worten von Ekke Seifert nichts mehr hinzufügen, er hat einen sehr guten Dank zum Schlusswort gesprochen, deswegen sage ich nur einen Satz, Herr Deeken und Herr Dr Berentzen haben Zusammenarbeit mit der Schule angeboten, wir nehmen sie an und wir werden wieder darauf zurückkommen. Ich danke Ihnen für das Angebot, ich danke allen, auf Wiedersehen.

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Dr. Hanna-Renate Laurien im “Handruper Forum”

Ethik für das dritte Jahrtausend?

Zur Referentin:
Dr. Hanna-Renate Laurien,
Präsidentin des Abgeordnetenhauses von Berlin a.D.

Vortrag im Rahmen des „4. Handruper Forums“ vom 23. April 1996.

(Wortgetreue Abschrift des Vortrags nach Bandmitschnitt.)

Begrüßung durch P. Dr. J. Meyer-Schene

Ich begrüße Sie, liebe Eltern, Schüler und Lehrer herzlich zu dieser Abendveranstaltung und freue mich, daß Sie unserer Einladung gefolgt sind. Mein besonderer Gruß gilt auch den eingeladenen Kommunalpolikerinnen und Kommunalpolikern aus dem Einzugsbereich unserer Schule. Für alle hier anwesenden Orts- und Samtgemeindebürgermeister begrüße ich stellvertretend den Bürgermeister der Gemeinde Handrup, Herrn Josef Stockel. Ein besonderer Gruß gilt auch den Geistlichen aus den Dekanaten, aus denen unsere Schülerinnen und Schüler kommen und hier begrüße ich stellvertretend für alle unseren Ortspfarrer Herrn P. Karl Hogeback. Unter unseren Gästen ist heute auch unser Landrat, der Landrat des Kreises Emsland, Herr Josef Meiners aus Freren. Auch Ihnen Herr Landrat gilt ein besonderer Willkommensgruß, Herr OKD Bröring läßt herzliche Grüße ausrichten und wünscht unserer Veranstaltung einen guten Verlauf. Er kann heute nicht hier sein, weil er eine wichtige Verhandlung in Hannover hat – es wird, so kann man sicher vermuten, um Geld gehen.

Sehr geehrte Frau Dr. Laurien, ein ganz besonderer Gruß und ein herzliches Willkommen unserer Elternschaft und unserer ganzen Schulgemeinschaft gilt natürlich Ihnen. Ich möchte ihnen aufrichtig danken, daß Sie mir für den heutigen Abend auf meine erste Anfrage hin im vorigen Jahr sofort eine Zusage gegeben haben zu uns in Handrup zu sprechen. Ich darf auch hinzufügen, daß es für mich persönlich eine besondere Freude ist, Sie hier als Gast in Handrup begrüßen zu dürfen, denn vor gut dreißig Jahren habe ich im Rahmen meiner ersten philologischen Staatsprüfungen an der Universität in Köln bei Ihnen mein Pädagogikexamen abgelegt und ich habe das bis heute noch in guter Erinnerung.

Ich will hier zu den Stationen Ihres Lebensweges nichts sagen. Ich habe das in meinem Elternbrief und in Pressemitteilungen hinreichend getan.

Wichtiger ist es, auf das Thema des heutigen Abends hinzuweisen: In unserer Gesellschaft wird von Politikern, von den beiden großen Kirchen und anderen gesellschaftlichen Gruppen immer wieder die bevorstehende Jahrtausendwende thematisiert. Sie wollen heute zu uns sprechen zu dem Thema „Ethik für das dritte Jahrtausend?“. Das Thema dieses Abends erhält seine Relevanz insbesondere dadurch, daß die gravierenden religiösen, politischen, wirtschaftlichen und technologischen Veränderungen am Ende des 20. Jahrhunderts auch zu einem Wandel der Lebensgestaltung und Lebensbetrachtung geführt haben. Am Ende des zweiten Jahrtausends drängen sich Fragen auf, deren Beantwortung zum größten Teil noch aussteht. Letztendlich geht es um die Freiheit und um daraus resultierende neue Freiheiten. Die Grundlagen dieser Freiheit und der verantwortungsbewußte Umgang mit ihr fordert die Generationen zu einem neuen Denken heraus.

Ich bin sicher, sehr geehrte Frau Dr. Laurien, daß Sie uns heute Abend Impulse mit auf den Weg geben können, die uns zu neuer pädagogischer Verantwortung inspirieren. Ich darf Sie jetzt bitten, zu uns zu sprechen.

Vortrag Dr. Hanna-Renate Laurien

Ja, meine Damen und Herren, lassen Sie mich schmunzelnd bemerken, was so aus dem Studenten von früher geworden ist. Ich habe mich vorhin übrigens geirrt, ich dachte bisher, daß Sie mein Opfer als Fachleiterin waren, aber Sie sind ja noch früher mein Opfer gewesen, als ich an der Kölner Uni zehn Jahre lang Prüfer war. Ja, ja, man freut sich ja wenn dann trotzdem aus jemandem was geworden ist.
Meine Damen und Herren, dieses Thema kann uns einen tüchtigen Schrecken einjagen. Wollen wir die Systeme eines Aristoteles, eines Thomas von Aquin, eines Kant oder die kantkritischen erfahrungsbetonten oder ganz rational konzipierten Entwürfe der Moderne diskutieren und fragen, welcher Entwurf uns bekömmlich sein könnte? „Ethik“ ist hier nicht um eines Systems willen in die Überschrift gesetzt: Es soll damit ausgesagt werden, daß es nicht um eine mehr oder weniger verbindliche „Werte-Diskussion“ geht, sondern daß wir vielmehr nach Haltungen fragen wollen, die für ein Zusammenleben wichtig erscheinen.

Wir wollen auch nicht mit prophetischer Kraft voraussagen, was im Jahr 3000 erwünscht sein könnte, sondern nach Zeichen der Zeit und ihrem Zukunftsbezug fragen.

Die Ambivalenz der Freiheit

Herausragendes Kennzeichen heute ist die Ablehnung jeder Fremdbestimmung. Aus ihr wächst die kritische Einstellung gegenüber Institutionen. Doch offensichtlich reicht „Selbstbestimmung“ nicht aus. In fast allen Schulgesetzen findet sich die Zielsetzung, die jungen Menschen zu einem „selbstbestimmten und verantwortungsvollen Leben” zu führen und Art. 2 unseres GG setzt die Grenze der eigenen personalen Entfaltung im Recht anderer. Wo beginnt dieses? Wir stoßen auf eine Vielzahl von Meinungen. Solcher Pluralismus ist nun nicht etwa ein Übel. Pluralismus ist die Konsequenz der Freiheit. Eine vor Jahren schon von Schillebeeckx beschriebene Tatsache haben wir in der Vereinigung Deutschlands hautnah erfahren: Im Veto der Menschen gegen Diktatur, Ausbeutung, Unrecht finden sich viele zu einem einstimmigen Nein, in dem schon als Hoffnung das „offene Ja“ zu ahnen ist. Wird das offene, das freiheitliche Ja möglich, so ist es niemals einstimmig, es ist – nochmals – als Konsequenz der Freiheit stets plural. Schon 1979 stellte Ralf Dahrendorf knapp und vermutlich nicht jedem verständlich fest: „Wenn die Optionen ins Grenzenlose wachsen, müssen die Ligaturen gestärkt werden. Wenn die Wahlmöglichkeiten – in Waren wie in Meinungen – ins nahezu Uferlose wachsen, müssen die Maßstäbe, die Bindungen gestärkt werden. Sie sind Voraussetzung für bewußtes Wählen.“ Wir können unsere und die künftige Situation mit Peter Berger überschreiben: „Vom Schicksal zur Wahl“. Wählen müssen wir, die Frage ist nur, was die Kriterien der Wahl sind: Beliebigkeit oder bewußte Maßstäbe. Die These von der Wertfreiheit, das Behaupten einer Wertneutralität wird schon in diesem Zusammenhang als Ideologie entlarvt.

Köstlich hat Volker Braun dies (1985) in einer Szene in seinem Hinze-Kunze-Roman beschrieben: Hinze, Fahrer eines SED-Funktionärs, kommt in einer Kantine in eine ihm völlig neue Situation. Er darf und muß zwischen vier Essen wählen. Ich zitiere in großen Sprüngen, was Hinze da so sinniert: „Freiheit, das ist die Einsicht in die (…) Notwendigkeit zu wählen zwischen Erbsen, Vanillenudeln und Rippchen mit Sauerkraut. (…) Die Freiheit ist eine Geschmacksfrage, – besser gesagt – eine Frage der Sachkenntnis (…) Während die auf Unkenntnis beruhende Unsicherheit, die zwischen Erbsen, Nudeln und Rippchen scheinbar willkürlich wählt, eben dadurch ihre Unfreiheit beweist — Und wenn er sich nun die Freiheit nimmt, von allem zu fressen, samt Apfel, Banane und Mandarine (…) So wäre er übersatt, aber niemals frei…“(S. 42 ff). Entscheidungsfähigkeit setzt Kenntnisse voraus. Daraus erwächst die Pflicht, über die verschiedenen Entscheidungsmöglichkeiten zu informieren. Dietmar Mieth hat in anderem Zusammenhang ein Modell beschrieben, das uns, so meine ich, weiterhelfen kann. Er fordert die Vermittlung „einer offenen Reihe von Haltungsbildern im Sinne ethischer Modelle.“ Es lohnt, eine solche Reihe über die Jahrhunderte hin zu entwickeln – von Iphigenie bis zu Wilhelm Tell, von Ghandi bis zu Bonnhoefer, von Franz von Assisi bis zu Thomas von Aquin, von Teresa von Avila bis zu Maria Ward … An so gelebten Leben können die eigene Entscheidungsbereitschaft und Entscheidungsfähigkeit wachsen. Welchen Weg die jungen Leute gehen werden, entscheiden sie, aber die Wegweiser müssen beschriftet sein, es muß erkennbare begründete Unterschiedlichkeit geben. Nur so können wir das Gefühl der Überforderung mindern.

Manche Zuwendung zum Fundamentalismus ist nichts anderes als ein Aufschrei aus Orientierungslosigkeit. Es ist einfacher, wenn einem jemand sagt, wo’s lang geht. Und es wird immer wieder Menschen geben, die den Schwachen entlasten wollen, die wie der Großinquisitor in Dostojewskis Brüdern Karamasow stellvertretend seine Zweifel tragen und ihn so von der gefährlichen Freiheit befreien wollen.
Das ist nicht der Weg ins dritte Jahrtausend. Wir finden die Spuren solchen Denkens nicht nur in politisch radikalen Parteien, wir haben auch in unserer Kirche solche Auseinandersetzung zu bestehen. Wir finden seine Spuren z. B. in der Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre „Instruktion über die kirchliche Berufung des Theologen“ (24. Mai 1990), in der „Dissens“ als Übel gilt und nicht etwa als gemeinsames Ringen um Erkenntnis, in der die Wahrheit, anders als in der Konzilserklärung über die Religionsfreiheit, anders als bei Thomas von Aquin, mehr zählt als die freiheitliche, gewiß unter Umständen irrende Gewissensentscheidung. Schweigender Gehorsam wird angeordnet. Der hat keine Zukunft. Nicht Befehlen, sondern das so viel mühsamere Geschäft des Überzeugens ist uns aufgetragen. Wir müssen unsern Ort finden.

Das ist auch der Akzent, der unser Grundgesetz kennzeichnet: Nur dem Staat werden Verpflichtungen auferlegt, das staatliche Handeln wird daran gemessen, ob es mit den verfassungsmäßig garantierten Freiheitsrechten des einzelnen zu vereinbaren ist. Diese Verfassungs- und Grundrechte sind: Personenwürde, Meinungs- und Glaubensfreiheit Glaubensfreiheit, und sie verlangen soziale und rechtliche Sicherung. Die Bürgerinnen und Bürger entscheiden, ob und wie sie von ihren Freiheitsrechten Gebrauch machen wollen, und die ebenfalls durch die Verfassung geforderte Gewaltenteilung ermöglicht freiheitliche Teilhabe. Der Staat soll Herrschaft so gestalten, daß, wie Prof. Hennis es einmal formuliert hat, „der Mensch so leben kann, wie er leben sollte. “ Dies „sollte“ setzt die Verfassung nicht fest. Es macht die ethische Qualität des einzelnen aus, das „Sollte“ zu finden.

Gibt es Verpflichtungen für den Bürger, die Bürgerin, so müssen sie als Gesetz parlamentarisch festgelegt und damit berechenbar werden. Sie sind dann konkrete Verpflichtungen, ob sie sich nun auf die Steuer oder aufs Baurecht beziehen. Sie verpflichten zum Vollzug, nicht aber zu einer Gesinnung. Ob ich die Pflicht mißmutig oder freudig erfülle, das ist meine Sache, nicht Sache von Staat, Gesellschaft oder Verfassung.

Professor Josef Isensee, der eindrucksvoll liberale und antidemokratische Verfassungen verglichen hat, (Grundrechte und Grundpflichten unter der DDR-Verfassung und dem Grundgesetz, in: 1.Wittenberger Gespräch, Staatskanzlei des Landes Sachsen-Anhalt. (Juli 1993) nannte als Voraussetzung zum Verwirklichen der Grundrechte: Rechtsgehorsam, also das Beachten mehrheitlich verabschiedeter Gesetze auch dann, wenn man sie selbst für unvollkommen hält; Friedenspflicht, also Verzicht auf Gewaltanwendung jeder Art durch die Bürger, als Kehrseite sozusagen des staatlichen Gewaltmonopols und drittens eine gewisse nationale gesellschaftliche Solidarität.

Sie drückt sich etwa im System der Krankenversicherung und der Renten, aber auch in den Steuern aus. Hier bemerken wir heute Schwäche über Schwäche. Steuerhinterziehung wird weithin als Kavaliersdelikt, nicht als Diebstahl am Wohl aller verstanden. Daß das Überwinden der Folgen von mehr als 40 Jahren SED-Mißwirtschaft eine Probe der nationalen Solidarität ist – weit mehr als eine Kostenfrage – das hat sich in unserer Republik erst recht schwach herumgesprochen. Ganz unsystematisch bemerke ich: Mag der erste Zeitpunkt, als die Mauer fiel, zu solchem Solidaritätsaufruf verpaßt worden sein, auch jetzt, etwa angesichts der Entwicklungen im ehemaligen Jugoslawien wie auch in den GUS-Staaten gibt es Anlässe genug, nationale, europäische Solidarität als Schicksalsgemeinschaft anzusprechen. Da wird Gemeinwohl nicht verstanden als ein über allem thronendes gemeinsames Gut, sondern als sozialer Ausgleich, der Unterschiedlichkeit beläßt, aber das Grundrecht menschenwürdiger Existenz sichert.

Unser Grundgesetz mutet den Bürgern nicht zu, auf Eigennutz zu verzichten. Aber – und das ist ein aufregendes Paradoxon: nur wenn die Bürger ihren Eigennutz begrenzen, können sie sich das Recht auf Eigennutz bewahren – nur wenn der bourgeois auch bereit ist, als citoyen einzutreten, bleibt seine Lebensmöglichkeit als bourgeois bewahrt, oder mit den Worten von Josef Isensee: Der Verfassungsstaat oktroyiert den Bürgern kein Ethos, und er garantiert es nicht. Aber er baut auf ihr Ethos.“

Dr. Hanna-Renate Laurien
• geb. am 15. April 1928 in Danzig
• Germanistik, Anglistik und Philosophie-Studium an der Freien Universität Berlin
• 1951 – 1970 Gymnasiallehrerin in NRW
• 1965 – 1970 Schulleiterin
• ab 1971 Staatssekretärin im Kultusministerium von Rheinland/Pfalz
• 1976 Kultusministerin in Rheinland/Pfalz
• 1981 Senatorin für Schule, Jugend und Sport in Berlin unter Richard von Weizsäcker
• 1991-1995 Berliner Parlamentspräsidentin

Die Entmündigung durch den allzuständigen Staat wird in Diktaturen vollzogen. Sicherheit erscheint als höchstes Gut. Aber auch in Demokratien, die allzuviele Pflichten an den Staat delegiert haben, hat der Ruf nach Sicherheit oft Vorrang vor dem Wagnis der Freiheit. Voller Ironie stellte der tschechische Priester Halik, geheim geweiht, kurz nach der Wende fest: „Im Gefängnis hatte ich keine Sorge, daß ich einen Autounfall haben könnte.“ Freiheit, das wird deutlich, gibt es nicht zum Nulltarif, und sie erfüllt sich in der in Freiheit vollzogenen Bindung. Vor solcher „Langzeitbindung“ schrecken heute viele zurück. Sei es Parteien, Gewerkschaften, Kirchen gegenüber oder auch vor der Institution Ehe. Läßt man sich im Gespräch auf die Inhalte ein, so wird meist erkennbar, daß diese kaum abgelehnt werden, nur die Langfristigkeit als Verbürgen eigener Zuverlässigkeit und vor allem, die Art der Vermittlung treffen auf Kritik. Wir müssen aber um des Zusammenlebens in schwierigen Zeiten die Bindungsfähigkeit stärken. Das gelingt nicht mit moralischen Appellen, das setzt voraus, daß wir die Bindungsbereitschaft in den neuen Formen, auch in den “Uniformen”, anerkennen, uns miteinander auf dem Wege sehen und helfen, aus dem Addieren von „Projektbindungsbereitschaft“ mehr wachsen zu lassen. Es verlangt auch, daß die Formen der Vermittlung unter die Lupe genommen werden – nehmen Sie als Beispiel das Gebot, am Sonntag zur hl. Messe zu gehen. Die Drohung, das sei schwere Sünde, erzeugt kaum mehr ein Lächeln, nur ein Achselzucken. Aber die Bemerkung, daß ich das brauche, weil es mich ernährt, kann zur Frage „Warum?“ führen und aus gelebtem Zeugnis kann – nicht muß – Interesse, ja vielleicht mehr als Interesse wachsen. Professor Paul Zulehner wird bei der Erörterung der Bindungsbereitschaft nicht müde, auf die entlastende Funktion von Institutionen hinzuweisen und uns aufzurufen, diese Funktion zu verdeutlichen.

