Toleranz – Erziehungsziel für Schule und Elternhaus
Ignatz Bubis
Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland
Vortrag im Rahmen des „3. Handruper Forums“ vom 19. Mai 1995.
(Wortgetreue Abschrift nach Bandmitschnitt.)
Begrüßung durch P. Dr. J. Meyer-Schene
Zur heutigen Abendveranstaltung begrüße ich Sie alle sehr herzlich, und ich freue mich, daß Sie so zahlreich unserer Einladung gefolgt sind. Das Handruper Forum hat es sich zum Ziel gesetzt, mit Eltern, Lehrern und Schülern und allen Interessierten über bedeutsame Themen im Erziehungsprozeß ins Gespräch zu kommen und im Gespräch zu bleiben.
Einige Gäste unserer heutigen Veranstaltung möchte ich ganz besonders begrüßen, nämlich den Landrat des Landkreises Emsland, Herrn Josef Meiners, den Dezernenten unserer Schule, Herrn Leitenden Schulamtsdirektor Claus Lanfermann von der Bezirksregierung Weser-Ems, und den Arbeitskreis Judentum – Christentum, vertreten durch Herrn Pastor Becker und Herr Lothar Kuhrts aus Freren. Außerdem alle anwesenden Bürgermeister und Pastöre, die ich aber nicht alle im einzelen begrüßen kann.
Mein besonderer Gruß gilt natürlich Ihnen, verehrter Herr Bubis. Ich danke Ihnen, daß Sie trotz Ihrer vielfältigen Verpflichtungen als Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland unsere Einladung angenommen haben, um heute Abend zu uns zu sprechen. In diesem Zusammenhang danke ich auch Herrn Oberstudienrat Paul Wöste, der diese Veranstaltung geplant und alle Vorgespräche zur Durchführung geführt hat.
Das Thema des heutigen Abends „Toleranz – Erziehungsziel für Schule und Elternhaus“ erhält seinen Sinn in vielfacher Weise. Vor dem Hintergrund der menschenverachtenden Verbrechen während des Naziregimes, ist es eine Verpflichtung für uns, unsere Schüler und Kinder zu einem Nichtvergessen zu erziehen. Zum anderen begegnen uns heute wieder zunehmende Gewaltbereitschaft, Fremdenfeindlichkeit, oftmals begleitet von Orientierungslosigkeit und Desinteresse am anderen und seinen Problemen. In Zeiten scheinbar abnehmender moralischer Werte und gleichzeitig intensiver Suche nach weiterhin gültigen Wertvorstellungen, wird der Mangel an Toleranz von Pädagogen, Eltern, Politikern und Gesellschaftswissenschaftlern denn auch häufig als Ursache für gesellschaftliches Fehlverhalten genannt. Auf Elternhaus und Schule kommt in Zeiten des Werteumbruchs mühsame Erziehungsarbeit zu. Sie, verehrter Herr Bubis, können aus persönlicher Erfahrung die Auswirkungen von Intoleranz veranschaulichen. Aufgrund dieser Erfahrung sind Sie zu einem unaufhörlichen Mahner für gegenseitiges Verständnis und Toleranz geworden. Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie zu uns gekommen sind.
Für Sie, Herr Bubis, kann es von Interesse sein zu wissen, daß auf unserem Handruper Klosterfriedhof einer unserer Ordensmitbrüder, Herr P. Dr. Heinrich Middendorf seine letzte Ruhestätte gefunden hat, der am Mittwoch, dem 24. Mai dieses Jahres, in unserer Schule und in unserem Kloster in Steegen bei Freiburg vom Staat Israel posthum geehrt wurde. Im Einladungsschreiben der Botschaft des Staates Israel heißt es:
Zitat: “Der vormalige Rektor des Klosters der Ordensgemeinschaft der Herz-Jesu Priester in Steegen, Pater Dr. Heinrich Middendorf ist von der Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem für seine lebensrettende Hilfe, die er in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgten Juden in Steegen gewährte, posthum mit dem Titel „Gerechter unter den Völkern“, geehrt worden.“ Pater Middendorf ist der erste deutsche Priester, dem die höchste Auszeichnung, die Israel an Nichtjuden verleiht, zuteil wird.
Pater Dr. Heinrich Middendorf ist gebürtig aus Aschendorf im Emsland. Er war Zeit seines Lebens mit dem Klosterleben verbunden. Wir werden hier Pater Middendorf zu gegebener Zeit in einer Gedenkstunde würdigen. Wir als Herz-Jesu-Priester sind stolz auf unseren verstorbenen Mitbruder, der in unserem Kloster in Steegen jüdische Mitbürger vor dem sicheren Untergang bewahrt hat. Sein Vorbild ist uns Vermächtnis und Mahnung.
Legitimen Sinnentwürfen müssen wir in einer pluralistischen Gesellschaft mit deren weltanschaulichen Vielfalt mit Sachlichkeit und Toleranz begegnen, um so zu einer besseren und humaneren Welt hinzuführen. Wenn ich eingangs gesagt habe, daß es unsere Pflicht ist, zum Nichtvergessen zu erziehen, kann das nicht alles sein. Erziehung ist immer verbunden mit einer Option für die Zukunft. Und deswegen möchten wir in unserer Unterrichts- und Erziehungsarbeit am Gymnasium Leoninum immer auch Tore aufstoßen, die Wege in eine humane und friedliche Zukunft eröffnen.
Ein letztes Wort noch, verehrter Herr Bubis. Ich danke Ihnen, daß Sie auf Honorarforderungen verzichtet haben, ich weiß aber, daß Sie eine Stiftung ins Leben gerufen haben, ich nenne sie jetzt einfach die Bubis – Stiftung, und deswegen werden am Ende der Veranstaltung Schüler und Schülerinnen an den Ausgängen für Ihre Stiftung sammeln. Den Betrag werde ich Ihnen dann gerne zukommen lassen. Jetzt darf ich Sie aber bitten, zum Thema „Toleranz – Erziehung in Schule und Elternhaus“ zu sprechen. Ich danke ihnen.
Vortrag Ignatz Bubis
Vielen Dank für die freundliche Einladung und herzliche Begrüßung. Ich möchte mich zunächst einmal dafür entschuldigen wegen des verspäteten Eintreffens. Ich habe nur an eines gedacht, Freitag, aber ich habe doch unterschätzt, die Zufahrten nach Handrup, die ja nicht ganz so einfach sind, um hier schnell her- und durchzukommen. Tut mir leid, ich bitte um Entschuldigung.
