„Wie konnte ich vergessen, dass ich ein Königskind bin?“
Dr. Heinrich Dickerhoff
Präsident der Europäischen Märchengesellschaft, Cloppenburg
„Wir Menschen sind die einzigen Lebewesen auf dieser Erde, die mit offenen Fragen leben. Wozu bin ich da? Was bleibt von mir und von denen, die mir lieb sind? Weil uns unser Leben nicht selbstverständlich ist, darum müssen wir Antworten entwerfen auf die großen Fragen, die uns weder die Natur noch unser logisches Denken beantworten können.
Religion wie Kunst zeigen solche Sinn-Entwürfe. Mir ist die christliche Glaubenstradition der entscheidende Lebens-Schlüssel, aber wichtig ist mir auch die zu Märchen verdichtete Lebensweisheit. Und Evangelium wie Märchen fordern uns heraus, Lebens-Künstler zu werden, unserer Sehnsucht mehr zu glauben als unserer Verzweiflung. Du bist erwünscht, sagen sie, du wirst erwartet. Also geh!“
(H. Dickerhoff)
Am 12. Dezember 2002 fand in der Aula des Gymnasiums Leoninum Handrup das 12. „Handruper Forum“ statt, welches sich diesmal allerdings in einer ganz außergewöhnlichen Weise ereignete.
Mit Herrn Dr. Heinrich Dickerhoff, dem Präsidenten der Europäischen Märchengesellschaft, konnte ein Referent gefunden werden, der die zahlreichen Zuhörer mit einer beeindruckenden Auswahl von Märchen Perspektiven für ein gelingendes Miteinander der Generationen im Erziehungsprozess veranschaulichen konnte. Mit seinem „Programm“ „Wie konnte ich vergessen, dass ich ein Königskind bin?“ – Wie Märchen uns erinnern an das richtige Leben versetzte Dr. Dickerhoff die Besucher in die Welt der Märchen, in der oftmals Unausgesprochenes auf einfache und anschauliche Weise zum Ausdruck gebracht werden kann.
Auf unkonventionelle Art und oft mit einer Harfe untermalend verstand es Dr. Dickerhoff, sein Publikum zu fesseln, zu begeistern und der Suche nach dem eigenen „Ich“ und „Wir“ neue Impulse zu geben. Seine bildhafte Vortragsweise vermittelte anschaulich Glaubensinhalte und regte zum Nachdenken über sich selbst und die Beziehungen zu den Mitmenschen an. Beispielhaft zeigte er auf, was Märchen vom Wesen und Weg der Menschen erzählen, wie die Gute Nachricht in und mit Märchen zu entdecken ist.
In der adventlich dekorierten Aula des Gymnasiums Leoninum in Handrup tauchten die Besucher in eine Welt der leisen Farben ein, um voller Spannung zuzuhören und Anregungen für das familiäre Miteinander herauszufiltern.
Stellvertretend für seine eindrucksvolle Auswahl an Märchen aus aller Welt drucken wir das chinesische Rosenmärchen „Die blaue Rose“ ab, in dem deutlich wird, dass die Liebe über allem steht:
(Chinesisches Rosenmärchen)
Der Kaiser von China hatte eine Tochter, die war schön und sehr klug – und sehr, sehr eigenwillig: was sie nicht wollte, das wollte sie nicht. Und heiraten, heiraten wollte sie ganz gewiß nicht. Am Hof und im ganzen Reich wurde darüber schon getuschelt: „Sie nimmt keinen Mann. Sie will keinen Mann! Was mag da nur los sein? Ist sie zu stolz? Oder kann sie nicht lieben? Oder ist sie am Ende gar verhext?“
Ihr Vater, der Kaiser, drängte sie darum jeden Tag, doch einen Ehemann zu nehmen, und endlich sagte sie: „Also gut, ich werde heiraten – aber nur den, der mir eine blaue Rose bringt“.
Da rief der Kaiser alle großen und wichtigen Männer des Reiches in seinen Palast, und sagte, derjenige solle seine einzige Tochter zur Frau bekommen, der ihr eine blaue Rose bringe.
„Eine blaue Rose? Eine blaue Rose! Hat man davon je gehört?!“ Die Freier murmelten und murrten und machten sich davon. Und nur drei blieben übrig:
der erste ein großer Kriegsheld,
der zweite ein reicher Kaufmann,
der dritte ein Gelehrter, bewandert in allen Wissenschaften und in der schwarzen Kunst der Hexerei.