In dieser begründeten Vielfalt, und das kann ich nur anreißen, ist die Entwicklung einer Kultur des Streitens unerläßlich, deren Überschrift lautet: „Gegner ja, Feinde nein“, die Toleranz nicht als Hinnehmen von Unterschiedlichkeit, sondern als Fördern von Unterschiedlichkeit verstehen lehrt und die im Dialog weder gefällige Anpassung, noch Bekehrungsinstrument oder folgenlose Alibiveranstaltung sieht, die Dialog vielmehr als Nagelprobe für mein Ja durch dein Nein und umgekehrt versteht und im Begreifen der Position des anderen sich bereichert erfährt.

Die Scheu vorm Akzeptieren von Vielfalt mündet in Fundamentalismus oder Beliebigkeit. Begründete Unterschiedlichkeit ist zu bewahren und zu entwickeln und die vor wenigen Jahren vom Intendanten Dieter Stolte erhobene Frage, wieweit unser Spektrum dabei reichen soll, muß gestellt werden. Der Systemgegner von gestern ist heute eine Facette im Spektrum der Vielfalt. Weil wir nicht grundsätzlich und gründlich über Bedingungen, Voraussetzungen und Folgen diskutiert und nachgedacht haben, gibt es so divergierende Zumutungen wie die „Rote-Socken-Kampagne“ einerseits und die Einplanung der PDS als Machtbeschaffungsinstrumänt andererseits. In beiden, recht unterschiedlich zu wertenden Fällen bewährt sich übrigens die Tragfähigkeit der Demokratie.

Freiheit und Gerechtigkeit

Um diese Tragfähigkeit geht es auch, wenn wir Freiheit und Gerechtigkeit verbinden. Wir gehen, wenn auch zögernd, so doch unausweichlich, auf ein gemeinsames Europa zu. Wir Deutschen machen hier exemplarische Erfahrungen im vereinigten Deutschland. Wenn Grenzen fallen, Mauern zerbrechen, ist der Vergleich der Lebensbedingungen unausweichlich, stellt sich die Frage der Gerechtigkeit. Alltagswirklichkeit wird verglichen. Übrigens eine kleine Zwischenbemerkung: Die Unzufriedenheit steigt, wenn der Mangel abnimmt. Haben unter tausend Leuten nur zwei ein Telefon, gibt es kaum Aufgeregtheit. verschiebt sich aber das Verhältnis zu 700:300 ist die Kritik lautstark. Doch noch einmal zur Alltagswirklichkeit: Freiheit ist untrennbar mit der wirtschaftlichen Situation verbunden. Ist die erste Erfahrung die der Arbeitslosigkeit, so wird nicht die Misere der Kommandowirtschaft, die zu dieser Situation führte, angeprangert, vielmehr wird das neue System verantwortlich gemacht. Wir haben begriffen und müssen auch künftig begreifen, daß sehr konkrete Übergangsformen für den Weg von der Kommandowirtschaft zur freien, und ich sage sehr nachdrücklich, zur freien und sozialen Marktwirtschaft entwickelt werden müssen. Die „reine Lehre“ ist vom Übel, auch unser freiheitliches und soziales Wirtschaftssystem hat sich allmählich entwickelt und hat nicht nur Vorzüge aufzuweisen.

Wer hier nur von „Sachzwängen“, von „objektiver Entscheidung“ redet, verpaßt die Wirklichkeit der Menschen. Ohne Güterabwägung, ohne ethische Maßstäbe, die durchaus unterschiedlich sein können, gibt es kein Bündnis von Freiheit und Gerechtigkeit. Ich erinnere Sie an die Diskussion über den Einsatz deutscher Blauhelme im ehemaligen Jugoslawien oder an die Entscheidung zu den Entsenderichtlinien im Baugewerbe. Zugespitzt entscheide ich mich entweder für die Arbeitslosigkeit des Iren und des Polen, denn der schlechter Ausgebildete hat nur als Billigkraft eine Chance, oder für die Arbeitslosigkeit des Deutschen. Vergleiche ich die Situation von Arbeitslosen in den genannten Ländern, müßte ich aus humanitären Gründen gegen Entsenderichtlinien sein; beachte ich den sozialen Sprengstoff im eigenen Land, das Entstehen von Haltungen, die Öffnung als Gefahr ablehnen, so entscheide ich für Entsenderichtlinien. Nicht viel anders ist die Abwägungssituation, etwa beim Zustrom von Ausländern. Werden da Entscheidungen nur opportunistisch getroffen, können sie nicht Bestand haben. Sie müssen begründende Abwägung zur Grundlage haben, und das setzt – übrigens unerläßliches Kennzeichen aller Eliten in freien Staaten – Kompromißfähigkeit voraus. Das ist nicht Verzicht auf Ethik, das ermöglicht Zusammenleben. Zu gern zitiere ich aus der Regula Sancti Benedicti. Da ist klar, Ordnung ist unerläßlich. Zuspätkommen gefährdet die Ordnung. Wann ist man – beim Chorgebet – zu spät gekommen? Wenn der 1. Psalm zu Ende gesungen ist – und nun kommt die hinreißende Bemerkung: „Also singe man ihn getragen.“ Ohne diese Fähigkeit, „getragen zu singen“, dann allerdings auf dem Einhalten des Vereinbarten zu bestehen, werden wir es in der Zukunft sehr schwer haben. Bei aller Kritik an Tarifabschlüssen: in Deutschland ist die Geschichte von Arbeitgebern und Gewerkschaften kein schlechtes Beispiel für Kompromißfähigkeit. Sie setzt, ich hoffe, das ist nicht in den Gedanken verloren gegangen, auch ethische Maßstäbe voraus.

Eine neue Brisanz entsteht, wenn wir in Technik, Wirtschaft, Staat um der Bewahrung der Schöpfung willen, um der Erhaltung der finanziellen Tragfähigkeit willen zur Einsicht kommen, daß Begrenzungen, ja Kürzungen unumgänglich sind, wenn demnach nur das Nein zu bestimmten Forderungen die Zukunft derer sichert, die diese Forderungen stellen und uns trotzdem wählen sollen. Tagesbilanz gegen Zukunft. Jeder stimmt dem Ziel zu, aber wird ein Weg dazu genannt, ist sofort die Demo fällig, wird sogleich ein anderer Weg empfohlen, der entweder genauso demonstrationsanfällig oder nur populistisch ist. Als Beispiel seien nur genannt die Debatte über Studiengebühren oder der Vorschlag, vor den Verhandlungen über ein mögliches Bündnis zum Abbau von Arbeitslosigkeit gemacht, die Staatsverschuldung zu erhöhen. Wer so spricht, muß sich die Frage nach seinen oder ihren ethischen Maßstäben gefallen lassen.

Längst wissen wir auch, daß in der Wissenschaft, in Forschung und Technik nicht alles, was technisch machbar ist, auch ethisch verantwortbar ist. Seit längerem wird gefordert, Wissenschaft, und das heißt auch gymnasiale Bildung, um die ethische Dimension zu erweitern. Im l0 Thesen umfassenden Memorandum des Deutschen. Philologenverbandes „Bildung-Kreativität-Innovation“ findet sich diese Forderung in These 9. Solche Ethik betrifft alle Fächer, sie kann und darf nicht auf Religion oder Sozialkunde abgedrängt werden. Sie ist Voraussetzung für verantwortbares Handeln. Die These der Wertfreiheit, der Objektivität ist abermals als Ideologie entlarvt. Der positivistische Wissenschaftsbegriff ist an sein Ende gekommen. Ohne Stellungnahme, die zugleich offen ist für die abweichende Stellungnahme des anderen, gibt es keine gute Zukunft.

Vom verlorenen Himmel

Kennzeichen unserer Zeit, und ich verweise hier auf die gründlichen und eindrucksvollen Untersuchungen von Paul Zulehner, ist die Säkularisierung. Die Mehrzahl, in Ost noch weit ausgeprägter als in West, aber auch in West, versteht ihr Leben vor allem diesseitig. Zulehner: Totale Diesseitigkeit entsolidarisiert. Ich will alles im Hier und möglichst im Heute haben. Auch die Frage der Gerechtigkeit geht mit dem Streichen einer Wirklichkeit, die unsere meß- und zählbare Wirklichkeit übersteigt, verloren. Der Himmel ist den meisten abhanden gekommen, und da der Mensch nun einmal das Wesen ist, das fragt, suchen sie Sinn im Hier, hoffen, daß der andere Mensch, den sie lieben, sie von ihrem Ich erlöst und lassen, wenn diese Bemühungen scheitern, ihr Fragen nicht selten im Konsumrausch untergehen und errichten rund um sich die berühmten „Anspruchszäune“.

Die Frage nach dem Zusammenhang von Ethik und Transzendenz stellt sich unausweichlich.

Günter Kunert erklärte 1990 auf dem Pen-Kongreß, daß es für ein Miteinander ausreiche, sich einfach „menschlich“ zu verhalten“ und Friedrich Dürrenmatt sagte in einem Interview in der WELT vom 22.l0.1990: „Wenn mich jemand fragte, ob ich an Gott glauben würde, würde ich zurückfragen: ‚Ja, was genau meinen Sie denn, woran ich glauben soll?‘ Da werden die meisten sehr verlegen, weil sie gar nicht recht wissen, was sie sich unter Gott vorstellen.“ Sein Fazit: „Der einzelne Mensch kann ohne sie (die Relg.) auskommen. Der Mensch im allgemeinen ist aber dazu nicht im Stande.“ Ihm ist dann der Islam die am ehesten einleuchtende Form der Religion.

Lassen Sie mich unsystematisch, aber vielleicht doch in tiefem Zusammenhang mit unserer Frage stehend bemerken: Die Frage, was denn Gott sei – „Was ist der denn?“ – die wird mir in den neuen Ländern gar nicht so selten gestellt. Und ich empfehle, gerade weil ich die Verantwortung vor Gott und den Menschen (nicht nur in unserer Verfassung) für einen Schutz vor einer Staatsmoral halte, sich dieser Frage zu stellen. Der Mensch ist dann nicht Maß und Herr aller Dinge, er versteht sich nicht als Macher, sondern als Geschöpf, nimmt seine Fähigkeiten und die Schätze dieser Erde als Geschenk, das zu bewahren und zu entfalten ist. Otto Hermann Pesch hat in seinem bedeutenden Buch über Thomas von Aquin verdeutlicht, daß die Vernunft ihre Freiheit in den Grenzen des Glaubens hat. Das ist kein Einwand gegen die Autonomie der Vernunft in unseren Wissenschaften, aber es konkretisiert und begründet die Begrenzung der Wissenschaft durch Ethik, von der wir im Zusammenhang der Gerechtigkeit gesprochen haben. Erlauben Sie mir, Pesch zu zitieren. Er fragt: „Haben wir eigentlich noch den Mut, davon auszugehen, daß der Glaube uns in die Wahrheit, in die letzte Wahrheit unseres Seins versetzt? Wagen wir, uns zu sagen, daß das ein Geschenk an unsere Vernunft ist, weil es sie von aller Orientierungslosigkeit entlastet und sie eben dadurch freigibt für die ihr wirklich gestellten Aufgaben?“(S.141). Wenn Hans Küng in seinem „Weltethos“ als Voraussetzung für das Bestehen der Zukunft, die Begegnung oder Konfrontation unterschiedlicher Kulturen sein wird, fordert, daß die drei Abrahamsreligionen, Judentum, Christentum, Islam erst einmal wissenschaftlich Gemeinsamkeiten und Unterschiede prüfen und darstellen, so wie es Protestanten und Katholiken etwa bei der Untersuchung der „Verwerfungen“ gemacht haben, dann geht es ihm auch darum, durch das Bewahren oder Wiedergewinnen eines Transzendenzbezuges Menschlichkeit zu sichern. Ganz offensichtlich reicht Vernunft nicht aus, um nicht in die menschlichen Abgründe zu stürzen. Ganz deutlich: nach Auschwitz ist die Rede vom jüdischen, helfend-teilnehmenden Gott der Geschichte radikal infrage gestellt, wird aus der Frage nach der Allmacht Gottes die Frage nach der Allmacht des Menschen und dessen Begrenzung. Nach Auschwitz sind die Ideale der Aufklärung ad absurdum geführt. Ich möchte auf ein Buch aufmerksam machen, das ich zwar noch nicht ganz gelesen habe, dessen besondere Qualität mir aber schon erkennbar ist und dessen erstklassige Besprechung Sie in der Orientierung vom 29. 2. 1996 finden. Von Christoph Münz verfaßt, trägt es den Titel: „Der Welt ein Gedächtnis geben. Geschichtstheologisches Denken im Judentum nach Auschwitz“ (Gütersloh 1995). Es macht deutlich, daß – eine Konseqenz des Holocaust – eine in die Wissenschaft, auch in die Geschichtsschreibung involvierte Ethik unerläßlich ist. „Wertfreiheit“, „Nüchternheit“, „Distanz“, „Objektivität“ werden, wenn sie absolut gesetzt werden, sogar schädlich. Gedächtnisorientiertes Erinnern, „Mut zum Fragmentarischen, zur offenen Frage und zur Widersprüchlichkeit“, nicht „Lösungsdenken“, sondern „Unendlichkeit der Exegese“ ermöglichen ein „ethisches und selbstbewußtes Leben nach Auschwitz.“ Das Ja zu unserm Sein als Fragment, das Ja zu unserem Glauben als Prozeß, als Weg der Hoffnung ist die offene, nie in Rezepten und Systemen faßbare Antwort.

Ich zitiere abschließend getrost Eugen Drewermann aus seinem Buch „Ich steige hinab in die Barke der Sonne“: „Erst mit der Vision einer religiösen Perspektive unseres Daseins können wir uns dieser Welt mit Haut und Haaren überlassen; ohne das Wissen von einem anderen Ufer wäre diese Welt für uns nichts als ein Abgrund. Es ist der Glaube, der uns lehrt, dieses Leben zu bestehen.“

In diesem Sinne kann der Christ als Staatsbürger auch für das nächste Jahrtausend Hoffnungsträger sein, kann er in seiner Existenz Freiheit in der Bindung zu verwirklichen suchen.

Podiumsdiskussion:

P. Dr. J. Meyer-Schene:

Ich darf mich bei Ihnen Frau Dr. Laurien ganz herzlich für Ihre Ausführungen bedanken. Ich will hier keine Zusammenfassung bieten und keine Stichworte aufgreifen. Stattdessen wollen wir sofort mit der Diskussion beginnen. Herr Oberstudienrat Wöste hat sich freundlicherweise bereiterklärt, gleich das anschließende Gespräch zu moderieren und zu leiten. Ich möchte nur noch einen Hinweis geben: Frau Dr. Laurien hat für ihren Vortrag an einer freien katholischen Schule kein Honorar verlangt. Wir haben uns aber besprochen und sind übereingekommen, am Ende dieser Veranstaltung für einen guten Zweck zu sammeln und den Erlös unserer Sammlung dem Projekt der Samtgemeinde Freren „Gribowa – ein Dorf in der Ukraine“ zur Verfügung stellen. Ich darf dann an Herrn Wöste übergeben.

Herr Paul Wöste:

Meine Damen und Herren, ich muß gestehen, nun ein wenig irritiert zu sein, galt meine Zusage doch unter der Prämisse, daß sich P. Meyer-Schene noch im Krankenhaus befindet, ich darf Sie aber dennoch ermuntern, Fragen zu stellen und Diskussionanregungen aufzugreifen. (Kurze Pause) Vielleicht beginne ich dann einmal mit einer Frage. Frau Dr. Laurien, Sie haben die Wertediskussion, die ja in diesen Jahren immer wieder geführt wird, etwas beiseite geschoben. Vielleicht können Sie Ihren Standpunkt dazu noch etwas vertiefen.

Frau Dr. Hanna-Renate Laurien:

Ja, da sage ich nur einen Satz, die Wertediskussion ist mir zu unverbindlich, welche Werte denn? In der freien Demokratie gibt es kein über allem schwebendes, inhaltlich zu definierendes Allgemeinwohl. Das hat ja übrigens Herr von Weizsäcker einmal vertreten und da ist ein faszinierendes Buch von 15 tollen Leuten gegen ihn erschienen – das heißt „Die Kontroverse“ – wo klar gemacht wird, daß in der freiheitlichen Demokratie eines gilt „We agreed to disagree“ – wir stimmen darin überein, daß wir unterschiedlicher Meinung sein dürfen, und da ich davon ausgegangen bin, habe ich die verschiedenen Abwägungsmuster dargestellt, nicht festgelegt, welches richtig ist, ich habe versucht klarzumachen, welche Abwägungen manchmal nötig sind, Freiheit ihre Begrenzung, Gerchtigkeit und Freiheit ihre Beziehung und dann die Transzendenzfrage.