Ich will gleich einmal damit anfangen, weil Sie vom Werteumbruch gesprochen haben. Sehr viele sprechen von der Suche nach neuen Werten. Da habe ich manchmal den Eindruck, als ob wir alle schon vergessen haben, mit welchen Werten wir seit Jahrhunderten gelebt haben und welche Werte uns bekannt sind. Und ich glaube, wenn wir diese Werte beachten, dann brauchen wir auch nicht nach neuen Werten zu suchen. Diese Werte waren sicherlich, gerade in der Zeit des Nationalsozialismus, mit Füßen getreten worden. Die Umstände, wie Menschen diesen Krieg und diese Jahre erlebt und überlebt haben, haben sicherlich in weiten Kreisen Spuren hinterlassen, sie haben aber auch Spuren der Verrohung hinterlassen. Und hier ist etwas, womit wir alle konfrontiert sind, und ich spreche jetzt nicht nur über die Jahre des Nationalsozialismus, sondern auch auch über die letzten 3-5 Jahre, als die Auflösung der Blöcke kam und viele von uns glaubten, jetzt würde es in der Welt etwas ruhiger und beschaulicher werden – und daß die Kriegsgefahren gebannt seien. Da mußten wir erleben, wie neue ethnische Kriege oder andere plötzlich an allen Orten dieser Erde ausbrachen, als ob die Geschichte des 2. Weltkrieges mit 55 Millionen Toten spurlos vorbeigegangen wäre. Sicherlich könnte der ein oder andere sagen, Tschetschenien und Ruanda, das ist alles weit weg, aber was vor unsere Türe sich im ehemaligen Jugoslawien abspielt, das kann nun wirklich keiner sagen, daß das alles mit uns nichts zu tun hat. Wir erleben es leider, daß es in diesen Jahren oft zu Verbrechen, die dort geschehen sind, gekommen ist. Auch hier, wo wir noch vor 3 Jahren, als die ersten Bilder zu uns rüberkamen, mit großer Empörung reagiert haben. Wir empören uns heute auch noch, aber das war es dann auch mit dem bißchen Empörung. Wenn wir auf dem Gebiet der europäischen Einheit, was ganz wichtig ist, damals so weit wie das heutige Europa gewesen wären, dann wäre es möglicherweise doch nicht zu solchen Exzessen gekommen. Insofern sind schon Fortschritte erzielt worden, aber wie wir Europäer in dieser Zeit im ehemaligen Jugoslawien gehandelt haben, ist aber für Europa beschämend. Daß ist nur eines der Beispiele der Verrohung der Zeit, deren Ursache nicht zuletzt in den Grausamkeiten des 2. Weltkrieges liegen, die uns alle haben in irgendeiner Form anders werden lassen. Ich komme zurück zu den Werten. Leider muß man auch hier feststellen, daß die Bindung der Menschen an die Ethik und Moral der Religionsgemeinschaften und Religionen – übrigens aller Religionen -abnimmt, nicht zuletzt deshalb, weil zu viele sich auch von den Kirchen und von den Religionsgemeinschaften abwenden. Wir erleben es sehr oft. Das geschieht in der katholischen Kirche, in der evangelischen Kirche, auch im Judentum, aber auch im Islam. Wir müßen erleben, daß die Abwendung der Menschen immer stärker zunimmt und gleichzeitig dann auch ein Fundamentalismus auf der anderen Seite entsteht. Daß sich insbesondere im Islam, aber auch im Judentum ein neuer Fundamentalismus breitmacht, mit dem wir so nicht weiter leben werden können. Denn Fundamentalismus heißt zweierlei: Unakzeptanz anderer Glaubensrichtungen, aber auch eine Intoleranz gegenüber jedem und allem. Und wenn wir heute von der Erziehung zu der Toleranz sprechen, so halte ich das für nicht ausreichend.
Der Begriff Toleranz entstand vor vielen Jahrhunderten, damals meinte man, den anderen zu erdulden oder zu ertragen. Toleranz hieß aber noch nicht, den anderen auch zu akzeptieren. Wenn wir uns heute in unserer Gesellschaft angesichts der Erscheinungen der Fremdenfeindlichkeit, des Rassismus umsehen, dann müssen wir feststellen, daß zwar die Mehrheit der Gesellschaft sich für tolerant hält, aber Toleranz von einer Gleichgültigkeit nach dem Motto „Ich bin ja nicht so“, „Mich stört es nicht“ und „Von mir aus soll der Mensch so sein“ sieht. Aber das zeigt noch lange nicht die Bereitschaft, den anderen auch zu akzeptieren.
Wenn ich diesen Zustand etwas beschreiben soll, der vielerorts und den meisten von uns unter dem Begriff Ausländerfeindlichkeit verstanden wird, so müssen wir doch feststellen, daß das keine Ausländerfeindlichkeit im üblichen Sinne ist. Ich kann das nicht oft genug wiederholen: Ausländer sind auch Schweitzer, Australier, Neuseeländer, Holländer, Dänen, Franzosen oder weiße Amerikaner. Ich habe viele Ausländer aufgezählt, zu denen überhaupt keine Feindschaft in Deutschland besteht. Was wir in Wirklichkeit haben, ist eine Fremdenfeindlichkeit – und diese Fremdenfeindlichkeit drückt sich in erster Linie zu denen gegenüber aus, die uns fremd sind. Fremd, sei es in der Religion oder in der Kultur. Dabei kann es sich durchaus um Deutsche handeln, dann würde es schon ausreichen, wenn sie uns fremd vorkommen.
Aber auch Behinderte sind für einen Teil unserer Gesellschaft Fremde. Sie sind nicht bereit, diese Fremden, die Behinderten zu akzeptieren. Das ist etwas, was mich auch besorgt macht, denn diese Fremdenfeindlichkeit hat in der Regel eine rassistische Grundlage oder zumindest eine Nichtbereitschaft, den anderen zu tolerieren. Wobei ich hier sehrwohl unterscheide zwischen der Gewalt, die wir den Fremden gegenüber erleben, und zwischen der verbalen Gewalt oder des Denkens in diesen Kategorien. Wir sind seit 3 Jahren, mal stärker, mal schwächer mit Gewalt konfrontiert worden, mit Gewalt wie in Hoyaswerda oder wie in Mölln. Das sind Orte, von denen mancher nicht wußte, wo sie liegen. Aber diese Namen haben die Runde gemacht in der Welt und wurden publik. Plötzlich wußte die ganze Welt, wo Hoyaswerda liegt, Namen die sonst keinem etwas gesagt haben. Wenn man früher an Solingen dachte, dachte man an Schneidwaren. Ich war heute nachmittag in Bonn bei einer Veranstaltung mit Studenten und am Schluß der Veranstaltung haben sie Halbsätze gesagt und wollten diese von mir ergänzt haben. Darunter war: „Wenn sie den Namen Solingen hören, woran denken sie.“ Vor 3 Jahren hätte ich gesagt, daß Messer, die in Solingen produziert werden sehr gut sind, denn Solinger Stahl war berühmt. Aber heute, ohne nachzudenken, heißt es, ob ich will oder nicht, wenn ich Solingen höre, denke ich an Geschehnisse, die sich in Solingen ereignet haben. Dabei, wenn wir zum Vergleich heute von der notwendigen Zivilcourage sprechen, dann ist das doch heute ganz anders als zu den Zeiten als Pater Middendorf hier Menschen versteckt hat, denn der hat sein Leben riskiert. Er hat sein Leben, seine Freiheit, seine Gesundheit riskiert und hat es dennoch getan.
Heute ist es risikolos, Menschen, die Hilfe bedürfen, zu helfen. Bis auf diejenigen, die Brandstifter sind und gegen diese Menschen etwas vorhaben, steht der Staat auf unserer Seite, auf der Seite der Hilfsbereiten. Der Staat droht demjenigen nicht, der einem hilfsbedürftigen Hilfe leistet, daß er ihn einsperren wird oder zum Tode gar verurteilen wird, was ja alles in der Nazizeit möglich gewesen war. Deshalb sind die Unterscheidung zwischen Zivilcourage damals und Zivilcourage heute unterschiedliche Welten. Das, was damals des Mutes bedurfte, ist heute ja gar nicht mal gefordert. Und schon gar nicht der Einsatz des eigenen Lebens und Freiheit. Um so unverständlicher ist es, daß eigentlich relativ wenig Menschen zu dieser Hilfe bereit sind. Ich unterscheide dabei zwischen den Gewalttätern und den anderen. Die Zahl der Gewalttäter ist nicht sehr groß, so sehr der Schaden, den sie anrichten, die Verbrechen, die sie begehen, schlimm ist. Hier ist es eine Aufgabe des Staates, der Gewalt zu begegnen und mit Staat meine ich Polizei, Justiz und alle zuständigen Behörden, die damit beauftragt sind. Eine gewisse Besserung hat es sicherlich in den letzten 2 Jahren insoweit gegeben, als ich den Eindruck hatte, daß 1992/93 diese Gewalttäter nicht ernst genug genommen wurden. Ich gebe nicht als Begründung, daß die Justiz auf dem rechten Auge angeblich blind sei, das trifft nicht zu – zum größten Teil handelt es sich um eine liberale Justiz, die meinte, nur mit erzieherischen Maßnahmen dem begegnen zu können und daß es sich bei den Gewalttätern um dumme Jungs, Verführte handele, die man noch auf den richtigen Weg zurückbringen kann.