Und die versprachen nun alle drei, in dreißig Tagen zurückzukommen mit einer blauen Rose.
Der Kriegsheld rüstete sich und zog mit hundert Kampfgefährten gegen ein benachbartes Königreich, das war berühmt für seine Schätze. Und dem König des Reiches ließ er sagen:
„Ich werde dich vom Thron stürzen und dein Reich zerstören, wenn du mir
nicht eine blaue Rose bringst!“ Der König erschrak, und mit ihm sein Reich,
und seine Diener und Ratgeber überlegten hin und her, bis endlich einer in einer Schatzkammer einen großen blauen Edelstein fand, einen gewaltigen Saphir. Den brachte man zu einem Edelsteinschleifer, der schnitt daraus eine blaue Rose, die gab man dem fremden Krieger, und der zog zufrieden ab.
Der Kaufmann durchforschte all seine Lager und Speicher und ließ auf allen Märkten im Inland und Ausland fragen, ob eine blaue Rose zu kaufen wäre – aber sie war für Geld nicht zu haben. Da erstand er für ein Vermögen eine Schale aus Porzellan, zart wie ein Posenblatt,
und vom besten und teuersten Maler des Reiches ließ er da hinein eine blaue Rose malen.
Der Gelehrte ging in sein Haus, schloß sich ein in der innersten Kammer, schlug nach in den uralten Büchern, fand die geheime Formel, mischte seltsame Kräuter und Pulver, kochte daraus einen blauen Sud, stellte eine weiße Rose hinein – und die weiße Rose färbte sich blau!
Nach dreißig Tagen kamen die drei zum kaiserlichen Palast; verneigten sich vor dem Kaiser und vor seiner Tochter, dann trat der Krieger vor und gab der Prinzessin die Edelsteinrose.
„Das ist keine blaue Rose,“ sagte die Prinzesssin, „das ist ein Saphir,
und davon hab ich mehr als genug.“
Da trat der Kaufmann vor und reichte ihr die Rose aus Porzellan.
„Wie schön, wie wunderschön,“ sagte die Prinzessin.
„Sollte ich jemals wirklich eine blaue Rose bekommen, so will ich sie nur in diese Vase stellen.“
Da trat der Gelehrte vor und gab ihr die Zauberrose. Die Prinzessin nahm sie, besah sie von allen Seiten, ging damit zum geöffneten Fenster – da flog ein Schmetterling herein, setzte sich auf die Rose und fiel im Augenblick wie tot zu Boden. „Das ist keine blaue Rose“, rief die Prinzessin, „das ist Gift und Betrug und Hexerei!“
Am Abend dieses Tages ging sie durch den Garten des kaiserlichen Palastes. Da hörte sie von jenseits der Mauer eine wunderschöne Melodie, und jemand sang dazu von der Schönheit und von der Liebe und von der Sehnsucht. Sie stieg auf einen Gartenstuhl, schaute über die Mauer und erblickte einen jungen Spielmann.
„Wie schön ist dein Lied, Fremder,“ sagte sie.
„Viel schöner ist dein Gesicht, Fremde,“ sagte er.
Und die Luft war süß und der Mond schien wie Silber und sie blieben sich nicht lange fremd, denn ihre Herzen fanden zueinander.
„Du bist der erste Mann, den ich lieben kann,“ sagte die Tochter des Kaisers, „doch ich kann dich nicht heiraten,
denn ich habe erklärt, ich würde nur den zum Mann nehmen, der mir eine blaue Rose bringt.
Und das Wort der Tochter des Kaisers ist wie ein Gesetz.“
„Ach, wenn es mehr nicht ist!“, sagte der Spielmann, „morgen früh komm ich zu dir in den Palast mit einer blauen Rose.“
Am andern Morgen ging der Spielmann zum Palast, und unterwegs pflückte er am Straßenrand eine weiße Rose.
Und er trat vor den Kaiser und seine Tochter, verneigte sich und gab der Prinzessin die Blume, die er in der Hand hielt. Die nahm die Blume und sah den Spielmann an und sagte, ja, genau so eine blaue Rose habe sie sich immer gewünscht. Und weil das Wort der Tochter des Kaisers wie ein Gesetz ist, darum sagte ihr Vater:
„Sie hat es gesagt, die Rose ist blau, und damit wird sie jetzt deine Frau!“ Und sie heirateten und wurden sehr glücklich und bekamen viele Kinder.
Und im Garten ihres Palastes blühten tausende weiße Rosen, aber sie nannten ihn nur – unsern blauen Garten.