Zuhörerfrage (Herr Heiner Kruke):

Sie haben festgestellt, daß die Idee der Aufklärung ad absurdum geführt worden sei. Können Sie das vielleicht noch einmal begründen. Ich meine nämlich, daß bezüglich der historischen Aufklärung doch noch genügend aufzuarbeiten gibt.

Frau Dr. Hanna-Renate Laurien:

Ja, da haben Sie recht, aber das aufzudröseln würde wohl ein Seminar. Darüber gibt es in der jüngsten Zeit eine Fülle von Veröffentlichungen, nicht nur von Böckenförde, nicht nur hier von Münz, in der Philosophie gibt ja ganze Schulen – ja, was mach ich nur, daß die Menschen hier das verstehen – warten Sie einmal –

Wenn Sie etwa das Thema „New Age“ nehmen, das ist ja eine Schwebesache, man will die Welt erklärt haben, will alles in einem biologischen Zusammenhang haben, aber man will sich nicht festlegen, man will sich nicht entscheiden müssen. Das ist die eine Antwort auf die Aufklärung. Die andere, die Kant gegeben hat, also mache man jede Entscheidung so, daß sie für alle gelten könnte, daß daraus ein Gesetz würde – das klappt nicht – weil es nicht mit dem Bösen im Menschen rechnet. Auch das geht nach Auschwitz nicht mehr. Es ist im Grunde eine unglaubliche Überzeugung, daß die Religionen, die auch immer mit dem Fehlverhalten des Menschen rechnen, eine dauerhaftere Antwort haben als die Philosophien, die letzlich, letzlich auf der innerweltlichen Verbesserungsfähigkeit des Menschen aufbauen. – Ich hoffe, daß ich das jetzt ohne alle philosophischen Fremdwörter und in brutaler Verkürzung gesagt habe aber letzlich ist ja auch die Idee des Marxismus eine hinreißend menschliche Idee – das unterscheidet ja den Marxismus vom Nazitum – die Nazis wollten auch in ihren pseudointelektuellen Schriften die Herrschaft einer Rasse über andere, der Marxismus will das Gute für alle Menschen und geht von der irrtümlichen Meinung aus, daß wenn die Umstände gut sind, auch die Menschen gut werden. Und da er diese Idee für so toll hält, gestaltet er die Übergangszeit diktatorisch. „Wenn Du das nicht glaubst, muß Du das glauben.“ Der Zwang zum Guten – das scheitert – das landet im Gulag. Und insofern – das ist übrigens das großartige Bündnis von Demokratie und Glauben – und eben auch in dem Sinne Ende der Aufklärung: Demokratie und Glauben rechnen beide gerade mit dem Fehlverhalten des Menschen. Das ist eine ganz unglaubliche Einsicht. Ich will das nochmal sehr personalisieren: Ich bin 1952 als Studentin zum ersten Mal nach England gekommen – bin Jahrgang 28, damals also 24. Ich bin so 4 Wochen „hitch-hiking“ durch England gezogen und so kam ich dann auch ins englische Parlament. Im Gang zwei große Abbildungen, schwarz-weiß und auf dem einen Bild ein Schiff, also phantastisch und die Galeerensklaven drin mit gebrochenen Gesichtern und drunter steht „Tyranny“ – Tyrannei. Und auf dem anderen Bild ein Schiff – ach du liebes bißchen – ein Segel kaputt, ein Matrose lagert, da läuft Wasser raus und da ist auch was kaputt und darunter stand – ich wills zuerst auf Deutsch sagen „Dies Wrack – genannt Demokratie“ – „This wrack called democratie“. Ich blieb fasziniert fast eine halbe Stunde davor stehen. Und ich habe da begriffen, es ist die Stärke der Demokratie, daß sie ihre Fehler bekanntmacht. Leider fällt es so manchem Bürger schwer, das zu akzeptieren. Die haben die Vorstellung von einer blütenweißen oder goldenen Demokratie – die gibt es aber nicht, so wie es kein goldenes Leben gibt.

Zuhörerfrage (Herr Karl-Josef Bußmann):

Frau Dr. Laurien, erlauben Sie eine Frage. Sie hatten sich gerade bezogen auf Herrn Isensee und auf Prof. Böckenförde, die ja nicht aufhören zu betonen, daß der Staat sich zu beschränken habe auf die Sicherung von Frieden und Freiheit und sich jeder moralisierenden Tendenz zu enthalten habe. Ich möchte sie fragen, ob der Staat das so einhalten kann, weil ja gerade doch vom Staate Antworten auf zutiefst moralische Fragen erwartet werden. Genannt sei hier nur der § 218, aber es gibt ja noch andere Beispiele „Soldaten sind Mörder“. Derartige Fragen sind ja eminent moralisch und ich habe den Eindruck, daß die Bevölkerung hier in diesen Fragen auf klare und eindeutige Urteile erwartet. Kann sich der Staat auf Dauer jeglicher moralisierender Tendenz enthalten?

Frau Dr. Hanna-Renate Laurien:

Also, ich nehme das sehr gerne auf und sage zuerst einmal, daß Ihre Bemerkung, die Bevölkerung erwarte klare Urteile, unzweifelhaft nicht stimmt. Ein Teil der Bevölkerung erwartet und der andere Teil der Bevölkerung erwartet das Gegenteil, und der dritte Teil erwartet sogar die Postulierung einer ganz anderen Haltung. So das nur einmal zur Gesprächsbasis.

Böckenförde, der ja nun unermüdlich mit dem Satz zitiert worden ist, den er in der damaligen Debatte zwischen Helmut Schmidt und Helmut Kohl über die Grundwerte des Staates, wo Böckenförde Helmut Schmidt zulieferte und ein Herr namens Karl Lehmann Helmut Kohl zulieferte. Da hat Böckenförde diesen Satz gesagt, den er heute etwas differenziert. Er hat gesagt, „Der Staat kann die Werte auf denen er aufbaut nicht selber schaffen.“ Das stimmt bis heute. Und er hat damals gesagt und das differenziert er heute, „Er kann sie auch nicht schützen.“ Er sagt heute in seinem Aufsatz „Über die Fundamente der Freiheit“, in dem er eine schonungslose Analyse der heute gültigen Steuergesetze vornimmt, und da sagt er, daß der Staat heute die Sittlichkeit gefährde. Sie merken, das geht über den bisherigen Standpunkt hinaus. Das landet bei dem, was ich eben schon einmal gesagt habe, Staat muß die Bedingungen sichern, daß ich so leben kann wie ich leben sollte. Mehr kann er nicht.

Und nun lassen Sie mich einmal mit Todesmut 218 aufnehmen. In dem Moment – und ich habe die Debatten in den jungen Ländern geführt und ich kann Ihnen sagen, die jungen Frauen, auch die Christinnen, überzeugte Christinnen, katholisch wie evangelisch, haben unsere 218-Regelung nicht begriffen – bis heute nicht. Sie empfinden sie als Terror über die Freiheit der Person. Meine damalige Stellungnahme hieß, ich muß den Staat und seine Gesetze bekämpfen, wenn in diesen Gesetzen auch nur die leiseste Verpflichtung zur Abtreibung enthalten wäre. Deshalb geht es zur Zeit um die Bioethik, diese Bioethiksache auf europäischer Ebene – da ist drin in dem Entwurf – die Deutschen haben aber Contra gehalten – da ist drin in dem Entwurf, daß eine ihrer selbst nicht mehr mächtige Person, also eine schwerstbehinderte Person, der Gesellschaft so viel kostet, und deshalb müßten diese Menschen auch ein Opfer für die Allgemeinheit bringen und für medizinische Versuche zur Verfügung stehen. Da hört’s bei mir auf. Solch ein Gestz muß ich bekämpfen, da wird der Staat unmoralisch. Wenn der Staat ein Gesetz gibt, das verschiedene Verhaltensweisen zuläßt, dann kann ich mir zwar wünschen, daß ich es in eine Richtung bekomme, die ein Verhalten fördert, das ich bejahe, aber dann kann ich letztlich dieses Gesetz nicht ablehnen. Dann muß ich meine Antwort woanders finden; und jetzt sage ich mal etwas ganz Konkretes – ich war ja viele Jahre Vorsitzende der CDU-Frauenunion in Berlin. Und da habe ich, als es mit 218 anfing, probiert, ob wir vielleicht zu einem gemeinsamen Standpunkt kommen können – ausgeschlossen – die einen haben gesagt, es muß ein Unrechtstatbestand bleiben, ich muß ein Unrechtsbewußtsein haben, aber Hilfe und nicht Strafe. Und die anderen haben gesagt, daß ich spinne, das ist zu streichen, das ist die Entscheidung der Frau, wo sind wir denn. Dann verschärfte sich die Debatte, dann hieß es, habe ich übrigens auch mit Frau Hildebrandt in dieser Form debattiert, daß ich gesagt habe, ich trete dafür den absoluten Vorrang des biologischen Lebens ein, die anderen treten ein für mindestens die Gleichrangigkeit des sozialen Lebens: „Du kannst doch diesem Kind nicht dieses Leben zumuten.“ Das ist ein unglaublicher Wertekonflikt. Und auf dieser Ebene kann ich mich auch streiten. Aber dann bin ich nicht die papstgebundene Vernichterin von Frauenfreiheit und die andere ist nicht die Kindesmörderin, sondern wir vertreten zwei verschiedene Anschauungen, in denen wir uns streiten und hinterher miteinander einen Wein trinken können. Das ist das, was ich eben mit der ethischen Haltung versucht habe zu verdeutlichen. Und nun der Staat: Wenn der Staat nun also sagt, du kannst das so und so, dann hat er aber die Pflicht, Hilfen für die positive Entscheidung zu setzen, Hilfen für die positive Entscheidung zu setzen und da geht bei mir immer – obwohl ich bin mittlerweile 68 – und da geht bei mir immer noch ein siebzehnjähriges Temperament hoch – alle die, die die Plakate tragen mit 218 – wenn es um die konkrete Hilfe geht, wenn es darum geht, für die Frau in Not die Krippe zu haben, für die Frau in Not die Arbeitsplatzmöglichkeit zu erschließen, dann sind die alle weggetreten und ich habe in meiner Frauenunion, als ich merkte, es geht überhaupt nicht zusammen, gesagt, Leute, ich weiß, daß ich es nicht schaffe, es bleiben zwei Meinungen, halten wir aus, aber wir treffen uns in sozialem Engagement. Da treffen wir uns, daß so viel Hilfe gegeben wird, daß diese Entscheidung so selten wie nur möglich gefällt werden muß. Und ich habe einmal im Spiegel über die „Sollbruchstelle einer Liebe“ geschrieben, da bin ich gefragt worden, ob ich noch katholisch sei und die anderen haben meinen Rücktritt gefordert, weil ich da geschrieben habe, daß neben den sozialen auch die Brüche in der Liebe da sind. Im Bürgerbüro habe ich das oft genug erlebt: Mann totaler Säufer, vier Kinder, das fünfte unterwegs – was macht man da? Oder Mutter dreizehn, Vater vierzehn – was macht man da? Wie will man mit solchen Fällen klarkommen, wenn Sie nicht vor allem auch soziale Hilfe setzen und solch ein Menschenkind dann aufzufangen versuchen. Von daher trete ich schon sehr dafür ein, daß wir die soziale Dimension sehr nach vorne rücken, weil sie die Basis auch für ethische Entscheidungen ist. Und nun habe ich in diesem Spiegel-Artikel einen konkreten Fall beschrieben: Eine ganz flotte junge Frau, Aufstiegsposition, fährt zur Fortbildungsveranstaltung ihrer Firma, ist verlobt, aber hat in der Fortbildungsveranstaltung mehr als eine schwache Stunde – mit Konsequenzen, und erklärt, sie müsse abtreiben, weil ja ansonsten meine Karriere und meine Verlobung weg sind. Und da habe ich geschrieben, daß das dieselbe Moral sei, die Männer haben, wenn sie in den „Puff“ gehen. Da war was los. Daß wir die moralische Verpflichtung bei einer vermeintlich folgenlosen Sexualität – das hatten die Männer immer – die Frauen können jetzt auch eine folgenlose Sexualität haben, und die moralische Dimension dafür haben wir noch gar nicht hinreichend erörtert, das ist ein so großes Feld, denn ich kann sogar die natürliche Methode unsittlich einsetzen, es hängt nicht an der Pille, es hängt am Ziel meines Handelns, nicht am Mittel. Und genau um diese Dinge geht es dann auch bei Gesetzen. Um noch einmal Ihre Frage aufzugreifen, da geht es darum, daß der Staat Bedingungen schaffen kann, aber er kann nicht inhaltlich füllen. Und nun ist ja immerhin bei 218 ein Grundrecht betroffen, das Grundrecht auf Leben und die Menschenwürde – diese beiden Grundrechte zu schützen, dazu ist er in der Tat verpflichtet und das hat auch Böckenförde nie bestritten.

Zuhörerfrage (Herr Karl-Josef Bußmann):

Das Problem, das damals entstand, es geht ja bei moralischen Fragen immer um die Frage „gut oder böse?“ und ich bin so erzogen worden und ich stehe auf dem Standpunkt, daß esdazwischen eigentlich sehr wenig gibt. (Einwurf Frau Dr. Laurien: „Dann bewundere ich Sie.“) Das ist ein sehr harter Kampf, das ist ja nicht die Frage des Kompromisses, es gab damals die erbitterte Auseinandersetzung zwischen Herrn Spaemann aus München und Herrn Böckenförde, da ging es um das Problem „Sind Wertmaßstäbe absolut oder relativierbar?“

Frau Dr. Hanna-Renate Laurien:

Aber junger Freund, darüber habe ich heute abend doch pausenlos gesprochen, daß es eben kein Schwarz/Weiß gibt, ich habe darüber gesprochen, daß es dieses Scharz/Weiß nicht gibt, sondern es gibt ein Abwägen für den Menschen und für dieses Abwägen muß er erzogen werden. Das total Böse ist uns in der Tat in Auschwitz begegnet, aber daß das möglich ist, darauf haben wir keine Antwort. Und daß man Jesus ans Kreuz geschlagen hat, er erfährt das total Böse und nimmt das in die göttliche Existenz als Erfahrung mit ein – das ist unfaßbar, da reicht ein ganzes Leben nicht, darüber nachzudenken. Und wenn Sie das jetzt auf unsere kleinen Alltäglichkeiten beziehen, dann werden wir erkennen, daß wir selten so absolut gut und so absolut böse sind. Aber die Mischformen sind erheblich, und insofern ist das ja vielleicht die größte Veränderung in der Moral. Lesen Sie einmal einen Beichtspiegel von früher, da bekommen Sie einen Herzschlag, also da kommen wir zum Teil wahnsinnig gut weg, weil wir das ja alles nicht mehr machen, sondern es geht ja um eine sehr viel differenziertere Form, also ich habe genascht hä, hä. Aber wenn ich mich einem anderen Menschen verweigere, auch, es gibt auch eine Opferbereitschaft, die unerträglich ist, wenn sich jemand selbst als totales Opfer erlebt, das ist auch unerträglich, der muß bitte auch hin und wieder einmal zu sich selbst ja sagen. Alle diese Dinge sind Abwägungsentscheidungen – das war eigentlich die Botschaft für das dritte Jahrtausend. (starker Applaus)

Herr Paul Wöste:

Frau Dr. Laurien, ein passenderes Schlußwort hätte man sich nicht wünschen können, ich bedanke mich für Ihre Ausführungen und für Ihre Bereitschaft zur offenen Diskussion. Ich darf dann an P. Meyer-Schene abgeben, vorher jedoch den Schülersprecher Ekke Seifert an das Mikrofon bitten.

Schülersprecher Ekke Seifert:

Sehr geehrte Frau Dr. Laurien, im Namen der Schülerschaft des Gymnasiums Leoninum möchte ich mich ganz herzlich bei Ihnen für den sehr interessanten Vortrag und für Ihr Engagement bedanken und möchte Ihnen aus diesem Anlaß diese Aufnahme von unserer gesamten Schulgemeinschaft zur Erinnerung und als Zeichen des Dankes überreichen.

P. Dr. J. Meyer-Schene:

Meine sehr verehrten Damen und Herren, sehr geehrte Frau Dr. Laurien, ich darf mich am Ende der Veranstaltung bei Ihnen verehrte Eltern und Gäste nochmals ganz herzlich bedanken, daß Sie gekommen sind. Die an den Vortrag anschließende Diskussion hat gezeigt, daß Frau Laurien Kernprobleme ethischer Fragen getroffen hat und gleichzeitig auch, daß eindeutige Antworten auf ethische Fragen nicht immer leicht zu geben sind. Diskussionen mit Frau Laurien können auch länger dauern, ich darf auch einmal aus der Schule plaudern, sie hat es ja auch getan, ich habe in Ihrem sog. Kölner Zirkel in den 60er Jahren Diskussionen mitgemacht, daß wir erst mit der letzten Straßenbahn, mit dem sog. Lumpensammler nach Hause fahren mußten, aber es war immer bis zum Ende höchst interessant und wenn es das noch gäbe, käme ich übrigens noch wieder.