Es hat sich aber herausgestellt, daß die Einstellung den Gewalttätern sehr entgegengekommen ist, als daß sie wirklich geholfen hat. Dazu ein Beispiel aus Hoyerswerda: Als damals die Brandsätze gegen die Menschen geflogen sind, hat die Polizei am gleichen Abend etwa 80 junge Leute festgenommen, die sie am nächsten Tag alle laufen lassen haben. Zu gleicher Zeit wurden diejenigen, die nach Hoyaswerda gekommen waren, weil sie dort in Asylheimen untergebracht werden sollten, in einen anderen Ort gebracht. Daß das für die Gewalttäter eine Bestätigung war, weil der Staat auf ihr Forderung eingeht, hat die Sache verschlimmert. Ich behaupte, ein anderes Handeln in Hoyerswerda hätte vielleicht Rostock nicht gebracht. Aber selbst in Rostock hatte man den Eindruck, dort war es nicht die Justiz, sondern die Polizei, die nicht alles getan hat, was möglich war, so daß die Übergriffe 3 Tage lang angehalten konnten. Ich war vor Ort, habe das gesehen und nicht nur nach meiner Auffassung hätte die Polizei in ganz wenigen Stunden Herr der Lage sein müssen.
Es sind ja auch Verantwortliche in Rostock zur Rechenschaft gezogen worden. Der Schaden aber war bereits da. Ich meine nicht den materiellen Schaden, sondern den imateriellen Schaden, was den Menschen und damit der Gesellschaft zugefügt wurde.
Ich wollte das nur als Beispiel sagen, und ich habe doch den Eindruck, daß sich inzwischen etwas verändert hat. Aber diese Gewalttäter sind nicht meine Hauptsorge, denn hier erwarte ich, daß der Staat, daß die Justiz tätig wird, und ich glaube auch, daß sich in diesem Denken etwas verändert hat, daß die Gewalttäter doch wieder ernster genommen werden. Bei den Gewalttätern selbst handelt es sich zu 90% um Jugendliche. Die Zahl dieser Gewalttäter ist aber nicht sehr groß, der Schaden, den sie anrichten allerdings ist sehr groß. Aber es sind zu 90% Jugendliche. Hier heißt es, mit zwei Mißverständnissen aufzuräumen. Das erste, was allgemein als Schluß gezogen wird ist, daß es die Jugend ist, die so verroht sei, daß sie keine Zukunft sieht und deshalb zu dieser Gewalt schreitet. Es handelt sich bei den Tätern überwiegend um Menschen aus den Rändern der Gesellschaft. Die Wirklichkeit sieht aber ganz anders aus.
Wenn man die Gewalt beiseite läßt, dann ist die Fremdenfeindlichkeit bei jungen Menschen, Rassismus bei jungen Menschen, weit weniger verbreitet als in der älteren Generation. Ich kann das nicht nur aus Umfragen bestätigen, die regelmäßig durchgeführt werden, ich kann es auch aus eigenem Wissen bestätigen, denn in den letzten 2 ½ Jahren, seitdem ich dieses Amt inne habe, habe ich mit weit mehr als 250.000 jungen Menschen einen Dialog geführt. Unmittelbare Kontakte mit mehr als 250.000 Schülern, Studenten, Mitgliedern von Jugendverbänden haben mir bestätigt, daß diese Umfragen tatsächlich stimmen, daß bei so jungen Menschen so etwas wie Rassismus und Fremdenfeindlichkeit weit weniger verbreitet ist, als bei den älteren Generationen. Wenn man die Statistiken des Bundeskriminalamtes oder des Verfassungsschutzes genau betrachtet, dann stellt man fest, das von den Gewalttätern nur 1% einfache Arbeiter, 9% Arbeitslose, 34% Angestellte und 43% Schüler, Studenten, Auszubildende, die alle einen Arbeitsplatz oder Studienplatz haben. Diejenigen, die diesen Platz nicht haben, werden unter den Arbeitslosen geführt. Das ist sehr wichtig für die Polizei, wie sie damit umgeht, woran das liegt. Die Zahl derjenigen, die nur fremdenfeindlich denken ist schon erheblich größer. Nebenbei gesagt: die Zahl der Gewalttäter aus dem rechtsextremen Spektrum wird auf nicht mehr als etwa 8000 junge Menschen geschätzt. Die gleiche Zahl gibt es bei den Linksautonomen wie Skinheads, denen es um die Gewalt geht, egal ob rechte oder linke, Hauptsache sie können der Gewalt frönen. Für viel gefährlicher halte ich, auch wenn diese Zahl nicht so groß ist, die geistigen Brandstifter. Die mit ihren Äußerungen und mit ihren Parolen junge Menschen die zur Gewalt neigen, sozusagen von ihnen den „Buhmann“ geliefert bekommen, gegen den sie dann ihre Gewalt anwenden können. Tatsächlich sind viele Gewalttäter gar nicht so in ihrer Ideologie verfestigt, besonders bei den Rechten. Bei den Linken ist das schon etwas anders. Bei Ihnen sind die Gewalttäter auch schon in einem höheren Durchschnittsalter als bei den rechtsextremen Gewalttätern.
Wir erleben es ja, daß wie z.B. in Wuppertal 13-14-jährige Schüler den jüdischen Friedhof dort auf bestürzende Weise geschändet haben. 13-14-jährigen Schülern anzulasten, daß das etwas mit Ideologie zu tun hat, ist sicherlich vermessen und wird auch wohl nicht stimmen. Aber das, was die Kinder aus der Gesellschaft bzw. aus den rechtsextremen Flugblättern und Zeitschriften entnehmen, ist es, was sie dazu verleitet, solche Dinge zu tun. Vielleicht gibt es auch noch einen Teil, der in erster Linie damit provozieren will, weil man sich davon die höchste Aufmerksamkeit verspricht. Dann werde z. B. eben Judenfriedhöfe geschändet, denn sie wissen, hier treffe ich den Nerv der Gesellschaft. Die geistigen Brandstifter sind auch eine kleine Minderheit, denn noch nicht einmal jener, der sie wählt und sich mit deren Programm identifiziert, will sie wirklich im Bundestag sehen. Aber unter den Wählern gibt es halt solche, die meinen, dadurch einen Protest zum Ausdruck zu bringen. Aus welchen Gründen auch immer: aus politischer Verdrossenheit, Politiker-Verdrossenheit, was immer der Grund sein mag. Hier heißt es aufzupassen, daß das nicht überhand nimmt.
Erfreulicherweise, und ich glaube sogar, daß der geringe Zuwachs im Wahljahr 1994 an Stimmen für rechtsextremen Parteien nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, daß die Mehrheit der Gesellschaft auch solche, die ähnlich denken, letztendlich die Gewalt nicht will. 99% der Gesellschaft zeigt eine deutliche Abneigung gegen diese Gewalt, was sich in dem Stimmenanteil der rechtsextremistischen Parteien bei den Wahlen 94/95 gezeigt hat. Wir haben aber eine schon größere Gruppe, die sehrwohl fremdenfeindlich denkt und sich noch nichteinmal für tolerant hält, aber auch das ist nicht die Mehrheit in der Gesellschaft. Die Mehrheit der Gesellschaft lehnt zwar Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in einem gewissen Umstand ab, wobei sie sich des Begriffes „Toleranz“ bedient, indem sie den anderen, den Fremden ertragen, aber noch lange nicht akzeptieren. Das ist schon die Mehrheit der Gesellschaft und hier heißt es tatsächlich, aus der Geschichte zu lernen. Ich halte dieses Lernen aus der Geschichte, aus der Vergangenheit für sehr wichtig. Sicherlich hat mein eigenes Leben mich geprägt, es hätte mich in unterschiedlicher Richtung prägen können.
