Bertolt Brecht: Der Kaukasische Kreidekreis
Schlussszene aus dem Bild 2: Das Hohe Kind
Der Sänger:
Als sie nun stand zwischen Tür und Tor, hörte sie
Oder vermeinte zu hören ein leises Rufen: das Kind
Rief ihr, wimmerte nicht, sondern rief ganz verständig
So jedenfalls war’s ihr. ”
Frau“, sagte es, ”
hilf mir.“
Und es fuhr fort, wimmerte nicht, sondern sprach ganz
verständig:
„Wisse, Frau, wer einen Hilferuf nicht hört
Sondern vorbeigeht, verstörten Ohrs: nie mehr
Wird der hören den leisen Ruf des Liebsten noch
Im Morgengrauen die Amsel oder den wohligen
Seufzer der erschöpften Weinpflücker beim Angelus.“
Dies hörend
Grusche tut ein paar Schritte auf das Kind zu und beugt sich
über es
ging sie zuruck, das Kind
Noch einmal anzusehen. Nur für ein paar Augenblicke
Bei ihm zu sitzen, nur bis wer andrer käme –
Die Mutter vielleicht oder irgendwer –
sie setzt sich dem Kind gegenüber, an die Kiste gelehnt
Nur bevor sie wegging, denn die Gefahr war zu groß, die
Stadt erfüllt
Von Brand und Jammer.
Das Licht wird schwächer, als wurde es Abend und Nacht.
Grusche ist in den Palast gegangen und hat eine Lampe und
Milch geholt, von der sie dem Kinde zu trinken gibt.
Der Sänger laut:
„Schrecklich ist die Verführung zur Güte! ¨
Grusche sitzt jetzt deutlich wachend bei dem Kind die Nacht
durch. Einmal zündet sie die kleine Lampe an, es anzuleuch- ¨
ten, einmal hüllt sie es wärmer in einen Brokatmantel. Mitunter
horcht sie und schaut sich um, ob niemand kommt.
Lange saß sie bei dem Kinde
Bis der Abend kam, bis die Nacht kam
Bis die Frühdämmerung kam. Zu lange saß sie.
Zu lange sah sie
Das stille Atmen, die kleinen Fäuste
Bis die Verführung zu stark wurde gegen Morgen zu ¨
Und sie aufstand, sich bückte und seufzend das Kind nahm ¨
Und es wegtrug.
Sie tut, was der Sänger sagt, so, wie er es beschreibt.
Wie eine Beute nahm sie es an sich
Wie eine Diebin schlich sie sich weg.
(Heinz Koops)