Ich darf Ihnen liebe Frau Laurien morgen einen guten Heimweg wünschen und mich noch einmal ganz herzlich bedanken, daß Sie nach Handrup gekommen sind. Ich danke Ihnen.

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Ignatz Bubis im “Handruper Forum”

Toleranz – Erziehungsziel für Schule und Elternhaus

Zum Referenten:
Ignatz Bubis
Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland

Vortrag im Rahmen des „3. Handruper Forums“ vom 19. Mai 1995.

(Wortgetreue Abschrift nach Bandmitschnitt.)

Begrüßung durch P. Dr. J. Meyer-Schene

Zur heutigen Abendveranstaltung begrüße ich Sie alle sehr herzlich, und ich freue mich, daß Sie so zahlreich unserer Einladung gefolgt sind. Das Handruper Forum hat es sich zum Ziel gesetzt, mit Eltern, Lehrern und Schülern und allen Interessierten über bedeutsame Themen im Erziehungsprozeß ins Gespräch zu kommen und im Gespräch zu bleiben.

Einige Gäste unserer heutigen Veranstaltung möchte ich ganz besonders begrüßen, nämlich den Landrat des Landkreises Emsland, Herrn Josef Meiners, den Dezernenten unserer Schule, Herrn Leitenden Schulamtsdirektor Claus Lanfermann von der Bezirksregierung Weser-Ems, und den Arbeitskreis Judentum – Christentum, vertreten durch Herrn Pastor Becker und Herr Lothar Kuhrts aus Freren. Außerdem alle anwesenden Bürgermeister und Pastöre, die ich aber nicht alle im einzelen begrüßen kann.

Mein besonderer Gruß gilt natürlich Ihnen, verehrter Herr Bubis. Ich danke Ihnen, daß Sie trotz Ihrer vielfältigen Verpflichtungen als Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland unsere Einladung angenommen haben, um heute Abend zu uns zu sprechen. In diesem Zusammenhang danke ich auch Herrn Oberstudienrat Paul Wöste, der diese Veranstaltung geplant und alle Vorgespräche zur Durchführung geführt hat.

Das Thema des heutigen Abends „Toleranz – Erziehungsziel für Schule und Elternhaus“ erhält seinen Sinn in vielfacher Weise. Vor dem Hintergrund der menschenverachtenden Verbrechen während des Naziregimes, ist es eine Verpflichtung für uns, unsere Schüler und Kinder zu einem Nichtvergessen zu erziehen. Zum anderen begegnen uns heute wieder zunehmende Gewaltbereitschaft, Fremdenfeindlichkeit, oftmals begleitet von Orientierungslosigkeit und Desinteresse am anderen und seinen Problemen. In Zeiten scheinbar abnehmender moralischer Werte und gleichzeitig intensiver Suche nach weiterhin gültigen Wertvorstellungen, wird der Mangel an Toleranz von Pädagogen, Eltern, Politikern und Gesellschaftswissenschaftlern denn auch häufig als Ursache für gesellschaftliches Fehlverhalten genannt. Auf Elternhaus und Schule kommt in Zeiten des Werteumbruchs mühsame Erziehungsarbeit zu. Sie, verehrter Herr Bubis, können aus persönlicher Erfahrung die Auswirkungen von Intoleranz veranschaulichen. Aufgrund dieser Erfahrung sind Sie zu einem unaufhörlichen Mahner für gegenseitiges Verständnis und Toleranz geworden. Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie zu uns gekommen sind.
Für Sie, Herr Bubis, kann es von Interesse sein zu wissen, daß auf unserem Handruper Klosterfriedhof einer unserer Ordensmitbrüder, Herr P. Dr. Heinrich Middendorf seine letzte Ruhestätte gefunden hat, der am Mittwoch, dem 24. Mai dieses Jahres, in unserer Schule und in unserem Kloster in Steegen bei Freiburg vom Staat Israel posthum geehrt wurde. Im Einladungsschreiben der Botschaft des Staates Israel heißt es:

Zitat: “Der vormalige Rektor des Klosters der Ordensgemeinschaft der Herz-Jesu Priester in Steegen, Pater Dr. Heinrich Middendorf ist von der Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem für seine lebensrettende Hilfe, die er in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgten Juden in Steegen gewährte, posthum mit dem Titel „Gerechter unter den Völkern“, geehrt worden.“ Pater Middendorf ist der erste deutsche Priester, dem die höchste Auszeichnung, die Israel an Nichtjuden verleiht, zuteil wird.

Pater Dr. Heinrich Middendorf ist gebürtig aus Aschendorf im Emsland. Er war Zeit seines Lebens mit dem Klosterleben verbunden. Wir werden hier Pater Middendorf zu gegebener Zeit in einer Gedenkstunde würdigen. Wir als Herz-Jesu-Priester sind stolz auf unseren verstorbenen Mitbruder, der in unserem Kloster in Steegen jüdische Mitbürger vor dem sicheren Untergang bewahrt hat. Sein Vorbild ist uns Vermächtnis und Mahnung.

Legitimen Sinnentwürfen müssen wir in einer pluralistischen Gesellschaft mit deren weltanschaulichen Vielfalt mit Sachlichkeit und Toleranz begegnen, um so zu einer besseren und humaneren Welt hinzuführen. Wenn ich eingangs gesagt habe, daß es unsere Pflicht ist, zum Nichtvergessen zu erziehen, kann das nicht alles sein. Erziehung ist immer verbunden mit einer Option für die Zukunft. Und deswegen möchten wir in unserer Unterrichts- und Erziehungsarbeit am Gymnasium Leoninum immer auch Tore aufstoßen, die Wege in eine humane und friedliche Zukunft eröffnen.

Ein letztes Wort noch, verehrter Herr Bubis. Ich danke Ihnen, daß Sie auf Honorarforderungen verzichtet haben, ich weiß aber, daß Sie eine Stiftung ins Leben gerufen haben, ich nenne sie jetzt einfach die Bubis – Stiftung, und deswegen werden am Ende der Veranstaltung Schüler und Schülerinnen an den Ausgängen für Ihre Stiftung sammeln. Den Betrag werde ich Ihnen dann gerne zukommen lassen. Jetzt darf ich Sie aber bitten, zum Thema „Toleranz – Erziehung in Schule und Elternhaus“ zu sprechen. Ich danke ihnen.

Vortrag Ignatz Bubis

Vielen Dank für die freundliche Einladung und herzliche Begrüßung. Ich möchte mich zunächst einmal dafür entschuldigen wegen des verspäteten Eintreffens. Ich habe nur an eines gedacht, Freitag, aber ich habe doch unterschätzt, die Zufahrten nach Handrup, die ja nicht ganz so einfach sind, um hier schnell her- und durchzukommen. Tut mir leid, ich bitte um Entschuldigung.

Ich will gleich einmal damit anfangen, weil Sie vom Werteumbruch gesprochen haben. Sehr viele sprechen von der Suche nach neuen Werten. Da habe ich manchmal den Eindruck, als ob wir alle schon vergessen haben, mit welchen Werten wir seit Jahrhunderten gelebt haben und welche Werte uns bekannt sind. Und ich glaube, wenn wir diese Werte beachten, dann brauchen wir auch nicht nach neuen Werten zu suchen. Diese Werte waren sicherlich, gerade in der Zeit des Nationalsozialismus, mit Füßen getreten worden. Die Umstände, wie Menschen diesen Krieg und diese Jahre erlebt und überlebt haben, haben sicherlich in weiten Kreisen Spuren hinterlassen, sie haben aber auch Spuren der Verrohung hinterlassen. Und hier ist etwas, womit wir alle konfrontiert sind, und ich spreche jetzt nicht nur über die Jahre des Nationalsozialismus, sondern auch auch über die letzten 3-5 Jahre, als die Auflösung der Blöcke kam und viele von uns glaubten, jetzt würde es in der Welt etwas ruhiger und beschaulicher werden – und daß die Kriegsgefahren gebannt seien. Da mußten wir erleben, wie neue ethnische Kriege oder andere plötzlich an allen Orten dieser Erde ausbrachen, als ob die Geschichte des 2. Weltkrieges mit 55 Millionen Toten spurlos vorbeigegangen wäre. Sicherlich könnte der ein oder andere sagen, Tschetschenien und Ruanda, das ist alles weit weg, aber was vor unsere Türe sich im ehemaligen Jugoslawien abspielt, das kann nun wirklich keiner sagen, daß das alles mit uns nichts zu tun hat. Wir erleben es leider, daß es in diesen Jahren oft zu Verbrechen, die dort geschehen sind, gekommen ist. Auch hier, wo wir noch vor 3 Jahren, als die ersten Bilder zu uns rüberkamen, mit großer Empörung reagiert haben. Wir empören uns heute auch noch, aber das war es dann auch mit dem bißchen Empörung. Wenn wir auf dem Gebiet der europäischen Einheit, was ganz wichtig ist, damals so weit wie das heutige Europa gewesen wären, dann wäre es möglicherweise doch nicht zu solchen Exzessen gekommen. Insofern sind schon Fortschritte erzielt worden, aber wie wir Europäer in dieser Zeit im ehemaligen Jugoslawien gehandelt haben, ist aber für Europa beschämend. Daß ist nur eines der Beispiele der Verrohung der Zeit, deren Ursache nicht zuletzt in den Grausamkeiten des 2. Weltkrieges liegen, die uns alle haben in irgendeiner Form anders werden lassen. Ich komme zurück zu den Werten. Leider muß man auch hier feststellen, daß die Bindung der Menschen an die Ethik und Moral der Religionsgemeinschaften und Religionen – übrigens aller Religionen -abnimmt, nicht zuletzt deshalb, weil zu viele sich auch von den Kirchen und von den Religionsgemeinschaften abwenden. Wir erleben es sehr oft. Das geschieht in der katholischen Kirche, in der evangelischen Kirche, auch im Judentum, aber auch im Islam. Wir müßen erleben, daß die Abwendung der Menschen immer stärker zunimmt und gleichzeitig dann auch ein Fundamentalismus auf der anderen Seite entsteht. Daß sich insbesondere im Islam, aber auch im Judentum ein neuer Fundamentalismus breitmacht, mit dem wir so nicht weiter leben werden können. Denn Fundamentalismus heißt zweierlei: Unakzeptanz anderer Glaubensrichtungen, aber auch eine Intoleranz gegenüber jedem und allem. Und wenn wir heute von der Erziehung zu der Toleranz sprechen, so halte ich das für nicht ausreichend.

Der Begriff Toleranz entstand vor vielen Jahrhunderten, damals meinte man, den anderen zu erdulden oder zu ertragen. Toleranz hieß aber noch nicht, den anderen auch zu akzeptieren. Wenn wir uns heute in unserer Gesellschaft angesichts der Erscheinungen der Fremdenfeindlichkeit, des Rassismus umsehen, dann müssen wir feststellen, daß zwar die Mehrheit der Gesellschaft sich für tolerant hält, aber Toleranz von einer Gleichgültigkeit nach dem Motto „Ich bin ja nicht so“, „Mich stört es nicht“ und „Von mir aus soll der Mensch so sein“ sieht. Aber das zeigt noch lange nicht die Bereitschaft, den anderen auch zu akzeptieren.

Wenn ich diesen Zustand etwas beschreiben soll, der vielerorts und den meisten von uns unter dem Begriff Ausländerfeindlichkeit verstanden wird, so müssen wir doch feststellen, daß das keine Ausländerfeindlichkeit im üblichen Sinne ist. Ich kann das nicht oft genug wiederholen: Ausländer sind auch Schweitzer, Australier, Neuseeländer, Holländer, Dänen, Franzosen oder weiße Amerikaner. Ich habe viele Ausländer aufgezählt, zu denen überhaupt keine Feindschaft in Deutschland besteht. Was wir in Wirklichkeit haben, ist eine Fremdenfeindlichkeit – und diese Fremdenfeindlichkeit drückt sich in erster Linie zu denen gegenüber aus, die uns fremd sind. Fremd, sei es in der Religion oder in der Kultur. Dabei kann es sich durchaus um Deutsche handeln, dann würde es schon ausreichen, wenn sie uns fremd vorkommen.

Aber auch Behinderte sind für einen Teil unserer Gesellschaft Fremde. Sie sind nicht bereit, diese Fremden, die Behinderten zu akzeptieren. Das ist etwas, was mich auch besorgt macht, denn diese Fremdenfeindlichkeit hat in der Regel eine rassistische Grundlage oder zumindest eine Nichtbereitschaft, den anderen zu tolerieren. Wobei ich hier sehrwohl unterscheide zwischen der Gewalt, die wir den Fremden gegenüber erleben, und zwischen der verbalen Gewalt oder des Denkens in diesen Kategorien. Wir sind seit 3 Jahren, mal stärker, mal schwächer mit Gewalt konfrontiert worden, mit Gewalt wie in Hoyaswerda oder wie in Mölln. Das sind Orte, von denen mancher nicht wußte, wo sie liegen. Aber diese Namen haben die Runde gemacht in der Welt und wurden publik. Plötzlich wußte die ganze Welt, wo Hoyaswerda liegt, Namen die sonst keinem etwas gesagt haben. Wenn man früher an Solingen dachte, dachte man an Schneidwaren. Ich war heute nachmittag in Bonn bei einer Veranstaltung mit Studenten und am Schluß der Veranstaltung haben sie Halbsätze gesagt und wollten diese von mir ergänzt haben. Darunter war: „Wenn sie den Namen Solingen hören, woran denken sie.“ Vor 3 Jahren hätte ich gesagt, daß Messer, die in Solingen produziert werden sehr gut sind, denn Solinger Stahl war berühmt. Aber heute, ohne nachzudenken, heißt es, ob ich will oder nicht, wenn ich Solingen höre, denke ich an Geschehnisse, die sich in Solingen ereignet haben. Dabei, wenn wir zum Vergleich heute von der notwendigen Zivilcourage sprechen, dann ist das doch heute ganz anders als zu den Zeiten als Pater Middendorf hier Menschen versteckt hat, denn der hat sein Leben riskiert. Er hat sein Leben, seine Freiheit, seine Gesundheit riskiert und hat es dennoch getan.

Heute ist es risikolos, Menschen, die Hilfe bedürfen, zu helfen. Bis auf diejenigen, die Brandstifter sind und gegen diese Menschen etwas vorhaben, steht der Staat auf unserer Seite, auf der Seite der Hilfsbereiten. Der Staat droht demjenigen nicht, der einem hilfsbedürftigen Hilfe leistet, daß er ihn einsperren wird oder zum Tode gar verurteilen wird, was ja alles in der Nazizeit möglich gewesen war. Deshalb sind die Unterscheidung zwischen Zivilcourage damals und Zivilcourage heute unterschiedliche Welten. Das, was damals des Mutes bedurfte, ist heute ja gar nicht mal gefordert. Und schon gar nicht der Einsatz des eigenen Lebens und Freiheit. Um so unverständlicher ist es, daß eigentlich relativ wenig Menschen zu dieser Hilfe bereit sind. Ich unterscheide dabei zwischen den Gewalttätern und den anderen. Die Zahl der Gewalttäter ist nicht sehr groß, so sehr der Schaden, den sie anrichten, die Verbrechen, die sie begehen, schlimm ist. Hier ist es eine Aufgabe des Staates, der Gewalt zu begegnen und mit Staat meine ich Polizei, Justiz und alle zuständigen Behörden, die damit beauftragt sind. Eine gewisse Besserung hat es sicherlich in den letzten 2 Jahren insoweit gegeben, als ich den Eindruck hatte, daß 1992/93 diese Gewalttäter nicht ernst genug genommen wurden. Ich gebe nicht als Begründung, daß die Justiz auf dem rechten Auge angeblich blind sei, das trifft nicht zu – zum größten Teil handelt es sich um eine liberale Justiz, die meinte, nur mit erzieherischen Maßnahmen dem begegnen zu können und daß es sich bei den Gewalttätern um dumme Jungs, Verführte handele, die man noch auf den richtigen Weg zurückbringen kann.

Es hat sich aber herausgestellt, daß die Einstellung den Gewalttätern sehr entgegengekommen ist, als daß sie wirklich geholfen hat. Dazu ein Beispiel aus Hoyerswerda: Als damals die Brandsätze gegen die Menschen geflogen sind, hat die Polizei am gleichen Abend etwa 80 junge Leute festgenommen, die sie am nächsten Tag alle laufen lassen haben. Zu gleicher Zeit wurden diejenigen, die nach Hoyaswerda gekommen waren, weil sie dort in Asylheimen untergebracht werden sollten, in einen anderen Ort gebracht. Daß das für die Gewalttäter eine Bestätigung war, weil der Staat auf ihr Forderung eingeht, hat die Sache verschlimmert. Ich behaupte, ein anderes Handeln in Hoyerswerda hätte vielleicht Rostock nicht gebracht. Aber selbst in Rostock hatte man den Eindruck, dort war es nicht die Justiz, sondern die Polizei, die nicht alles getan hat, was möglich war, so daß die Übergriffe 3 Tage lang angehalten konnten. Ich war vor Ort, habe das gesehen und nicht nur nach meiner Auffassung hätte die Polizei in ganz wenigen Stunden Herr der Lage sein müssen.

Es sind ja auch Verantwortliche in Rostock zur Rechenschaft gezogen worden. Der Schaden aber war bereits da. Ich meine nicht den materiellen Schaden, sondern den imateriellen Schaden, was den Menschen und damit der Gesellschaft zugefügt wurde.