So hätte ich z.B. eine Bitternis ausleben können, die sich gegen alles, was sich nicht mit mir Identifiziert, richtet. Ich habe zu keinem Zeitpunkt lang in jedem meinen Feind gesehen, denn er war es ja auch nicht. Es gab sicher viele in dieser Zeit, die viel mehr hätten tun können als sie getan haben, aber für die damalige Zeit will ich das auch nicht nachtragen, weil ich weiß, daß nicht jeder diesen Mut hatte wie ihr Bruder Middendorf auch sein Leben, seine Freiheit, seine Gesundheit riskiert hat. Aber heute erwarte ich doch von der Gesellschaft, daß sie mehr tut als Toleranz gegenüber den Fremden zu zeigen.
Wo fangen wir an und wo setzen wir an. Für mich ist es eigentlich das erste Mal bei solchen Veranstaltungen, daß die Eltern von sich aus schon mit einbezogen wurden und gemeinsam mit ihren Kinder über das Problem sprechen. In der Regel heißt es: „Was können wir Eltern tun? – Was können die Kinder tun? – Was können wir Erzieher, was kann die Schule tun?“ Ich versuche jedesmal zu sagen, daß die Erziehung immer im Elternhaus beginnt. Die Erziehung beginnt nicht in der Schule und das, was im Elternhaus möglicherweise versäumt wird, kann die Schule sehr oft nicht reparieren. Denn die Schule wird in der heutigen Gesellschaft, in einer Gesellschaft, die sehrwohl egoistisch ist, und die man als Anspruchsgesellschaft bezeichnen kann, sehr häufig als Reparaturwerkstatt betrachtet. Diese Gesellschaft hat sich nämlich angewöhnt, von anderen etwas zu erwarten, insbesondere von dem Staat, von der Schule, von wem auch immer, das andere die Aufgaben übernehmen, die man selbst nicht bereit zu übernehmen ist. Ich weiß, meine Mutter hat 7 Kinder großgezogen, leider nicht alle allzu groß, weil 3 schon im Jugend- und Kindesalter verstorben sind. Aber sie kannte keinen 8-Stundentag. Wer will heute schon von einem 8-Stundentag sprechen. Einmal sind wir für 2 Wochen in Urlaub gefahren, in den nächsten Ort, der 22 km entfernt war, weil es dort einen Wald gab, in dem man spazierengehen konnte. Das war der Urlaub. Mein Vater hat nicht 38 Stunden gearbeitet, auch nicht 42, der Minimalfall war etwa 60 Stunden. Aber meine Eltern haben nicht erwartet, daß ihnen jemand die Erziehung der Kinder abnimmt, sondern sie haben es auf sich genommen. Heute fühlen sich die, die 38,5 Stunden arbeiten schon schon im Streß und meinen 35 sind genug. Ich gönne jedem auch 35 Stunden, nur dann sollten wir einen Teil unserer Freizeit – vor allem aber den Teil der neu hinzugewonnenen- auch mit unseren Kinder verbringen. Wobei ich persönlich dazu sagen muß, daß ich mich auch nicht immer darum bemühte. Allerdings hat meine Frau sich darum gekümmert. Aber es kann nicht nur die Aufgabe der Mutter sein, denn ein Kind braucht zwei Elternteile, um eine entsprechende Erziehung zu genießen. Deshalb begrüße ich es ausdrücklich, wie Sie in der Presse und in der Einladung zu diesem Abend geschrieben und in der Begrüßung über Erziehung und Schule gesagt haben.
Natürlich hat die Schule die Aufgabe das fortzusetzen, natürlich hat die Schule auch die Aufgabe zu reparieren, wo es eben nicht anders geht. Aber sie darf sich nicht nur auf’s Reparieren beschränken.
Gefordert ist eigentlich auch die ganze Gesellschaft, denn wir haben noch etwas anderes. Wir haben eine verbale Gewalt. Wir merken es gar nicht mehr, wie sehr wir verschiedene Begriffe einfach übernehmen und sie weitertransportieren. Auch im Umgang mit fremden Menschen. Ich habe meine Erfahrungen eben in dieser Zeit gemacht, die sich bei mit eingeprägt haben, die mich haben nicht blind werden lassen, sondern aus meinen Lehren habe ich eben nicht diese Bitternis gezogen, die vielleicht bei vielen meiner Generation noch vorhanden ist, die dadurch gegenüber dem Leid von Dritten unempfindlich geworden sind. Ich verrate keine Geheimnisse, obwohl ich sagen muß, daß sich das in der letzten Zeit geändert hat. Aber sehr oft bin ich von Mitgliedern der Jüdischen Gemeinschaft nach meinen Auftritten gefragt worden: „Was gehen dich eigentlich die Türken an? Was gehen dich die Zigeuner an? Wir haben dich gewählt, damit du dich um die Angelegenheiten der Jüdischen Gemeinschaft in Deutschland kümmerst – und das solltest du nicht vernachlässigen und dich nicht um andere Dinge kümmern.“
Ich habe versucht, meinen Glaubensbrüdern und -schwestern zu erklären, daß wir nach 1945 beklagt haben, daß in den Jahren 33-45 vielzuviele weggeschaut haben. Und hätten sie nicht weggeschaut, hätte man dem ein oder anderen helfen können. Aber wenn wir dieses beklagten, dann kann es doch nicht angehen, daß wir selbst, wenn es nicht um uns geht, wegschauen und die Lehren aus der Vergangenheit für die Gegenwart nicht ziehen. Wenn es Menschen gibt, die unserer Hilfe bedürfen, dann dürfen wir sie ihnen nicht verweigern. Sehr oft ist ein freundliches Wort eine ganze Menge, weil derjenige, der in Not ist, das Gefühl hat, es geht jemanden etwas an, was mit ihm geschieht, Das kann schon eine enorm positive Wirkung haben.
Deshalb, und das ist meine Lehre aus der Geschichte, versuche ich das nachzuliefern, was mir nicht geboten wurde, wobei ich dazu sagen muß, daß ich mir doch nicht ganz sicher bin, ob es mir indirekt doch geboten wurde. Denn, und das ist sicherlich kein Einzelfall, es gab auch anderes. Ich bin September 1942 in ein Zwangsarbeitslager gekommen, und angesichts der Geschehnisse in dem Lager zwischen 1942 bis 1945 konnte es passieren – unsere Lager lag unmittelbar an einer Bahnstrecke – daß wir plötzlich aus einem Lebensmittelwagon, der für Soldaten der Luftwaffe bestimmt war, einen Sack Mehl zugeworfen bekamen.Dazu riefen sie: „Ihr Saujuden, hier habt ihr verdorbenes Mehl!“ Aber es war Mehl, das überhaupt nicht verdorben war. Auch das haben wir, habe ich in diesem Lager erlebt, wo 1200 Menschen zu diesem Zeitpunkt da waren. Es gab das Lager, in dem Schindler war, der auch nicht aus theoretischem Humanismus versucht hat, das Leben der Menschen zu lindern. Sondern aus reinem Menschlichkeitsgefühl. Er hat schlicht und einfach ein Stück täglicher Menschlichkeit gezeigt und solche gab es viele. Vielleicht habe ich diesem Umstand auch mein Leben zu verdanken, vielleicht aber auch, weil der Fliegerhorstkommandant, als ihm gesagt wurde, er müsse die Juden abliefern und würde dafür Turkmenen bekommen würde. Turkmenen, die in die Kriegsgefangenschaft geraten waren, aber von den Nazis besser behandelt wurden als Russen, Weißrussen oder Ukrainer. Er wußte genau, wenn er die Turkmenen akzeptieren würde, würde er uns dem Tod ausliefern. Er wußte auch, daß die Turkmenen, wenn er sie nicht nimmt, deshalb nicht vernichtet werden, weil diese Prozedur der Vernichtung sich eigentlich nicht gegen die Turkmenen richtete, aus welchen Gründen auch immer. Ob sie bei einem Sieg der Nazis am Ende nicht doch auch zu den Leidtragenden geworden wären, weiß man nicht. Sie wurden nicht als gleichberechtigte Menschen behandelt, sie wurden allerdings auch nicht umgebracht. Auf diese Weise war ich in einem solchem Lager bis Juni 1944. Ich sage das als Beispiel, weil vielleicht auch diese Menschlichkeit, die ich dort erlebt habe, mich indirekt mitgeprägt hat. Vielleicht hat mich auch das Elternhaus geprägt. Ich hatte einen Geschäftspartner, der immer gesagt hat: „Der Mensch ist schlecht, jeder Mensch ist schlecht, und jederzeit, bis er dich nicht vom Gegenteil überzeugt hat, mußt du davon ausgehen, daß er schlecht ist.“ Ich wußte von meinem Großvater: „Jeder Mensch ist gut, bis er dich vom Gegenteil überzeugt hat.“ Aus einer solchen Sichtweise, aus einer solchen Betrachtungsweise kann man für sich und auch für den Umgang mit Menschen lernen.
Wie wir mit dem Phänomen der Fremdenfeindlichkeit, der Gleichgültigkeit fertig werden, dafür habe ich auch kein Patentrezept. Aber wir sind alle gefordert, Verallgemeinerungen und Vorurteilen zu begegnen. Das ist etwas, was nicht sehr leicht und einfach ist. Wir kennen ja alle diese Begriffe, die, ich will sie ja gar nicht alle wiederholen, die bei der Diskussion um das Asylrecht gebraucht wurden. Wir erleben es ja jeden Tag am Arbeitsplatz, beim Stammtisch, in der Straßenbahn, im Bus, woimmer wir uns befinden: „Ach die vielen Ausländer sind alles Kriminelle.“ oder ähnliches. Wie weit solche Vorurteile reichen, kann man vielleicht erkennen, wenn man sich vergegenwärtigt, wo die schlimmsten Übergriffe passiert sind und wenn man diese Übergriffe im Verhältnis zu den dort lebenden Ausländern oder Fremden sieht. In Hoyerswerda war die Anzahl der Ausländer 0,4%. In Rostock war der Anteil der Ausländer 0,7%. Wir in Westdeutschland, die wir viel mehr Umgang mit Ausländern haben, gibt es 9% Ausländer. Wenn man diese 9% betrachtet, und die Ausländer, die wir nicht als Ausländer sehen, abzieht, dann haben wir in Deutschland keine 9% Ausländer. Denn unter den vielen Millionen sind Schweizer, Amerikaner, Franzosen, Holländer und Japaner. Die Japaner sind eine Ausnahme. Der Japaner sieht fremdländisch aus, hat eine fremde Kultur, eine fremde Religion. Eigenartigerweise hat gegen Japaner keiner was. Aber bei denen haben die Leute das Gefühl: „Die wollen nichts von uns, die bringen uns was“, z.B. als Tourist oder Investoren. Deshalb gibt es da eine unterschiedliche Betrachtungsweise. Aber zurück zu den Zahlen. Im Bundesdurchschnitt gibt es einen Ausländeranteil von ca. 9%, in Mölln waren es um die 3%. In einer Stadt wie Rüsselsheim, wo der Anteil der Ausländer bei 28% liegt, ist nie etwas passiert. Das macht doch deutlich: Dort wo man die Vorurteile nicht kennt, wo man mit den Menschen zu tun hat, dort stellt man plötzlich fest „Die sind ja doch nicht so, wie ich das am Stammtisch gehört habe.“ Wenn wir uns selbst ins Gedächtnis rufen, wenn wir ins Ausland fahren, egal wohin, ob Spanien oder Italien. Wenn wir zurückkommen, sind wir begeistert von der Gastfreundschaft, von den Menschen, die dort leben und wie freundlich sie sind. Aber wenn diese Menschen hierher kommen, denkt man, es sind Feinde geworden. Dabei sind das alles die gleichen Menschen.
—– hier fehlt ein Teil ——
Lassen sie mich zum Schluß noch etwas anderes erwähnen, weil das jetzt gerade 50 Jahre nach Kriegsende ein großes Thema ist oder ein großes Thema geworden ist. In diesem Jahr 1995 haben wir nun alle redlich den Opfern des Holocaust gedacht, bedauert und uns erinnert. Jetzt in dem Jahr 1 nach 50 wollen wir an diese Zeit nicht mehr denken, nicht mehr sprechen. Es sei an der Zeit, endlich alles abzuhandeln. Ich verstehe, daß gerade viele junge Menschen auch dazu sagen: „Was habe ich eigentlich mit dieser Zeit zu tun? Ich habe damals weder gelebt noch gehandelt. Selbst meine Eltern waren damals noch nicht da, oder waren Kinder. Auch meine Eltern können nichts dafür. Es sind schon meine Großeltern, die möglicherweise etwas damit zu tun haben, aber sie haben es mir nie erzählt, daß sie unter den Tätern waren. Denn wer erzählt schon seinem Kind, seinen Enkelkindern, daß er einmal unrechtmäßig und verbrecherisch gehandelt hat, wer tut das schon von sich aus. Was soll ich damit zu tun haben und warum muß ich die Last der Vergangenheit, die Schuld der Vergangenheit meinem Enkelkind gegenüber alleine tragen.“
Ich will deutlich machen, ich glaube hier brauche ich das nicht extra zu betonen: Schuld ist etwas sehr Persönliches. Nur wer persönlich schuldig, wurde ist schuldig. Es gibt keine Schuld der Söhne für die Väter, oder der Väter für die Söhne. Was es gibt ist eine Verantwortung, die man für die Gesellschaft hat. Eine Verantwortung für die Gesellschaft, die auch aus den Lehren aus der Vergangenheit gezogen werden müssen. Wenn wir davon sprechen, daß die Vergangenheit nicht in Vergessenheit geraten darf, daß die Erinnerung an diese Zeit wach gehalten werden muß, dann heißt das nicht, sich jeden Tag einen Sack Asche über das Haupt zu streuen und sich schuldig zu fühlen. Sondern es heißt, zu wissen, was in der Vergangenheit geschehen ist, um daraus für die Gegenwart und die Zukunft zu lernen. Denn wenn wir die Vergangenheit vergessen, laufen wir Gefahr, daß sich alles wiederholen kann. Die Vergangenheit, die deutsche Geschichte ist weder nur 12 Jahre von 1933 – 1945 noch 1000 Jahre minus 12. Die deutsche Geschichte ist als Ganzes zu sehen. Mit den guten, mit den vorbildlichen Zeiten, an die wir uns gerne alle erinnern wollen und diese Zeiten uns bemühen wachzuhalten und nicht zu vergessen, um daraus auch den Stolz, der des eigenen Volkes, der eigenen Nation herzuleiten. Aber die 12 Jahre – am liebsten weg damit. Das geht nicht, Geschichte geht nur als Ganzes und Erinnern und Vergessen bedeutet nicht, sich mit Schuld zu beladen, sondern für die Gegenwart und die Zukunft zu lernen.