Ich wollte das nur als Beispiel sagen, und ich habe doch den Eindruck, daß sich inzwischen etwas verändert hat. Aber diese Gewalttäter sind nicht meine Hauptsorge, denn hier erwarte ich, daß der Staat, daß die Justiz tätig wird, und ich glaube auch, daß sich in diesem Denken etwas verändert hat, daß die Gewalttäter doch wieder ernster genommen werden. Bei den Gewalttätern selbst handelt es sich zu 90% um Jugendliche. Die Zahl dieser Gewalttäter ist aber nicht sehr groß, der Schaden, den sie anrichten allerdings ist sehr groß. Aber es sind zu 90% Jugendliche. Hier heißt es, mit zwei Mißverständnissen aufzuräumen. Das erste, was allgemein als Schluß gezogen wird ist, daß es die Jugend ist, die so verroht sei, daß sie keine Zukunft sieht und deshalb zu dieser Gewalt schreitet. Es handelt sich bei den Tätern überwiegend um Menschen aus den Rändern der Gesellschaft. Die Wirklichkeit sieht aber ganz anders aus.

Wenn man die Gewalt beiseite läßt, dann ist die Fremdenfeindlichkeit bei jungen Menschen, Rassismus bei jungen Menschen, weit weniger verbreitet als in der älteren Generation. Ich kann das nicht nur aus Umfragen bestätigen, die regelmäßig durchgeführt werden, ich kann es auch aus eigenem Wissen bestätigen, denn in den letzten 2 ½ Jahren, seitdem ich dieses Amt inne habe, habe ich mit weit mehr als 250.000 jungen Menschen einen Dialog geführt. Unmittelbare Kontakte mit mehr als 250.000 Schülern, Studenten, Mitgliedern von Jugendverbänden haben mir bestätigt, daß diese Umfragen tatsächlich stimmen, daß bei so jungen Menschen so etwas wie Rassismus und Fremdenfeindlichkeit weit weniger verbreitet ist, als bei den älteren Generationen. Wenn man die Statistiken des Bundeskriminalamtes oder des Verfassungsschutzes genau betrachtet, dann stellt man fest, das von den Gewalttätern nur 1% einfache Arbeiter, 9% Arbeitslose, 34% Angestellte und 43% Schüler, Studenten, Auszubildende, die alle einen Arbeitsplatz oder Studienplatz haben. Diejenigen, die diesen Platz nicht haben, werden unter den Arbeitslosen geführt. Das ist sehr wichtig für die Polizei, wie sie damit umgeht, woran das liegt. Die Zahl derjenigen, die nur fremdenfeindlich denken ist schon erheblich größer. Nebenbei gesagt: die Zahl der Gewalttäter aus dem rechtsextremen Spektrum wird auf nicht mehr als etwa 8000 junge Menschen geschätzt. Die gleiche Zahl gibt es bei den Linksautonomen wie Skinheads, denen es um die Gewalt geht, egal ob rechte oder linke, Hauptsache sie können der Gewalt frönen. Für viel gefährlicher halte ich, auch wenn diese Zahl nicht so groß ist, die geistigen Brandstifter. Die mit ihren Äußerungen und mit ihren Parolen junge Menschen die zur Gewalt neigen, sozusagen von ihnen den „Buhmann“ geliefert bekommen, gegen den sie dann ihre Gewalt anwenden können. Tatsächlich sind viele Gewalttäter gar nicht so in ihrer Ideologie verfestigt, besonders bei den Rechten. Bei den Linken ist das schon etwas anders. Bei Ihnen sind die Gewalttäter auch schon in einem höheren Durchschnittsalter als bei den rechtsextremen Gewalttätern.

Wir erleben es ja, daß wie z.B. in Wuppertal 13-14-jährige Schüler den jüdischen Friedhof dort auf bestürzende Weise geschändet haben. 13-14-jährigen Schülern anzulasten, daß das etwas mit Ideologie zu tun hat, ist sicherlich vermessen und wird auch wohl nicht stimmen. Aber das, was die Kinder aus der Gesellschaft bzw. aus den rechtsextremen Flugblättern und Zeitschriften entnehmen, ist es, was sie dazu verleitet, solche Dinge zu tun. Vielleicht gibt es auch noch einen Teil, der in erster Linie damit provozieren will, weil man sich davon die höchste Aufmerksamkeit verspricht. Dann werde z. B. eben Judenfriedhöfe geschändet, denn sie wissen, hier treffe ich den Nerv der Gesellschaft. Die geistigen Brandstifter sind auch eine kleine Minderheit, denn noch nicht einmal jener, der sie wählt und sich mit deren Programm identifiziert, will sie wirklich im Bundestag sehen. Aber unter den Wählern gibt es halt solche, die meinen, dadurch einen Protest zum Ausdruck zu bringen. Aus welchen Gründen auch immer: aus politischer Verdrossenheit, Politiker-Verdrossenheit, was immer der Grund sein mag. Hier heißt es aufzupassen, daß das nicht überhand nimmt.

Erfreulicherweise, und ich glaube sogar, daß der geringe Zuwachs im Wahljahr 1994 an Stimmen für rechtsextremen Parteien nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, daß die Mehrheit der Gesellschaft auch solche, die ähnlich denken, letztendlich die Gewalt nicht will. 99% der Gesellschaft zeigt eine deutliche Abneigung gegen diese Gewalt, was sich in dem Stimmenanteil der rechtsextremistischen Parteien bei den Wahlen 94/95 gezeigt hat. Wir haben aber eine schon größere Gruppe, die sehrwohl fremdenfeindlich denkt und sich noch nichteinmal für tolerant hält, aber auch das ist nicht die Mehrheit in der Gesellschaft. Die Mehrheit der Gesellschaft lehnt zwar Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in einem gewissen Umstand ab, wobei sie sich des Begriffes „Toleranz“ bedient, indem sie den anderen, den Fremden ertragen, aber noch lange nicht akzeptieren. Das ist schon die Mehrheit der Gesellschaft und hier heißt es tatsächlich, aus der Geschichte zu lernen. Ich halte dieses Lernen aus der Geschichte, aus der Vergangenheit für sehr wichtig. Sicherlich hat mein eigenes Leben mich geprägt, es hätte mich in unterschiedlicher Richtung prägen können.

So hätte ich z.B. eine Bitternis ausleben können, die sich gegen alles, was sich nicht mit mir Identifiziert, richtet. Ich habe zu keinem Zeitpunkt lang in jedem meinen Feind gesehen, denn er war es ja auch nicht. Es gab sicher viele in dieser Zeit, die viel mehr hätten tun können als sie getan haben, aber für die damalige Zeit will ich das auch nicht nachtragen, weil ich weiß, daß nicht jeder diesen Mut hatte wie ihr Bruder Middendorf auch sein Leben, seine Freiheit, seine Gesundheit riskiert hat. Aber heute erwarte ich doch von der Gesellschaft, daß sie mehr tut als Toleranz gegenüber den Fremden zu zeigen.
Wo fangen wir an und wo setzen wir an. Für mich ist es eigentlich das erste Mal bei solchen Veranstaltungen, daß die Eltern von sich aus schon mit einbezogen wurden und gemeinsam mit ihren Kinder über das Problem sprechen. In der Regel heißt es: „Was können wir Eltern tun? – Was können die Kinder tun? – Was können wir Erzieher, was kann die Schule tun?“ Ich versuche jedesmal zu sagen, daß die Erziehung immer im Elternhaus beginnt. Die Erziehung beginnt nicht in der Schule und das, was im Elternhaus möglicherweise versäumt wird, kann die Schule sehr oft nicht reparieren. Denn die Schule wird in der heutigen Gesellschaft, in einer Gesellschaft, die sehrwohl egoistisch ist, und die man als Anspruchsgesellschaft bezeichnen kann, sehr häufig als Reparaturwerkstatt betrachtet. Diese Gesellschaft hat sich nämlich angewöhnt, von anderen etwas zu erwarten, insbesondere von dem Staat, von der Schule, von wem auch immer, das andere die Aufgaben übernehmen, die man selbst nicht bereit zu übernehmen ist. Ich weiß, meine Mutter hat 7 Kinder großgezogen, leider nicht alle allzu groß, weil 3 schon im Jugend- und Kindesalter verstorben sind. Aber sie kannte keinen 8-Stundentag. Wer will heute schon von einem 8-Stundentag sprechen. Einmal sind wir für 2 Wochen in Urlaub gefahren, in den nächsten Ort, der 22 km entfernt war, weil es dort einen Wald gab, in dem man spazierengehen konnte. Das war der Urlaub. Mein Vater hat nicht 38 Stunden gearbeitet, auch nicht 42, der Minimalfall war etwa 60 Stunden. Aber meine Eltern haben nicht erwartet, daß ihnen jemand die Erziehung der Kinder abnimmt, sondern sie haben es auf sich genommen. Heute fühlen sich die, die 38,5 Stunden arbeiten schon schon im Streß und meinen 35 sind genug. Ich gönne jedem auch 35 Stunden, nur dann sollten wir einen Teil unserer Freizeit – vor allem aber den Teil der neu hinzugewonnenen- auch mit unseren Kinder verbringen. Wobei ich persönlich dazu sagen muß, daß ich mich auch nicht immer darum bemühte. Allerdings hat meine Frau sich darum gekümmert. Aber es kann nicht nur die Aufgabe der Mutter sein, denn ein Kind braucht zwei Elternteile, um eine entsprechende Erziehung zu genießen. Deshalb begrüße ich es ausdrücklich, wie Sie in der Presse und in der Einladung zu diesem Abend geschrieben und in der Begrüßung über Erziehung und Schule gesagt haben.

Natürlich hat die Schule die Aufgabe das fortzusetzen, natürlich hat die Schule auch die Aufgabe zu reparieren, wo es eben nicht anders geht. Aber sie darf sich nicht nur auf’s Reparieren beschränken.
Gefordert ist eigentlich auch die ganze Gesellschaft, denn wir haben noch etwas anderes. Wir haben eine verbale Gewalt. Wir merken es gar nicht mehr, wie sehr wir verschiedene Begriffe einfach übernehmen und sie weitertransportieren. Auch im Umgang mit fremden Menschen. Ich habe meine Erfahrungen eben in dieser Zeit gemacht, die sich bei mit eingeprägt haben, die mich haben nicht blind werden lassen, sondern aus meinen Lehren habe ich eben nicht diese Bitternis gezogen, die vielleicht bei vielen meiner Generation noch vorhanden ist, die dadurch gegenüber dem Leid von Dritten unempfindlich geworden sind. Ich verrate keine Geheimnisse, obwohl ich sagen muß, daß sich das in der letzten Zeit geändert hat. Aber sehr oft bin ich von Mitgliedern der Jüdischen Gemeinschaft nach meinen Auftritten gefragt worden: „Was gehen dich eigentlich die Türken an? Was gehen dich die Zigeuner an? Wir haben dich gewählt, damit du dich um die Angelegenheiten der Jüdischen Gemeinschaft in Deutschland kümmerst – und das solltest du nicht vernachlässigen und dich nicht um andere Dinge kümmern.“

Ich habe versucht, meinen Glaubensbrüdern und -schwestern zu erklären, daß wir nach 1945 beklagt haben, daß in den Jahren 33-45 vielzuviele weggeschaut haben. Und hätten sie nicht weggeschaut, hätte man dem ein oder anderen helfen können. Aber wenn wir dieses beklagten, dann kann es doch nicht angehen, daß wir selbst, wenn es nicht um uns geht, wegschauen und die Lehren aus der Vergangenheit für die Gegenwart nicht ziehen. Wenn es Menschen gibt, die unserer Hilfe bedürfen, dann dürfen wir sie ihnen nicht verweigern. Sehr oft ist ein freundliches Wort eine ganze Menge, weil derjenige, der in Not ist, das Gefühl hat, es geht jemanden etwas an, was mit ihm geschieht, Das kann schon eine enorm positive Wirkung haben.

Deshalb, und das ist meine Lehre aus der Geschichte, versuche ich das nachzuliefern, was mir nicht geboten wurde, wobei ich dazu sagen muß, daß ich mir doch nicht ganz sicher bin, ob es mir indirekt doch geboten wurde. Denn, und das ist sicherlich kein Einzelfall, es gab auch anderes. Ich bin September 1942 in ein Zwangsarbeitslager gekommen, und angesichts der Geschehnisse in dem Lager zwischen 1942 bis 1945 konnte es passieren – unsere Lager lag unmittelbar an einer Bahnstrecke – daß wir plötzlich aus einem Lebensmittelwagon, der für Soldaten der Luftwaffe bestimmt war, einen Sack Mehl zugeworfen bekamen.Dazu riefen sie: „Ihr Saujuden, hier habt ihr verdorbenes Mehl!“ Aber es war Mehl, das überhaupt nicht verdorben war. Auch das haben wir, habe ich in diesem Lager erlebt, wo 1200 Menschen zu diesem Zeitpunkt da waren. Es gab das Lager, in dem Schindler war, der auch nicht aus theoretischem Humanismus versucht hat, das Leben der Menschen zu lindern. Sondern aus reinem Menschlichkeitsgefühl. Er hat schlicht und einfach ein Stück täglicher Menschlichkeit gezeigt und solche gab es viele. Vielleicht habe ich diesem Umstand auch mein Leben zu verdanken, vielleicht aber auch, weil der Fliegerhorstkommandant, als ihm gesagt wurde, er müsse die Juden abliefern und würde dafür Turkmenen bekommen würde. Turkmenen, die in die Kriegsgefangenschaft geraten waren, aber von den Nazis besser behandelt wurden als Russen, Weißrussen oder Ukrainer. Er wußte genau, wenn er die Turkmenen akzeptieren würde, würde er uns dem Tod ausliefern. Er wußte auch, daß die Turkmenen, wenn er sie nicht nimmt, deshalb nicht vernichtet werden, weil diese Prozedur der Vernichtung sich eigentlich nicht gegen die Turkmenen richtete, aus welchen Gründen auch immer. Ob sie bei einem Sieg der Nazis am Ende nicht doch auch zu den Leidtragenden geworden wären, weiß man nicht. Sie wurden nicht als gleichberechtigte Menschen behandelt, sie wurden allerdings auch nicht umgebracht. Auf diese Weise war ich in einem solchem Lager bis Juni 1944. Ich sage das als Beispiel, weil vielleicht auch diese Menschlichkeit, die ich dort erlebt habe, mich indirekt mitgeprägt hat. Vielleicht hat mich auch das Elternhaus geprägt. Ich hatte einen Geschäftspartner, der immer gesagt hat: „Der Mensch ist schlecht, jeder Mensch ist schlecht, und jederzeit, bis er dich nicht vom Gegenteil überzeugt hat, mußt du davon ausgehen, daß er schlecht ist.“ Ich wußte von meinem Großvater: „Jeder Mensch ist gut, bis er dich vom Gegenteil überzeugt hat.“ Aus einer solchen Sichtweise, aus einer solchen Betrachtungsweise kann man für sich und auch für den Umgang mit Menschen lernen.

Wie wir mit dem Phänomen der Fremdenfeindlichkeit, der Gleichgültigkeit fertig werden, dafür habe ich auch kein Patentrezept. Aber wir sind alle gefordert, Verallgemeinerungen und Vorurteilen zu begegnen. Das ist etwas, was nicht sehr leicht und einfach ist. Wir kennen ja alle diese Begriffe, die, ich will sie ja gar nicht alle wiederholen, die bei der Diskussion um das Asylrecht gebraucht wurden. Wir erleben es ja jeden Tag am Arbeitsplatz, beim Stammtisch, in der Straßenbahn, im Bus, woimmer wir uns befinden: „Ach die vielen Ausländer sind alles Kriminelle.“ oder ähnliches. Wie weit solche Vorurteile reichen, kann man vielleicht erkennen, wenn man sich vergegenwärtigt, wo die schlimmsten Übergriffe passiert sind und wenn man diese Übergriffe im Verhältnis zu den dort lebenden Ausländern oder Fremden sieht. In Hoyerswerda war die Anzahl der Ausländer 0,4%. In Rostock war der Anteil der Ausländer 0,7%. Wir in Westdeutschland, die wir viel mehr Umgang mit Ausländern haben, gibt es 9% Ausländer. Wenn man diese 9% betrachtet, und die Ausländer, die wir nicht als Ausländer sehen, abzieht, dann haben wir in Deutschland keine 9% Ausländer. Denn unter den vielen Millionen sind Schweizer, Amerikaner, Franzosen, Holländer und Japaner. Die Japaner sind eine Ausnahme. Der Japaner sieht fremdländisch aus, hat eine fremde Kultur, eine fremde Religion. Eigenartigerweise hat gegen Japaner keiner was. Aber bei denen haben die Leute das Gefühl: „Die wollen nichts von uns, die bringen uns was“, z.B. als Tourist oder Investoren. Deshalb gibt es da eine unterschiedliche Betrachtungsweise. Aber zurück zu den Zahlen. Im Bundesdurchschnitt gibt es einen Ausländeranteil von ca. 9%, in Mölln waren es um die 3%. In einer Stadt wie Rüsselsheim, wo der Anteil der Ausländer bei 28% liegt, ist nie etwas passiert. Das macht doch deutlich: Dort wo man die Vorurteile nicht kennt, wo man mit den Menschen zu tun hat, dort stellt man plötzlich fest „Die sind ja doch nicht so, wie ich das am Stammtisch gehört habe.“ Wenn wir uns selbst ins Gedächtnis rufen, wenn wir ins Ausland fahren, egal wohin, ob Spanien oder Italien. Wenn wir zurückkommen, sind wir begeistert von der Gastfreundschaft, von den Menschen, die dort leben und wie freundlich sie sind. Aber wenn diese Menschen hierher kommen, denkt man, es sind Feinde geworden. Dabei sind das alles die gleichen Menschen.