Podiumsdiskussion
P. Dr. J. Meyer-Schene:
Sehr geehrter Herr Bubis, ich danke Ihnen für Ihre nicht nur Interessanten, sondern auch sehr persönlichen Ausführungen. Ich bin sicher, daß sehr viele von uns nachdenklich nach Hause gehen werden. Ich will hier nun keine Zusammenfassung ihrer Ausführungen geben, aber jene Unterscheidung zwischen Ausländerfeindlichkeit und Fremdenfeindlichkeit wird uns im pädagogischen Bereich so manche Aufgabe stellen, vor allem auch, daß Toleranz nicht nur als Duldung und Ertragen verstanden wird, sondern als ein Akzeptieren. Wenn Ihnen aufgefallen ist, daß wir hier an unserer Schule zu dieser Veranstaltung Eltern, Schüler und Lehrer eingeladen haben, so ist das ganz bewußt geschehen. Als Vertreter einer freien katholischen Schule weiß ich, daß das, was Sie in ihrem Vortrag betont haben, vollkommen richtig ist: „Schule kann nur das fortsetzen, was im Elternhaus begonnen hat.“ Ich danke Ihnen Herr Bubis, daß Sie Schule nicht als Reparaturbetrieb unserer Gesellschaft verstehen, was heute weithin geschieht. Nur wenn Elternhaus, Schule, Kirchen und andere gesellschaftlichen Institutionen zusammenwirken, sind erzieherische Prozesse verheißungsvoll und ermöglichen es, Verantwortung für die Zukunft in unserer Gesellschaft zu übernehmen. Ziel und Sinn dieser Veranstaltung sind erreicht, wenn wir neu motiviert sind, uns für mehr Verständnis und Toleranz in unserer Gesellschaft einzusetzen. Sie, Herr Bubis, haben sich dankenwerterweise bereiterklärt, noch für Fragen zur Verfügung zu stehen. Ich darf unsere Gäste bitten, die Fragen über ein drahtloses Mikrofon zu stellen. Nochmals sehr herzlichen Dank für Ihre Ausführungen.
P. Dr. J. Meyer-Schene(nach einer kurzen Ruhephase):
Herr Bubis, Sie müssen diese Pause so verstehen, daß wir hier im Emsland immer etwas nachdenklich sind und uns erst dann zu Wort melden.( freudiges Gelächter)
Frage aus dem Publikum:
Herr Bubis, ich stamme nicht aus dem Emsland.( freudiges Gelächter), sondern aus dem Osnabrücker Land, das aber auch erst, nach dem Ende einer langen Reise, denn gebürtig komme ich aus der sogenannten „Kalten Heimat“, bin also gebürtiger Pole. Meine Frage: Wie weit hängt das nur den Schülern ab, oder wie weit hängt das sozusagen auch von den Politikern ab, daß die Schüler nicht lernen, Verantwortung zu übernehmen. Ich selbst bin jemand, der als 8jähriger zu hören bekam: „Du bist ein Pollak!“ Meine Eltern haben sich gezwungen gesehen, mir das polnische Gespräch abzugewöhnen. Ich habe es mir später wieder angewöhnt und habe jetzt auch mit Aussiedlern gearbeitet, die aus Rußland oder Polen kamen. Ich sehe das Problem, ich habe da keine Berührungsängste, aber es ist ungeheuer schwierig für mich festzustellen, daß mach ein Politiker so tönende Worte von sich gibt wie „Er habe die Gnade der späten Geburt.“ Ich möchte keine Namen nennen, das dürfte wohl alles hinlänglich bekannt sein. Das ist ja auch nicht gerade ein Vorbild für junge Menschen, die sagen: „Wir brauchen ja keine Verantwortung zu übernehmen, das haben ja die Alten, die Älteren gemacht.“
Herr Bubis:
Ich muß dazu sagen, daß ich mit dem Begriff der „Gnade der späten Geburt“ einerseits ein gewisses Verständnis habe, denn ich weiß, wie es gemeint war. Ich habe darüber mit der betreffenden Person auch schon gesprochen. Gemeint hat er, er wisse nicht, wie er gehandelt hätte, wenn er in dieser Zeit gelebt hätte. Allerdings kommt es für mich darauf an, wer das sagt. Wenn das ein Durchschnittsbürger sagt, ist das etwas anderes, als wenn es jemand sagt, der als Kanzler Verantwortung trägt. Denn jemand, der Verantwortung trägt, muß sich eigentlich sicher sein, daß er in schwierigen Zeiten auch diese Verantwortung mit übernehmen würde. Insofern habe ich in diesem Fall Verständnis. Aber in diesem Zusammenhang mit der Verantwortung kommt mir auch wieder das Stichwort Werteverlust in den Sinn. Wir brauchen uns heute nur auf die alten Werte, auf die Werte aus Ethik und Moral, die aus dem Glauben kommen, zu besinnen und das Leben wäre viel einfacher gewesen.
Ich komme zu etwas anderem, was ich sehr wohl unter Werteverlust verstehe. Daß wir es gewöhnt waren, daß Politiker sich eigentlich beispielhaft geben sollten. Wenn man früher die Skala der angesehenen Berufe sich angeschaut hat, da rangierten nach wie vor die Professoren ganz oben und die Politiker lagen irgendwo in der Mitte. Ich will jetzt keine einzelnen Abstufungen vornehmen, aber mittlerweile rangieren die Politiker ganz unten. Da müssen sich die Politiker fragen, woher das kommt. Wenn sie das tun werden, vielleicht verändert sich dann was. Als wir vor einiger Zeit, vor wenigen Jahren von dieser Politikverdrossenheit sprachen, also Politik wird ja von Politikern gemacht, insofern ist das Politikerverdrossenheit. Nur die Politiker leben nicht immer nach den Grundsätzen, die sie eigentlich selbst vorgeben. Da beginnt die Verdrossenheit, weil der Bürger doch feststellt, daß das, was ihm vorgeschrieben wurde, als Beispiel doch nicht ganz so gut ist. Das ist natürlich ein großer Mangel. Wenn sie dann die politischen Erklärungen von heute lesen und mit denen von vor 3 Jahren vergleichen, merken sie, daß sich kein Wort geändert hat. Wenn etwas passiert ist, ist die Betroffenheit immer gleich mit im ersten Satz der Politiker drin. Man beschäftigt sich mehr damit, was gedacht wird und was das Ausland dazu sagen wird. Die Politiker beschäftigen sich weniger damit, was sie selbst dazu sagen sollten. Man denkt immer nur: „Was wird das Ausland dazu sagen?“ Gesagt wird: „Wir müssen energisch etwas dagegen tun!“ und „Wir müssen auch in der Erziehung für Jugendlichen mehr tun!“. Das ist alles deckungsgleich und ich sage jetzt nicht, dieser Politiker sagt das schlechter und jener sagt es besser, sondern auch das ist deckungsgleich, über die Parteigrenzen hinaus. Das ist nichts, was uns weiterhilft. Deshalb meine ich, wir sollten selbst in der Gesellschaft aktiv werden – jeder für sich muß in der Lage sein und bereit sein, etwas zu tun und sich dabei nicht auf die Politiker verlassen.
Frage aus dem Publikum:
Herr Bubis, Sie haben vorhin auf die Werte hingewiesen, die schon seit Hunderten von Jahren gültig sind. Sie haben aber nicht gesagt, welche Werte Sie meinen. Wäre es möglich, daß Sie dazu noch kurz einige Gedanken äußern, vor allem auch damit sozusagen der Funke des Optimismus überspringen kann, daß wir irgendwann doch noch mit der Fremdenfeindlichkeit fertig werden.