—– hier fehlt ein Teil ——

Lassen sie mich zum Schluß noch etwas anderes erwähnen, weil das jetzt gerade 50 Jahre nach Kriegsende ein großes Thema ist oder ein großes Thema geworden ist. In diesem Jahr 1995 haben wir nun alle redlich den Opfern des Holocaust gedacht, bedauert und uns erinnert. Jetzt in dem Jahr 1 nach 50 wollen wir an diese Zeit nicht mehr denken, nicht mehr sprechen. Es sei an der Zeit, endlich alles abzuhandeln. Ich verstehe, daß gerade viele junge Menschen auch dazu sagen: „Was habe ich eigentlich mit dieser Zeit zu tun? Ich habe damals weder gelebt noch gehandelt. Selbst meine Eltern waren damals noch nicht da, oder waren Kinder. Auch meine Eltern können nichts dafür. Es sind schon meine Großeltern, die möglicherweise etwas damit zu tun haben, aber sie haben es mir nie erzählt, daß sie unter den Tätern waren. Denn wer erzählt schon seinem Kind, seinen Enkelkindern, daß er einmal unrechtmäßig und verbrecherisch gehandelt hat, wer tut das schon von sich aus. Was soll ich damit zu tun haben und warum muß ich die Last der Vergangenheit, die Schuld der Vergangenheit meinem Enkelkind gegenüber alleine tragen.“

Ich will deutlich machen, ich glaube hier brauche ich das nicht extra zu betonen: Schuld ist etwas sehr Persönliches. Nur wer persönlich schuldig, wurde ist schuldig. Es gibt keine Schuld der Söhne für die Väter, oder der Väter für die Söhne. Was es gibt ist eine Verantwortung, die man für die Gesellschaft hat. Eine Verantwortung für die Gesellschaft, die auch aus den Lehren aus der Vergangenheit gezogen werden müssen. Wenn wir davon sprechen, daß die Vergangenheit nicht in Vergessenheit geraten darf, daß die Erinnerung an diese Zeit wach gehalten werden muß, dann heißt das nicht, sich jeden Tag einen Sack Asche über das Haupt zu streuen und sich schuldig zu fühlen. Sondern es heißt, zu wissen, was in der Vergangenheit geschehen ist, um daraus für die Gegenwart und die Zukunft zu lernen. Denn wenn wir die Vergangenheit vergessen, laufen wir Gefahr, daß sich alles wiederholen kann. Die Vergangenheit, die deutsche Geschichte ist weder nur 12 Jahre von 1933 – 1945 noch 1000 Jahre minus 12. Die deutsche Geschichte ist als Ganzes zu sehen. Mit den guten, mit den vorbildlichen Zeiten, an die wir uns gerne alle erinnern wollen und diese Zeiten uns bemühen wachzuhalten und nicht zu vergessen, um daraus auch den Stolz, der des eigenen Volkes, der eigenen Nation herzuleiten. Aber die 12 Jahre – am liebsten weg damit. Das geht nicht, Geschichte geht nur als Ganzes und Erinnern und Vergessen bedeutet nicht, sich mit Schuld zu beladen, sondern für die Gegenwart und die Zukunft zu lernen.

Podiumsdiskussion

P. Dr. J. Meyer-Schene:

Sehr geehrter Herr Bubis, ich danke Ihnen für Ihre nicht nur Interessanten, sondern auch sehr persönlichen Ausführungen. Ich bin sicher, daß sehr viele von uns nachdenklich nach Hause gehen werden. Ich will hier nun keine Zusammenfassung ihrer Ausführungen geben, aber jene Unterscheidung zwischen Ausländerfeindlichkeit und Fremdenfeindlichkeit wird uns im pädagogischen Bereich so manche Aufgabe stellen, vor allem auch, daß Toleranz nicht nur als Duldung und Ertragen verstanden wird, sondern als ein Akzeptieren. Wenn Ihnen aufgefallen ist, daß wir hier an unserer Schule zu dieser Veranstaltung Eltern, Schüler und Lehrer eingeladen haben, so ist das ganz bewußt geschehen. Als Vertreter einer freien katholischen Schule weiß ich, daß das, was Sie in ihrem Vortrag betont haben, vollkommen richtig ist: „Schule kann nur das fortsetzen, was im Elternhaus begonnen hat.“ Ich danke Ihnen Herr Bubis, daß Sie Schule nicht als Reparaturbetrieb unserer Gesellschaft verstehen, was heute weithin geschieht. Nur wenn Elternhaus, Schule, Kirchen und andere gesellschaftlichen Institutionen zusammenwirken, sind erzieherische Prozesse verheißungsvoll und ermöglichen es, Verantwortung für die Zukunft in unserer Gesellschaft zu übernehmen. Ziel und Sinn dieser Veranstaltung sind erreicht, wenn wir neu motiviert sind, uns für mehr Verständnis und Toleranz in unserer Gesellschaft einzusetzen. Sie, Herr Bubis, haben sich dankenwerterweise bereiterklärt, noch für Fragen zur Verfügung zu stehen. Ich darf unsere Gäste bitten, die Fragen über ein drahtloses Mikrofon zu stellen. Nochmals sehr herzlichen Dank für Ihre Ausführungen.

P. Dr. J. Meyer-Schene(nach einer kurzen Ruhephase):

Herr Bubis, Sie müssen diese Pause so verstehen, daß wir hier im Emsland immer etwas nachdenklich sind und uns erst dann zu Wort melden.( freudiges Gelächter)

Frage aus dem Publikum:

Herr Bubis, ich stamme nicht aus dem Emsland.( freudiges Gelächter), sondern aus dem Osnabrücker Land, das aber auch erst, nach dem Ende einer langen Reise, denn gebürtig komme ich aus der sogenannten „Kalten Heimat“, bin also gebürtiger Pole. Meine Frage: Wie weit hängt das nur den Schülern ab, oder wie weit hängt das sozusagen auch von den Politikern ab, daß die Schüler nicht lernen, Verantwortung zu übernehmen. Ich selbst bin jemand, der als 8jähriger zu hören bekam: „Du bist ein Pollak!“ Meine Eltern haben sich gezwungen gesehen, mir das polnische Gespräch abzugewöhnen. Ich habe es mir später wieder angewöhnt und habe jetzt auch mit Aussiedlern gearbeitet, die aus Rußland oder Polen kamen. Ich sehe das Problem, ich habe da keine Berührungsängste, aber es ist ungeheuer schwierig für mich festzustellen, daß mach ein Politiker so tönende Worte von sich gibt wie „Er habe die Gnade der späten Geburt.“ Ich möchte keine Namen nennen, das dürfte wohl alles hinlänglich bekannt sein. Das ist ja auch nicht gerade ein Vorbild für junge Menschen, die sagen: „Wir brauchen ja keine Verantwortung zu übernehmen, das haben ja die Alten, die Älteren gemacht.“

Herr Bubis:

Ich muß dazu sagen, daß ich mit dem Begriff der „Gnade der späten Geburt“ einerseits ein gewisses Verständnis habe, denn ich weiß, wie es gemeint war. Ich habe darüber mit der betreffenden Person auch schon gesprochen. Gemeint hat er, er wisse nicht, wie er gehandelt hätte, wenn er in dieser Zeit gelebt hätte. Allerdings kommt es für mich darauf an, wer das sagt. Wenn das ein Durchschnittsbürger sagt, ist das etwas anderes, als wenn es jemand sagt, der als Kanzler Verantwortung trägt. Denn jemand, der Verantwortung trägt, muß sich eigentlich sicher sein, daß er in schwierigen Zeiten auch diese Verantwortung mit übernehmen würde. Insofern habe ich in diesem Fall Verständnis. Aber in diesem Zusammenhang mit der Verantwortung kommt mir auch wieder das Stichwort Werteverlust in den Sinn. Wir brauchen uns heute nur auf die alten Werte, auf die Werte aus Ethik und Moral, die aus dem Glauben kommen, zu besinnen und das Leben wäre viel einfacher gewesen.

Ich komme zu etwas anderem, was ich sehr wohl unter Werteverlust verstehe. Daß wir es gewöhnt waren, daß Politiker sich eigentlich beispielhaft geben sollten. Wenn man früher die Skala der angesehenen Berufe sich angeschaut hat, da rangierten nach wie vor die Professoren ganz oben und die Politiker lagen irgendwo in der Mitte. Ich will jetzt keine einzelnen Abstufungen vornehmen, aber mittlerweile rangieren die Politiker ganz unten. Da müssen sich die Politiker fragen, woher das kommt. Wenn sie das tun werden, vielleicht verändert sich dann was. Als wir vor einiger Zeit, vor wenigen Jahren von dieser Politikverdrossenheit sprachen, also Politik wird ja von Politikern gemacht, insofern ist das Politikerverdrossenheit. Nur die Politiker leben nicht immer nach den Grundsätzen, die sie eigentlich selbst vorgeben. Da beginnt die Verdrossenheit, weil der Bürger doch feststellt, daß das, was ihm vorgeschrieben wurde, als Beispiel doch nicht ganz so gut ist. Das ist natürlich ein großer Mangel. Wenn sie dann die politischen Erklärungen von heute lesen und mit denen von vor 3 Jahren vergleichen, merken sie, daß sich kein Wort geändert hat. Wenn etwas passiert ist, ist die Betroffenheit immer gleich mit im ersten Satz der Politiker drin. Man beschäftigt sich mehr damit, was gedacht wird und was das Ausland dazu sagen wird. Die Politiker beschäftigen sich weniger damit, was sie selbst dazu sagen sollten. Man denkt immer nur: „Was wird das Ausland dazu sagen?“ Gesagt wird: „Wir müssen energisch etwas dagegen tun!“ und „Wir müssen auch in der Erziehung für Jugendlichen mehr tun!“. Das ist alles deckungsgleich und ich sage jetzt nicht, dieser Politiker sagt das schlechter und jener sagt es besser, sondern auch das ist deckungsgleich, über die Parteigrenzen hinaus. Das ist nichts, was uns weiterhilft. Deshalb meine ich, wir sollten selbst in der Gesellschaft aktiv werden – jeder für sich muß in der Lage sein und bereit sein, etwas zu tun und sich dabei nicht auf die Politiker verlassen.

Frage aus dem Publikum:

Herr Bubis, Sie haben vorhin auf die Werte hingewiesen, die schon seit Hunderten von Jahren gültig sind. Sie haben aber nicht gesagt, welche Werte Sie meinen. Wäre es möglich, daß Sie dazu noch kurz einige Gedanken äußern, vor allem auch damit sozusagen der Funke des Optimismus überspringen kann, daß wir irgendwann doch noch mit der Fremdenfeindlichkeit fertig werden.

Herr Bubis:

Fangen wir mal mit dem ersten Begriff „Nächstenliebe“ an. Weil, wer ist mir denn der Nächste? Weil, heute denken wir doch, der Nächste bin ich mir selbst. Das war sicher nicht das, was wir im Religionsunterricht gelernt haben. Wir brauchen nur die Bibel aufzuschlagen: Wie gehe ich mit den Fremden um. Da steht alles drin. Wer schaut da schon rein, um zu sehen, wie man mit Fremden umgehen soll? Ich habe jetzt nur die zwei prägnantesten Beispiele. Man kann auch einen weltlichen Begriff nehmen: Sieh hin und du weißt es. Um zu dem negativen Beispiel zu kommen, wie in der Nähe von Potsdam geschehen ist. Dort wurde ein junger Schwarzafrikaner zusammengeschlagen, der stundenlang liegenblieb und fast verblutete. 18 Menschen waren dabei und alle haben weggeschaut und sind nach Hause gegangen. Zeugen waren keine da. Nach und nach hat die Polizei diese 18 Leute festgestellt und siehe da, keiner will irgendetwas gesehen haben, obwohl sie alle in der Straßenbahn dabei waren. Es hat sich keiner bereiterklärt auszusagen. Wenn er sich nicht einmischen wollte, weil er Angst gehabt hat, auch zusammengeschlagen zu werden, hätte er doch in die nächste Telefonzelle gehen können, um die Polizei zu alarmieren. Das kann keine Frage von 30 Pf. sein. Aber auch das ist nicht geschehen. Ich brauche Ihnen mit Sicherheit nicht alles das aufzuzählen, aber darum geht es. Was brauche ich für einen höheren, größeren Wert? Für damals, für heute und für später. Das deckt doch eigentlich alles ab. Das ist im Christentum und im Judentum so. Im Judentum heißt es: „Wie kannst du die ganze Thora auf einem Fuße stehend aufsagen?“ weiter heißt es: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Das ist schon der größte Inhalt.

Nur heute, um zum Weltlichen zu kommen, reden wir alle davon, den Gürtel enger schnallen zu müssen. Wer ist denn heute bereit zu teilen? Ich wurde einmal gebeten, zu den Problemen der Gewerkschaften in der Zukunft etwas zu sagen. Wenn man die Gewerkschaften genau betrachtet, merkt man, daß sie sich um die kümmern, die einen Arbeitsplatz haben. Um die, die keinen Arbeitsplatz haben, kümmert man sich so gut wie garnicht. 46 Jahre in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands, davon ca. 38 Jahre ohne Arbeitslosigkeit, da war es richtig, daß man sich um die Verbesserung der Verhältnisse am Arbeitsplatz eingesetzt hatte. Ich glaube mittlerweile hat da auch ein Umdenkungsprozeß begonnen. Umdenkungsprozesse dauern machmal etwas lange, ich hoffe,es wird sich positiv auswirken. Aber ich kann die Gewerkschaft schon verstehen, wenn sie sagt, daß sie sich erstmal um die Beitragszahler kümmern muß. Dies nur als eins von Beispielen.

Frage aus dem Publikum:

Herr Bubis, liegt diese Angst vor Fremden vielleicht auch darin, daß in der heutigen Gesellschaft der Mensch selbst z. B. in seiner Arbeit oder vor dem Produkt, das er dann hergestellt sich selbst entfremdet?. Das heißt ein Arbeiter, der irgendwo an einer Maschine steht und etwas herstellt, sich gar nicht mit dem Produkt identifizieren kann. Der Mensch ist Zweck der Wirtschaft, die Wirtschaft aber nicht der Zweck der Menschen. Ist es nicht so, daß ich mich vor mich selbst entfremde, mich nicht mehr mit mir selbst identifizieren kann und deshalb Angst vor den Fremden habe, oder liegt es mehr daran, daß man – speziell in Deutschland – mehr an materiellen Dingen interessiert ist. Zum Beispiel: „Wie teuer war mein Auto, wie groß ist mein Haus.“ Daß die Werte Buddhas, Jesu usw. vertreten wurden, daß man sich durch das Sein verwirklicht, nicht mehr so vertreten wird. Könnte die Fremdenfeindlichkeit vielleicht damit zu tun haben?

Herr Bubis:

Ganz sicher ist es so, daß für viele Menschen ein Hauptwert im Urlaub besteht, darin, wie der Urlaub sich gestaltet, wieviel Tage Urlaub ich habe. Vor etwa 10 Jahren gab es etwa 21 Urlaubstage. Mittlerweile gibt es 28. Aber als es darum ging, einen Urlaubstag für die Pflegeversicherung zu opfern, bricht gleich die Revolution aus.

Natürlich hat sich die Arbeitswelt verändert, daß die Arbeiter früher ein Produkt von Anfang bis Ende hergestellt haben. Heute, bei der Automatisierung kann keiner den Bezug zu einem Produkt bekommen. Das Teil, was er in der Automation herstellt, da braucht man sich nicht einmal Gedanken machen, ob das Teil für ein Auto, für ein Fahrrad oder irgendein anderes Aggregat zu gebrauchen ist. Denn erst in der Montage entsteht das Produkt. Das ist leider eine Veränderung der Arbeitswelt. Eine Veränderung der Arbeitwelt, eine Mechanisierung der Arbeitswelt, die aber nicht zu unterschätzen ist. Denn am Ende hat sie den Wohlstand gebracht. Denn ohne die Automatisierung wäre alles viel komplizierter und schwieriger. Diese Auseinandersetzung mit der Automatisierung der Gesellschaft, wir brauchen uns nur an den Film mit Charlie Chaplin erinnern. Dieser Film ist etwa 60 Jahre alt. Heute haben wir das, was in diesem Film von Charlie Chaplin gezeigt wurde. Das ist etwas, was die Welt verändert hat. Wir wollen aber nicht zurück, wie es in machen Ländern heute noch ist, z. B. mit Kinderarbeit. Deshalb will ich das nicht unbedingt verteufeln und sagen: „Das hat alles kaputt gemacht“. Natürlich entfällt dadurch die Bindung zum Produkt. Heute wird das alles anders bemessen. Wenn ich an der Herstellung eines Autos arbeite, rechne ich doch nach, wie lange ich arbeiten muß, um das von mir hergestellte Auto zu erwerben. Ich will ihnen ein schlimmes Bespiel erzählen. Das charaktarisiert vielleicht das Denken der Gesellschaft. Die Geschichte liegt ewa 2 ½ Jahre zurück. Ich kannte damals eine Journalistin und deren Mann. Sie haben damals eine Sendung für Amerika gemacht, für NBC Liveline. Wir saßen im Studio und die Fernsehleitung stand nicht. Die Frau ist freie Journalistin, sie arbeitet kreuz und quer durch Deutschland, sehr oft in Frankfurt. Der Mann ist Festangestellter beim WDR. Zumindest erzähle ich es so, wie es vor 2 ½ Jahren war. Festangestellter beim WDR heißt, er kann sich eigentlich sicher sein, nie mehr von seinem Arbeitsplatz in Bonn entlassen zu werden. Sie haben natürlich eine Wohnung in Bonn, keine Kinder. Dadurch, daß sie sehr oft in Frankfurt zu tun haben, haben sie eine zweite Wohnung in Frankfurt. Wir haben uns unterhalten, es war Spätsommer. Ich fragte sie: „Wo waren sie denn in Urlaub?“ „Ach das ist ja so furchtbar.“, sagte sie. „Wir haben einen Fehler gemacht und uns eine Wohnung in Tirol gekauft und jetzt müssen wir, weil wir doch die Wohnung haben, jedes Jahr nach Tirol fahren.“ Natürlich hat jeder ein Auto, sie müssen ja beweglich sein. So ein Ehepaar, kinderlos, drei Wohnungen, zwei Autos. Und dann sprachen wir über die Fremdenfeindlichkeit, und ich habe nach Amerika über die Ereignisse Ende 1992 berichtet und dann sagte die Journalistin zu Abschluß: „Nun mal ganz unter uns, Herr Bubis, über die fremdenfeindlichen Geschehnisse brauchen wir uns doch nicht zu wundern! Die Ausländer nehmen uns die Wohnungen weg, sie nehmen uns die Arbeitsplätze weg.“ Sehen Sie, das ist doch ein ganz besonderes, leider zutreffendes Beispiel. Das ist das Denken vieler moderner Menschen in Deutschland. Dankeschön!

Frage aus dem Publikum:

Herr Bubis, die Analyse von antisemitischen Stereotypen im letzten Jahrzehnt hat aufgezeigt, daß es in etwa zwei Hände voll Stereotypen gibt, die antisemitisch Auswirkungen gehabt haben, die allerdings auch schon seit dem Schisma des Christentum vom Judentum eine Rolle spielen. Es sind Stereotypen, die sich teilweise auch widersprechen, wie der häßliche Jude oder der gute Jude, was im Zionsemitismus genauso schlimm ist im Grunde wie der Antisemitismus. Aber auch der ehrgeizige Jude sind Stereotypen, die sehr allgemein sind, die scheinbar in der Gesellschaft aber auch dem Staat der Bundesrepublik eingeschrieben scheinen. Wie könnten aus Ihrer Sicht Pädagogen, Erzieher, der Staat aber auch die Gesellschaft, wie können alle diese Parteiungen darauf reagieren?

Herr Bubis:

Das ist kein einfaches Unterfangen. Antisemitismus gibt ja nicht erst seit heute, sondern ist 2000 Jahre alt und die Grundlage des Antisemitismus war sicherlich der christliche Antijudaismus. Im Laufe der Jahrhunderte hat er sich gewandelt, er begann weltlich zu werden, ohne daß der Antijudaismus aufgehört hat. Der Vorläufer des Antisemitismus war der Antijudaismus. Für die einen waren die Juden Schuld an der Ausbeutung im Kapitalismus. Für die anderen waren die Juden Schuld am Kommunismus. Für die Dritten waren Juden Schuld an der Pest. Ich habe einmal erzählt, daß es mich wundert, daß noch keiner auf die Idee gekommen ist, daß Juden die Schuld an Aids tragen. Die Pest kann man heute nicht sagen, denn die Pest ist verschwunden. Aber sie werden es nicht glauben, es hat 4 Wochen gedauert und ich hatte 2 Briefe: „Die Juden haben aus Rache Aids aus Amerika nach Deutschland gebracht.“ Wie können sie dem begegnen. Damals hat mir aus Westfalen, ich kann mich an den Ort nicht erinnern, also nicht aus dem Emsland, aber nicht weit weg. Aus Westfalen, hat mir ein älterer Herr, 73 Jahre alt, geschrieben. Er ging immer zu seinem Stammtisch, bei dem 8 – 10 Leute seines Alters anwesend waren. Plötzlich sei das Gespräch auf Juden gekommen. Und da habe einer gefragt: „Kennt einer von euch einen anständigen Juden?“ Da haben sie nachgedacht und haben gesagt:“ Nein, kennen wir nicht.“ Daraufhin hätte er gefragt: „Kennt einer von euch überhaupt einen Juden?“ „Nein, kennen wir nicht!“. Sie wußten alle, anständige Juden kennen wir nicht. Den gibt’s nicht. Weil der Nachbar, der dabeisitzt ja auch keinen kennt. Für den heißt es: „Achso, anständige Juden die gibt’s gar nicht. Die scheinen wohl viele Juden zu kennen, aber ein anständiger ist nicht darunter.“ Ich verspreche mir nicht zuviel Wirkung, aber einiges doch. Es gibt zwei Plattformen, die heute dazu beitragen, den Antisemitismus doch etwas abzubauen. Nicht bei dem notorischen Antisemiten, dem können sie erzählen was sie wollen. Ein Witz als Beispiel:
Geht ein Antisemit in ein Konzert und sieht wie jemand Klavier spielt und fragt: „Wer ist das?“, „Das ist Herr Rubenstein.“, antwortet der andere.. „Ist das ein Jude?“ „Ja.“ „Sag’ einmal, die Klaviertasten, aus was sind die?“ „Aus Elfenbein“. „Da kannst du mal sehen wie diese Juden die Elefanten malträtieren“.

Das sind jetzt alles Witze. Aber bei demjenigen, der schon so überzeugt ist, malträtiert der Jude die Elefanten. Sie können gar nicht so durchdenken, auf was die Menschen kommen. Ich glaube, es hat sich in der katholischen Kirche seit Johannes XXIII. und dem 2. Vatikanischen Konzil, das eine sehr wichtige Rolle gespielt hat, sehr viel in dieser Hinsicht getan. Ohne das 2. Vatikanische Konzil hätte es vermutlich bis heute keinen Vertrag gegeben oder wie immer das bezeichnet, zwischen dem Heiligen Stuhl und Israel. Da ist schon sehr viel in der Präambel von der gemeinsamen Bekämpfung des Antisemitismus. Ich glaube schon, daß auf diesem Gebiet eine große Änderung eingetreten ist. Die offene Diskussion über den Antisemitismus hat positive Wirkung. Solange die Antisemiten sich nicht geäußert haben, ich spreche jetzt nicht vom Rassismus, vom mörderischen Antisemitismus der Nationalsozialisten. Ich spreche von dem alltäglichen antisemitischen Denken in Klischees, in Vorverurteilungen, in Verallgemeinerungen. Früher gab es diese Menschen. Aber angesichts der geschichtlichen Vergangenheit haben sie sich nicht als solche zu erkennen gegeben. Heute sprechen sie es offener aus. Das halte ich für einen ganz wichtigen Fortschritt, weil daraus eine Diskussion entstehen kann. Wenn jemand nur mit sich im Herzen herumträgt, wie wollen sie dagegen etwas unternehmen. Das kann sich nur verfestigen und im stillen Kämmerlein gibt er es an seine Kinder, an seine Nachbarn, an seinen Arbeitsplatzkollegen weiter. Wenn er es aber offen ausspricht, und es gibt diese Möglichkeit der Diskussion, kann es hilfreich sein. Ich glaube, daß die Diskussionen, die in den letzten Jahren geführt wurden, hilfreich waren. Für mich war schon sehr beeindruckend als nach dem zweiten Brandanschlag auf die Lübecker Synagoge 4.000 Schüler am nächsten Tag auf die Straße gingen. Das ist schon etwas, woran zu erkennen ist, daß es nicht nur Erklärungen von Politikern über deren Betroffenheit gibt, sondern daß junge Menschen diese Unmenschlichkeit sehen und darauf reagieren. Das halte ich für sehr wichtig. Deshalb glaube ich, daß aus der Diskussion Positives herauskommen kann.

Frage aus dem Publikum:

Herr Bubis, ich habe ein kleines Problem. Ich habe einen Onkel, mit dem bin ich immer gut zurechtgekommen, mit dem habe ich früher gespielt. Er ist von der älteren Generation, war im 2. Weltkrieg. Als ich 16, 17 Jahre alt war, hat er auch vom Krieg berichtet. Das ist ja eigentlich auch nichts Schlimmes, bis dann die Sprache auf das Judentum kam. Er sieht das Judentum immer noch aus starker antisemitischer Sicht. Ich hatte eine sehr gute Beziehung zu ihm, was meinen Sie, wie die Beziehung jetzt weitergehen kann?

Herr Bubis:

Meines Erachtens können Sie die familiäre Beziehung nicht nur unter dem Gesichtspunkt des Antisemitismus dieses Onkels sehen, Sie haben aber sicherlich eine Möglichkeit Ihren Onkel mal zu fragen. Ich würde nicht sagen, daß Sie Ihre Beziehung abbrechen sollten, weil Ihr Onkel so denkt. Aber vielleicht haben Sie mal Gelegenheit zu fragen, was die Juden ihm denn nun konkret getan haben. Möglicherweise wird er Ihnen was antworten, was vor 2 Tagen in einer Diskussion in Wetzlar passiert ist. Es war, wie sich später rausstellte, der Kreisvorsitzende der NPD. Er sagte: „Wieso wundert es Sie eigentlich, daß alles, was passiert ist, passiert ist. Mit dem 30. Januar 1933 hat das alles doch gar nichts zu tun. Schließlich haben doch die Juden bereits am 24. März 1933 Deutschland den Krieg erklärt!“ Diese Antwort wird er Ihnen möglicherweise geben. Ich habe den Mann gefragt, was denn die Juden am 24. März 1933 getan haben als sie Deutschland den Krieg erklärt haben. Haben sie Bomben nach Deutschland geschickt? Haben sie die Deutschen in KZ’s gesteckt? Haben sie versucht sie zu vergasen, was haben sie denn unternommen? „Ja“, sagt er: „Boykott deutscher Waren!“. Also wir wissen heute, was Boykotte bedeuten, und sicher hat es damals einen nach dem 30. Januar 1933, nach den ersten Ausschreitungen gegeben. Ist das aber der Grund zu sagen: „Deshalb wollen wir das ganze jüdische Volk vernichten!“? Ich meine, daß wenn Sie die Gelegenheit haben, sollten sieIhren Onkel fragen, ob er überhaupt einen Juden kennt. Meistens werden die feststellen, daß er das alles nachgelesen hat, in Bücher wie „Mein Kampf“ oder am Stammtisch mitbekommen hat.

Frage aus dem Publikum:

Herr Bubis, Sie haben einmal davon gesprochen, daß sich viele Menschen von Kirche oder auch dem Judentum, Islam, von den Religionen abwenden und dabei zu dem Fundamentalismus übergehen.

Zwischenantwort Herr Bubis:

Nur Teile. Viele ist vielleicht übertrieben. Es gibt beides. Die Abwendung ist viel größer, aber nicht gleichzeitig fundamentalistisch.

Weiterführung der Frage:

Aber zur Zeit ist es doch so, daß besonders beim Islam eine fundametalischtische Linie zu sehen ist. Können Sie sich erklären, warum so viele zum Fundamentalismus wechseln?

Herr Bubis:

Wir erleben es, daß es diesen Fundamentalismus zur Zeit in Algerien gibt. Wobei sich in Algerien auch die Frage stellt, wie der Staat mit seinen Bürgern umgeht. Da kann man nicht übersehen, daß der algerische Staat alles andere als ein freier Staat ist, daß hier die Möglichkeit der persönlichen Entfaltung sehr eingeschränkt ist. Nicht zuletzt aus einer Angst vor dem Fundamentalismus. Doch diese Einschränkung schafft den Fundamentalismus erst. Aber gleichzeitig sieht man, wie diese Fundamentalisten in Algerien auch mit Menschenleben umgehen. Mit Menschenleben, die eigentlich nicht einmal was mit dem Staat zu tun haben, mit französischen und überhaupt mit ausländischen Journalisten. Ausländische Journalisten sind sich heute in Algerien nicht ihres Lebens sicher. Die Algerier erklären auch offen, daß sie die Ausländer aus dem Land vertreiben wollen und den heiligen Staat des Islam dort errichten wollen. Das zweite Beispiel ist der Fundamentalismus, der vom Iran ausgeht, der ebenfalls nicht zu übersehen ist. Welche Auswirkungen das haben kann, nenne ich als Beispiel mal Salman Rushdie. Das was Salman Rushdie beschrieben hat kann keinen Beifall verdienen. Denn wenn jemand über das Christentum oder das Judentum so geschrieben hätte, wäre das schon ein Grund sich aufzuregen. Aber gleichzeitig Rächer loszuschicken, um ihn umzubringen, das ist ein Unterschied. Wenn man mich gefragt hätte, ich hätte gesagt, dieses Buch, was er da geschrieben hat, ist im Sinne des Islam Gotteslästerung. Gotteslästerung sollte man bei keiner fremden Religion ausüben. Und da habe ich vollstes Verständnis für die Aufregung. Ich habe nur kein Verständnis, daß man ihn durch die Welt jagt, um ihn umzubringen. Dieser Fundamentalismus ist da und hat auch auf Israel übergegriffen. Zum Beispiel dieser Goldstein, der sich auch noch als Rabbi bezeichnet und in die Moschee in Hebron eingedrungen ist, um dort 40 Menschen bestialisch zu ermorden. Das kommt auch von einem Fundamentalismus, der ebenso verbrecherisch ist. Da kommt es mir nicht darauf an, um welche Richtung es sich dabei handelt. Der Islam hat mit der Zunahme des Fundamentalismus im Iran ein Stück mit nach Israel übergeschwappt.

Frage aus dem Publikum:

Nach den Gedenkfeiern von Bergen-Belsen stand am nächsten Tag in der NOZ mit großer Überschrift „Juden und Deutsche beten gemeinsam …“. Wieso steht da nicht „Europäische Juden und Deutsche“ oder „Deutsche Juden und Deutsche beten gemeinsam.“

Herr Bubis:

Es sind die Begriffe, der „Deutsche“ und der „Jude“, die seit einigen Jahrzehnten nicht mehr zusammenpassen. Diese Unterscheidung hat sich leider auch in Deutschland eingebürgert. Das ist etwas, was man bis nach dem 1. Weltkrieg in Deutschland nicht kannte. Natürlich stimmt die Überschrift, wenn es um Deutsche und um Juden aus Amerika, aus Rußland oder sonstwo gehen würde. Aber hier war auch von deutschen Juden die Rede. In der Regel , wenn von Deutschen und von Juden gesprochen wird, meint man auch die Juden, die in Deutschland leben. Das ist etwas, was sich doch hauptsächlich in der Nazizeit entwickelt hat. Der Jude ist kein Deutscher, Doch das hat noch nie gestimmt. Das hat es in den früheren Jahrhunderten schon mal gegeben, aber so ab Mitte des vergangenen Jahrhunderts war das schon verschwunden gewesen und kommt jetzt wieder.

Und zum Zusammen-Beten: Ich war beim Ökumenischen Gottesdienst am 8. Mai in Berlin und bei Folgeveranstaltungen. Wir haben in Bergen-Belsen ebenso Gebete der ev. und kath. Kirche und des Rabbiners gehört, obwohl es eine Gedenkfeier des Zentralrates war, wo jeder verstanden hätte, daß bei einer Gedenkfeier des Zentralrates nur ein Rabbiner dabei gewesen wäre. Es ist für uns aber selbstverständlich, daß wir die beiden Kirchen gebeten haben, zu kommen. Aber leider sind sowohl Bischof Lehmann als auch Bischof Engelhardt auf der Autobahn in einen 10 km Kilometer langen Stau steckengeblieben und konnten nicht kommen. Aber sie waren beide unterwegs dorthin, falls sich jemand gewundert hat. Wir haben uns alle drei noch am Vorabend beim Bundespräsidenten gesehen. Nur mit dem Unterschied, daß ich noch nachts nach Hannover gefahren bin, da war ich dann auch rechtzeitig in Bergen. Die beiden haben in Berlin übernachtet und sich darauf verlassen, friedlich über die Autobahn zu kommen, aber wie so oft war der Schalk des Staus stärker als die Bischöfe.

Frage aus dem Publikum:

Herr Bubis, ich möchte noch einmal die „Ausschwitzlüge“ ansprechen, die „sogenannte Ausschwitzlüge“, ich war vor kurzem im Konzentrationslager Bergen-Belsen zu Besuch. Wenn man dort die großen Gräber sieht, 5.000 Tote, 10.000 Tote usw. Wenn man sich mit dieser Materie ein bißchen beschäftigt und ließt und hört, daß mehrere Millionen Menschen im Konzentrationslager umgekommen seien, dann kann man das fast nicht glauben. Sie waren im Konzentrationslager, und ich muß sagen, es überkommen einen manchmal Selbstzweifel ob es möglich ist, so viele Millionen Juden in so kurzer Zeit umzubringen. Sie waren Augenzeuge. Ist es möglich so etwas zu machen, ist es überhaupt vorstellbar?