Herr Bubis:
Fangen wir mal mit dem ersten Begriff „Nächstenliebe“ an. Weil, wer ist mir denn der Nächste? Weil, heute denken wir doch, der Nächste bin ich mir selbst. Das war sicher nicht das, was wir im Religionsunterricht gelernt haben. Wir brauchen nur die Bibel aufzuschlagen: Wie gehe ich mit den Fremden um. Da steht alles drin. Wer schaut da schon rein, um zu sehen, wie man mit Fremden umgehen soll? Ich habe jetzt nur die zwei prägnantesten Beispiele. Man kann auch einen weltlichen Begriff nehmen: Sieh hin und du weißt es. Um zu dem negativen Beispiel zu kommen, wie in der Nähe von Potsdam geschehen ist. Dort wurde ein junger Schwarzafrikaner zusammengeschlagen, der stundenlang liegenblieb und fast verblutete. 18 Menschen waren dabei und alle haben weggeschaut und sind nach Hause gegangen. Zeugen waren keine da. Nach und nach hat die Polizei diese 18 Leute festgestellt und siehe da, keiner will irgendetwas gesehen haben, obwohl sie alle in der Straßenbahn dabei waren. Es hat sich keiner bereiterklärt auszusagen. Wenn er sich nicht einmischen wollte, weil er Angst gehabt hat, auch zusammengeschlagen zu werden, hätte er doch in die nächste Telefonzelle gehen können, um die Polizei zu alarmieren. Das kann keine Frage von 30 Pf. sein. Aber auch das ist nicht geschehen. Ich brauche Ihnen mit Sicherheit nicht alles das aufzuzählen, aber darum geht es. Was brauche ich für einen höheren, größeren Wert? Für damals, für heute und für später. Das deckt doch eigentlich alles ab. Das ist im Christentum und im Judentum so. Im Judentum heißt es: „Wie kannst du die ganze Thora auf einem Fuße stehend aufsagen?“ weiter heißt es: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Das ist schon der größte Inhalt.
Nur heute, um zum Weltlichen zu kommen, reden wir alle davon, den Gürtel enger schnallen zu müssen. Wer ist denn heute bereit zu teilen? Ich wurde einmal gebeten, zu den Problemen der Gewerkschaften in der Zukunft etwas zu sagen. Wenn man die Gewerkschaften genau betrachtet, merkt man, daß sie sich um die kümmern, die einen Arbeitsplatz haben. Um die, die keinen Arbeitsplatz haben, kümmert man sich so gut wie garnicht. 46 Jahre in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands, davon ca. 38 Jahre ohne Arbeitslosigkeit, da war es richtig, daß man sich um die Verbesserung der Verhältnisse am Arbeitsplatz eingesetzt hatte. Ich glaube mittlerweile hat da auch ein Umdenkungsprozeß begonnen. Umdenkungsprozesse dauern machmal etwas lange, ich hoffe,es wird sich positiv auswirken. Aber ich kann die Gewerkschaft schon verstehen, wenn sie sagt, daß sie sich erstmal um die Beitragszahler kümmern muß. Dies nur als eins von Beispielen.
Frage aus dem Publikum:
Herr Bubis, liegt diese Angst vor Fremden vielleicht auch darin, daß in der heutigen Gesellschaft der Mensch selbst z. B. in seiner Arbeit oder vor dem Produkt, das er dann hergestellt sich selbst entfremdet?. Das heißt ein Arbeiter, der irgendwo an einer Maschine steht und etwas herstellt, sich gar nicht mit dem Produkt identifizieren kann. Der Mensch ist Zweck der Wirtschaft, die Wirtschaft aber nicht der Zweck der Menschen. Ist es nicht so, daß ich mich vor mich selbst entfremde, mich nicht mehr mit mir selbst identifizieren kann und deshalb Angst vor den Fremden habe, oder liegt es mehr daran, daß man – speziell in Deutschland – mehr an materiellen Dingen interessiert ist. Zum Beispiel: „Wie teuer war mein Auto, wie groß ist mein Haus.“ Daß die Werte Buddhas, Jesu usw. vertreten wurden, daß man sich durch das Sein verwirklicht, nicht mehr so vertreten wird. Könnte die Fremdenfeindlichkeit vielleicht damit zu tun haben?
Herr Bubis:
Ganz sicher ist es so, daß für viele Menschen ein Hauptwert im Urlaub besteht, darin, wie der Urlaub sich gestaltet, wieviel Tage Urlaub ich habe. Vor etwa 10 Jahren gab es etwa 21 Urlaubstage. Mittlerweile gibt es 28. Aber als es darum ging, einen Urlaubstag für die Pflegeversicherung zu opfern, bricht gleich die Revolution aus.
Natürlich hat sich die Arbeitswelt verändert, daß die Arbeiter früher ein Produkt von Anfang bis Ende hergestellt haben. Heute, bei der Automatisierung kann keiner den Bezug zu einem Produkt bekommen. Das Teil, was er in der Automation herstellt, da braucht man sich nicht einmal Gedanken machen, ob das Teil für ein Auto, für ein Fahrrad oder irgendein anderes Aggregat zu gebrauchen ist. Denn erst in der Montage entsteht das Produkt. Das ist leider eine Veränderung der Arbeitswelt. Eine Veränderung der Arbeitwelt, eine Mechanisierung der Arbeitswelt, die aber nicht zu unterschätzen ist. Denn am Ende hat sie den Wohlstand gebracht. Denn ohne die Automatisierung wäre alles viel komplizierter und schwieriger. Diese Auseinandersetzung mit der Automatisierung der Gesellschaft, wir brauchen uns nur an den Film mit Charlie Chaplin erinnern. Dieser Film ist etwa 60 Jahre alt. Heute haben wir das, was in diesem Film von Charlie Chaplin gezeigt wurde. Das ist etwas, was die Welt verändert hat. Wir wollen aber nicht zurück, wie es in machen Ländern heute noch ist, z. B. mit Kinderarbeit. Deshalb will ich das nicht unbedingt verteufeln und sagen: „Das hat alles kaputt gemacht“. Natürlich entfällt dadurch die Bindung zum Produkt. Heute wird das alles anders bemessen. Wenn ich an der Herstellung eines Autos arbeite, rechne ich doch nach, wie lange ich arbeiten muß, um das von mir hergestellte Auto zu erwerben. Ich will ihnen ein schlimmes Bespiel erzählen. Das charaktarisiert vielleicht das Denken der Gesellschaft. Die Geschichte liegt ewa 2 ½ Jahre zurück. Ich kannte damals eine Journalistin und deren Mann. Sie haben damals eine Sendung für Amerika gemacht, für NBC Liveline. Wir saßen im Studio und die Fernsehleitung stand nicht. Die Frau ist freie Journalistin, sie arbeitet kreuz und quer durch Deutschland, sehr oft in Frankfurt. Der Mann ist Festangestellter beim WDR. Zumindest erzähle ich es so, wie es vor 2 ½ Jahren war. Festangestellter beim WDR heißt, er kann sich eigentlich sicher sein, nie mehr von seinem Arbeitsplatz in Bonn entlassen zu werden. Sie haben natürlich eine Wohnung in Bonn, keine Kinder. Dadurch, daß sie sehr oft in Frankfurt zu tun haben, haben sie eine zweite Wohnung in Frankfurt. Wir haben uns unterhalten, es war Spätsommer. Ich fragte sie: „Wo waren sie denn in Urlaub?“ „Ach das ist ja so furchtbar.“, sagte sie. „Wir haben einen Fehler gemacht und uns eine Wohnung in Tirol gekauft und jetzt müssen wir, weil wir doch die Wohnung haben, jedes Jahr nach Tirol fahren.“ Natürlich hat jeder ein Auto, sie müssen ja beweglich sein. So ein Ehepaar, kinderlos, drei Wohnungen, zwei Autos. Und dann sprachen wir über die Fremdenfeindlichkeit, und ich habe nach Amerika über die Ereignisse Ende 1992 berichtet und dann sagte die Journalistin zu Abschluß: „Nun mal ganz unter uns, Herr Bubis, über die fremdenfeindlichen Geschehnisse brauchen wir uns doch nicht zu wundern! Die Ausländer nehmen uns die Wohnungen weg, sie nehmen uns die Arbeitsplätze weg.“ Sehen Sie, das ist doch ein ganz besonderes, leider zutreffendes Beispiel. Das ist das Denken vieler moderner Menschen in Deutschland. Dankeschön!