Herr Bubis:

Vor wenigen Wochen hat meine Schwägerin, die in Paris lebt, die auch im Lager war, etwas gesagt. Sie ist zusammen mit mir am 16. Januar 1945 befreit worden. Damals wußten wir nicht, daß sie meine Schwägerin wird, wir waren beide noch viel jünger. Da hat sie gesagt, daß sie versteht, daß viele Menschen das gar nicht begreifen können, daß so etwas Schreckliches überhaupt möglich war. In Bergen-Belsen gab es zum Beispiel keine Vergasungen, keine normalen Tötungen, keine Genickschüsse wie zum Beispiel im Osten und in Rußland nach dem Einmarsch. Hier sollten sie sich mal das Material anschauen, was seinerzeit von der Täterseite gedreht wurde. Nicht das von der Opferseite. Diese Massenerschießungen, bei denen man zum Beispiel in Babilar? 36.000 Menschen in mehrere Gruben hat hinuntergehen lassen, um sie dann mit Maschinengewehren zu erschießen. Babilar? war kein Einzelfall. Nicht überall waren es gleich 36.000 Menschen.

Meine Frau war mit mir zusammen im Lager Bergen-Belsen. Wir haben uns eine gewisse Zeit nie unterhalten. Meine Frau war nur etwa 4 Wochen in Bergen-Belsen. Von Ende Januar bis Anfang März. Anfang März wurde sie dann weitertransportiert in Richtung Dachau über Allach. Sie ist dann in Dachau befreit worden. Meine Frau war in den ganzen 50 Jahren nach dem Krieg nie in Dachau gewesen, bis zum ersten Mal in diesem Jahr, am 30. April zur Gedenkfeier des 50. Jahrestages der Befreiung. Da ist sie zum ersten Mal nach Dachau gegangen. In Bergen-Belsen war sie nach dem Kriege aber nie. Auch nicht bei dieser großen Gedenkveranstaltung des Zentralrates. Zum ersten Mal und bis heute zum einzigen Mal, nämlich als wir nach Dachau fuhren, hat sie zu mir gesagt: „Ach weißt du, für uns in Dachau war es nicht so schlimm wie Bergen-Belsen. Bergen-Belsen war die Hölle.“ Da sehen Sie, wie sich selbst bei den Opfern vieles relativiert. Das war das einzige Mal, daß meine Frau mit mir darüber gesprochen hat.
Ich will ihnen ein Beispiel über Bergen-Belsen geben. Als die Engländer nach Bergen-Belsen kamen, gab es, was sie wenigsten wissen, einen gewissen Waffenstillstand. Bergen ist am 15. April befreit worden. Aber schon am 12. April hat sich eine britische Sanitätseinheit dorthin verirrt und stand plötzlich vor dem Lager Bergen-Belsen. Die Bewacher haben sie reingelassen und haben so etwas wie einen Waffenstillstand vereinbart. Die Deutschen haben von der Sanitätseinheit erwartet, daß sie die im Lager ausgebrochenen Krankheiten wie zum Beispiel Typhus behandeln. Am 14. April, also zwei Tage später haben manche Häftlinge versucht, aus den Lebensmittelkammern etwas zu stehlen. Da haben die gleichen deutschen Bewacher – die Engländer waren schon im Lager – ich glaube 5 Häftlinge erschossen. Erst da sind die Bewacher von den Engländern entwaffnet worden. Das war nur einen halben Tag bevor die Engländer Bergen-Belsen besetzt haben. Als die Engländer dann nach Bergen-Belsen reinkamen, fanden sie 35.000 Leichen – auch von Menschen, die noch in den letzten 2-3 Wochen im Lager gestorben waren und es gab keinen, der auch nur versucht hätte, sie zu bestatten. Sie wurden mit Baggern in Gräben gekarrt, die Baracken wurden niedergebrannt, um Seuchen zu vermeiden. Mehrere der britischen Sanitäter sind kurze Zeit später an Infektionen gestorben.

Es gab die verschiedensten Arten der Tötung. Ich werde ihnen jetzt ein paar Zahlen nennen, die sich nur auf das deutsche Reich beziehen. Gemeint sind nicht Ausschwitz und Treblinka. Treblinka, ein Ort, wo auch mein Vater umgebracht wurde. Treblinka war „nur“ 11 Monate in Betrieb. Von Ende 42 bis August 43. Wer nach Treblinka kam, hat nicht länger als 10 Minuten gelebt. Er stieg aus dem Waggon, ging in so etwas wie einen Wartesaal runter – hinter dem Wartesaal waren die Gaskammern. In Treblinka sind in 11 Monaten 800.000 Juden umgebracht worden. Davon etwa 600.000, die aus dem Warschauer Getto gekommen waren. Im Warschauer Getto lagen die Leichen auf der Straße. In Mittelbaudora??? wurden die Häftlinge zu Zwangsarbeit bei der Herstellung der V2-Raketen eingesetzt. Sie sollten mal nach Mittelbaudora? fahren und sich dort die Stollen anschauen, wo 10.000de von Häftlingen nicht nur den Stollen, ja sogar die ganze Anlage mit Händen, ohne Maschinen erbaut haben. In dieser ganzen Anlage gab es keine Toilette. Nur um einige Beispiele zu nennen. Ich will ich ihnen die Zahlen der deutschen Lager – ohne diese Lager, die ich erwähnt habe wie Treblinka, Sobibor, Ausschwitz, geben. In Deutschland gab es 22 Hauptkonzentrationlager. Das sind solche wie Bergen-Belsen, Dachau und Buchenwald mit 1.022 Außenstellen. Die Außenstellen, da war zum Beispiel eine in Mittelbaudora?. Am Anfang wurden die Menschen noch für jeden Tag zum Stollen gefahren. Sie wurden immer hin und her transportiert. Zum Schluß haben sie auch in den Arbeitsstollen übernachtet. Dort, wo sie übernachtet haben, haben sie auch ihre Notdurft verrichtet, alles dort vor Ort. Sie können das auch auf den Bildern sehen, die der Herr Werner von Braun machte, als er den Stollen besuchte, aber, der will auch von nichts gewußt haben. Für ihn waren das nur Arbeiter. Aber Werner von Braun war der zuständige Fachleiter von Mittelbaudora. Die Amerikaner, die dort kamen, haben das alles übersehen. Aber die Dokumente, die in Mittelbaudora vorhanden sind, sind Dokumente nicht von heute, sondern von damals.

Aber jetzt kommt etwas anderes dazu: Das mit den 22 Hauptkonzentrationslagern mit über 1.000 Außenstellen sind das eine. In der 2. Hälfte 1944 gab es im Gebiet des ??? Reiches 38.000 Konzentrationslager, in denen 5,8 Millionen Zwangsarbeiter waren. Diese hatten mit Juden nichts zu tun, sie kamen aus Rußland und Polen. Es gab keinen größeren Betrieb im Reich, in dem nicht Zwangsarbeiter aus irgendeinem Konzentrationslager zwangsverpflichtet wurden – oft wurden gerade deshalb, weil ein Betrieb Arbeiter brauchte, ein Außenlager gegründet. Es gab diese 5,8 Millionen in der 2. Hälfte 1944. Allein in Berlin, um die größeren Betriebe herum, gab es 700 Konzentrationslager mit 350.000 Zwangsarbeitern. Wenn sie die Quelle wissen wollen: die Gesellschaft zur Erforschung des Nationalsozialismus hat dieses in den letzten Jahren aufgearbeitet.

Ich will ihnen zum Schluß noch etwas sagen, und vielleicht ist das auch noch bezeichnend, um den Umgang und was sich da alles abgespielt hat, darzulegen. Kein Mensch hier im Saal wird den Namen des Lager je gehört haben: Breitenau. Ich bin mir sicher, daß ihnen dieser Name überhaupt nichts sagt. Bis vor 2 Jahren wußte ich auch nicht, was ist Breitenau, wo war Breitenau. Breitenau liegt neben Guxhagen, das liegt ungefähr 15 km von Kassel entfernt. Dort war einmal ein altes Kloster, einige 100 Jahre alt. Dieses Kloster 1929 eingerichtet als ein Heim für schwererziehbare Mädchen. Mitte der 30er Jahre wurde es zu einem Zwischenkonzentrationslager. Nach 1945 wurde es zu einem Jugendgefängnis. Von 1924 bis 1954 gibt es Bücher mit Eintragungen eines jeden Insassen bzw. Häftlings, der dort hingekommen ist. Schwererziehbare Mädchen, Zwischenkonzentrationslager, Jugendgefängnis. Und: Alle Eintragungen mit der gleichen Handschrift. Der gleiche Mann, der schon 1929 der Leiter des Erziehungsheims war, er war der Leiter des Zwischenkonzentrationlagers, und er war der Leiter des Jugendgefängnisses. Dort sind in der Nazizeit etwa 10.000 Häftlinge durchgegangen. Es blieb dort keiner länger als 3 Monate. Für jeden dieser Häftlinge waren im Durchschnitt 31 Personen beschäftigt. Von der Verwaltung in Breitenau über die Ämter in Guxhagen und Kassel bis hin zu den Regierungsstellen in Darmstadt bis nach Berlin. Verwaltungsmäßig gab es in den Schriften nicht einen Häftling, über den nicht jedes Detail festgehalten war – und keinem fällt es auf. Das hat übrigens eine Schule vor 5 Jahren entdeckt und aufgearbeitet.

In diesen Chroniken ist auch die Geschichte einer Familie, einer Frau festgehalten, die auch in diesem Zwischenkonzentrationlager war. Ihren Sohn kennt in der BRD fast jeder. Sie war Ärztin, Jüdin und mit einem sogenannten Arier verheiratet. Sie hatten sich in der Zeit des Nationalsozialismus irgendwann scheiden lassen. Sie hatte 5 Kinder, 4 Töchter und einen Sohn. Ich erzähle ihnen das mit Namen, weil es in den Büchern festgehalten ist. Ich kenne diesen Namen sehr gut, der bekannte Sohn hat in der Öffentlichkeit nie mit einem Wort darüber gesprochen. Ich habe ihn kürzlich bei der Trauerfeier des verstorbenen Ministerpräsidenten Schiller getroffen, dann habe ich ihn darauf angesprochen. Da hat er mich angeguckt und gesagt: „Ja, so, wie es die Schüler ausgearneitet haben, so,war das!“. Damals ist dort eine Frau eingeliefert worden, die wie,gesagt Ärztin war, geschieden von Ihrem Mann. Ihre Straftat bestand darin, daß sie ein Rezept ausgestellt hat und hat den Vornamen Sarah nicht dazugeschrieben hat. Dafür kam sie erst einmal in Köln in das Gefängnis, später kam sie dann nach Breitenau. In Breitenau durfte sie jeden Monat einen Brief schreiben, die Briefe sind alle vorhanden. Sie hat sie alle an ihre älteste Tochter geschrieben. Die Familie hat diese Unterlagen dann zur Verfügung gestellt, weil man bei der Aufarbeitung festgestellt hat, daß sie dort war. Später ist die Frau dann von diesem Lager deportiert worden. In ihrem letzten Brief – sie hat sich nie in einem der Briefe beklagt – schrieb sie ein einziges Mal über ihre Erlebnisse. Sie schreibt auf dem Weg nach Auschwitz, daß sie in Dresden Halt gemacht hätten, und sie die Gelegenhet nutze, eine Postkarte zu schreiben. Sie schreibt, sie habe gehört, daß dieser Transport nach Ausschwitz gehe und über Ausschwitz würde man sich schreckliche Dinge erzählen. Sie fragt ihre Tochter, ob diese nicht mit dem Vater sprechen könne und etwas unternehmen könnte. Die Frau ist nach Ausschwitz gekommen und nicht zurückgekehrt. Sie ist in Ausschwitz ermordet worden. In der Ausschwitzer Datei, dort gab es Karteikarten, ist ihr Name auch verzeichnet. Im Moment werden diese Namen, soweit vorhanden, aufgearbeitet. Die Frau ist nicht zurückgekommen, die Kinder haben überlebt, nicht beim Vater. Sie waren bei Verwanden teilweise versteckt. … Der Sohn dieser Frau war der spätere Bundesminister Jahn. Ich nehme an, daß viele hier im Saal ihn kennen. Ich habe bis vor 2 Jahren nicht von der Existenz des Lagers Breitenau gewußt. Es war 1 km von der Autobahn entfernt, in einem ehemaligen Kloster, mitten in Deutschland. Sie können in den Büchern über jeden Häftling nachlesen, der dort war. Welche erschossen wurden, welche wohin überstellt wurden, in welches Konzentrationslager. Das ganze hatte den Charakter eines Zwischenkonzentrationslagers. Dennoch, daß das ganze unbegreiflich ist und auch unbegreiflich bleibt, hat auch möglicherweise dazu geführt, daß es nicht nur eine Verdrängung bei den Tätern gegeben hat, sondern auch eine Verdrängung bei den Opfern. Auch unter den Opfern, unter den Überlebenden gibt es viele, die mit ihren Kindern oder Enkelkindern nie darüber gesprochen haben. Auch ich habe mit meiner Tochter nur ein einziges Mal darüber gesprochen. Das ist jetzt sogar schon 14 Jahre her. So wie ich heute darüber spreche, hat mich bis 1989 keiner sprechen hat hören können. Aber seit ich zum ersten Mal – genauso wie meine Frau, die über Dachau zum ersten Mal nach 50 Jahren und über Bergen-Belsen bis heute nicht darüber gesprochen hat – habe ich es bis 1989 nicht fertiggebracht, den Ort zu besuchen, von dem ich annehmen mußte, daß mein Vater dort umgebracht wurde. Inzwischen gibt es eine größere Gewißheit, daß er dort umgebracht wurde, das wußte ich damals nicht. Aber erst nachdem ich das erste Mal dort war, kann ich überhaupt darüber sprechen.

Aus dem Publikum:

Sehr geehrter Herr Bubis, am Ende dieser tollen Veranstaltung muß ich mich doch noch aufregen: Was eigentlich nicht passieren darf, ist, daß der Tatbestand der Judenvernichtung öffentlich in Frage gestellt wird. Ich denke, da ist irgend etwas falsch gelaufen. Man sollte verhindern, daß solche Fragen gestellt werden.

P. Dr. J. Meyer-Schene:

Nun wollen wir zum endgültigen Schluß kommen. Jetzt darf ich noch unsere Schülersprecherin bitten.

Doris Achelwilm (Schülersprecherin):

Sehr geehrter Herr Bubis. Als Schülersprecherin möchte ich stellvertretend für die gesamte Schülerschaft meine Freude über Ihren Besuch an unserer Schule aussprechen. Deshalb überreichen wir Ihnen als Zeichen unserer Gastfreundschaft eine Photographie von der gesamten Schülergemeinschaft. Wir hoffen, daß Sie einen angenehmen Aufenthalt in Handrup hatten und wünschen Ihnen für ihren weiteren Weg alles Gute.

P. Dr. J. Meyer-Schene:

Sehr geehrter Herr Bubis, meine Damen und Herren, ich möchte am Ende unserer Veranstaltung jetzt nicht mehr kommentieren, meinen Eindruck möchte ich in einem Satz zum Ausdruck bringen und ich hoffe, das ich im Namen der ganzen Gemeinschaft hier sprechen kann: Herr Bubis, ich danke Ihnen, daß Sie da waren.

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Jahreslosung 2011

Die Fachgruppe Evangelische Religion grüßt alle Besucher unserer neuen Homepage  mit der Jahreslosung für das Jahr 2011, die im Römer-Brief 12,21 steht: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“
Wir wünschen allen Schülern, Lehrern und Mitarbeitern des Gymnasiums Leoninum ein gesegnetes und gesundes Jahr 2011!

Neues Fach in Klasse 10: Wirtschaftsmathematik

Wirtschaftsmathematik

Mit dem Fach Wirtschaftsmathematik haben die Schülerinnen und Schüler der Klasse 10 eine zusätzliche Wahlmöglichkeit im Bereich Naturwissenschaften/Mathematik erhalten und von diesem Angebot auch regen Gebrauch gemacht.

Im Jahrgang 10 ist das Interesse für wirtschaftliche Zusammenhänge und Fragestellungen durch die bevorstehende Studien- und Berufswahl stark ausgeprägt. Nicht zuletzt nehmen in Einstellungstests das „bürgerliche“ oder „kaufmännische“ Rechnen, der Dreisatz oder die Prozentrechnung immer noch einen großen Stellenwert ein.

Ausgehend von Inhalten, die allgemein als Kaufmännisches Rechnen  oder Wirtschaftsrechnen bezeichnet werden (Prozentrechnung, Handelskalkulation, Zinsrechnung) kann die Wirtschaftsmathematik den regulären Mathematikunterricht des Jahrgangs 10 sinnvoll begleiten und vertiefen, z.B. durch:

  • Untersuchung von Folgen und Reihen bei der Rentenrechnung, Annuitätentilgung,
    Kapitalauf- oder -abbau, degressive Abschreibungen etc.
  • Lineare Optimierung
  • Kurvenuntersuchung ökonomischer Funktionen:
    Kostenfunktion, Grenzkostenfunktion, Stückkostenfunktion

Hinzu kommt, dass bei der Behandlung wirtschaftsmathematischer Fragestellungen die sogenannten „neuen Technologien“  (CAS, PC, Internet) in hohem Maße zum Einsatz kommen.

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