Frage aus dem Publikum:
Herr Bubis, die Analyse von antisemitischen Stereotypen im letzten Jahrzehnt hat aufgezeigt, daß es in etwa zwei Hände voll Stereotypen gibt, die antisemitisch Auswirkungen gehabt haben, die allerdings auch schon seit dem Schisma des Christentum vom Judentum eine Rolle spielen. Es sind Stereotypen, die sich teilweise auch widersprechen, wie der häßliche Jude oder der gute Jude, was im Zionsemitismus genauso schlimm ist im Grunde wie der Antisemitismus. Aber auch der ehrgeizige Jude sind Stereotypen, die sehr allgemein sind, die scheinbar in der Gesellschaft aber auch dem Staat der Bundesrepublik eingeschrieben scheinen. Wie könnten aus Ihrer Sicht Pädagogen, Erzieher, der Staat aber auch die Gesellschaft, wie können alle diese Parteiungen darauf reagieren?
Herr Bubis:
Das ist kein einfaches Unterfangen. Antisemitismus gibt ja nicht erst seit heute, sondern ist 2000 Jahre alt und die Grundlage des Antisemitismus war sicherlich der christliche Antijudaismus. Im Laufe der Jahrhunderte hat er sich gewandelt, er begann weltlich zu werden, ohne daß der Antijudaismus aufgehört hat. Der Vorläufer des Antisemitismus war der Antijudaismus. Für die einen waren die Juden Schuld an der Ausbeutung im Kapitalismus. Für die anderen waren die Juden Schuld am Kommunismus. Für die Dritten waren Juden Schuld an der Pest. Ich habe einmal erzählt, daß es mich wundert, daß noch keiner auf die Idee gekommen ist, daß Juden die Schuld an Aids tragen. Die Pest kann man heute nicht sagen, denn die Pest ist verschwunden. Aber sie werden es nicht glauben, es hat 4 Wochen gedauert und ich hatte 2 Briefe: „Die Juden haben aus Rache Aids aus Amerika nach Deutschland gebracht.“ Wie können sie dem begegnen. Damals hat mir aus Westfalen, ich kann mich an den Ort nicht erinnern, also nicht aus dem Emsland, aber nicht weit weg. Aus Westfalen, hat mir ein älterer Herr, 73 Jahre alt, geschrieben. Er ging immer zu seinem Stammtisch, bei dem 8 – 10 Leute seines Alters anwesend waren. Plötzlich sei das Gespräch auf Juden gekommen. Und da habe einer gefragt: „Kennt einer von euch einen anständigen Juden?“ Da haben sie nachgedacht und haben gesagt:“ Nein, kennen wir nicht.“ Daraufhin hätte er gefragt: „Kennt einer von euch überhaupt einen Juden?“ „Nein, kennen wir nicht!“. Sie wußten alle, anständige Juden kennen wir nicht. Den gibt’s nicht. Weil der Nachbar, der dabeisitzt ja auch keinen kennt. Für den heißt es: „Achso, anständige Juden die gibt’s gar nicht. Die scheinen wohl viele Juden zu kennen, aber ein anständiger ist nicht darunter.“ Ich verspreche mir nicht zuviel Wirkung, aber einiges doch. Es gibt zwei Plattformen, die heute dazu beitragen, den Antisemitismus doch etwas abzubauen. Nicht bei dem notorischen Antisemiten, dem können sie erzählen was sie wollen. Ein Witz als Beispiel:
Geht ein Antisemit in ein Konzert und sieht wie jemand Klavier spielt und fragt: „Wer ist das?“, „Das ist Herr Rubenstein.“, antwortet der andere.. „Ist das ein Jude?“ „Ja.“ „Sag’ einmal, die Klaviertasten, aus was sind die?“ „Aus Elfenbein“. „Da kannst du mal sehen wie diese Juden die Elefanten malträtieren“.
Das sind jetzt alles Witze. Aber bei demjenigen, der schon so überzeugt ist, malträtiert der Jude die Elefanten. Sie können gar nicht so durchdenken, auf was die Menschen kommen. Ich glaube, es hat sich in der katholischen Kirche seit Johannes XXIII. und dem 2. Vatikanischen Konzil, das eine sehr wichtige Rolle gespielt hat, sehr viel in dieser Hinsicht getan. Ohne das 2. Vatikanische Konzil hätte es vermutlich bis heute keinen Vertrag gegeben oder wie immer das bezeichnet, zwischen dem Heiligen Stuhl und Israel. Da ist schon sehr viel in der Präambel von der gemeinsamen Bekämpfung des Antisemitismus. Ich glaube schon, daß auf diesem Gebiet eine große Änderung eingetreten ist. Die offene Diskussion über den Antisemitismus hat positive Wirkung. Solange die Antisemiten sich nicht geäußert haben, ich spreche jetzt nicht vom Rassismus, vom mörderischen Antisemitismus der Nationalsozialisten. Ich spreche von dem alltäglichen antisemitischen Denken in Klischees, in Vorverurteilungen, in Verallgemeinerungen. Früher gab es diese Menschen. Aber angesichts der geschichtlichen Vergangenheit haben sie sich nicht als solche zu erkennen gegeben. Heute sprechen sie es offener aus. Das halte ich für einen ganz wichtigen Fortschritt, weil daraus eine Diskussion entstehen kann. Wenn jemand nur mit sich im Herzen herumträgt, wie wollen sie dagegen etwas unternehmen. Das kann sich nur verfestigen und im stillen Kämmerlein gibt er es an seine Kinder, an seine Nachbarn, an seinen Arbeitsplatzkollegen weiter. Wenn er es aber offen ausspricht, und es gibt diese Möglichkeit der Diskussion, kann es hilfreich sein. Ich glaube, daß die Diskussionen, die in den letzten Jahren geführt wurden, hilfreich waren. Für mich war schon sehr beeindruckend als nach dem zweiten Brandanschlag auf die Lübecker Synagoge 4.000 Schüler am nächsten Tag auf die Straße gingen. Das ist schon etwas, woran zu erkennen ist, daß es nicht nur Erklärungen von Politikern über deren Betroffenheit gibt, sondern daß junge Menschen diese Unmenschlichkeit sehen und darauf reagieren. Das halte ich für sehr wichtig. Deshalb glaube ich, daß aus der Diskussion Positives herauskommen kann.
Frage aus dem Publikum:
Herr Bubis, ich habe ein kleines Problem. Ich habe einen Onkel, mit dem bin ich immer gut zurechtgekommen, mit dem habe ich früher gespielt. Er ist von der älteren Generation, war im 2. Weltkrieg. Als ich 16, 17 Jahre alt war, hat er auch vom Krieg berichtet. Das ist ja eigentlich auch nichts Schlimmes, bis dann die Sprache auf das Judentum kam. Er sieht das Judentum immer noch aus starker antisemitischer Sicht. Ich hatte eine sehr gute Beziehung zu ihm, was meinen Sie, wie die Beziehung jetzt weitergehen kann?
Herr Bubis:
Meines Erachtens können Sie die familiäre Beziehung nicht nur unter dem Gesichtspunkt des Antisemitismus dieses Onkels sehen, Sie haben aber sicherlich eine Möglichkeit Ihren Onkel mal zu fragen. Ich würde nicht sagen, daß Sie Ihre Beziehung abbrechen sollten, weil Ihr Onkel so denkt. Aber vielleicht haben Sie mal Gelegenheit zu fragen, was die Juden ihm denn nun konkret getan haben. Möglicherweise wird er Ihnen was antworten, was vor 2 Tagen in einer Diskussion in Wetzlar passiert ist. Es war, wie sich später rausstellte, der Kreisvorsitzende der NPD. Er sagte: „Wieso wundert es Sie eigentlich, daß alles, was passiert ist, passiert ist. Mit dem 30. Januar 1933 hat das alles doch gar nichts zu tun. Schließlich haben doch die Juden bereits am 24. März 1933 Deutschland den Krieg erklärt!“ Diese Antwort wird er Ihnen möglicherweise geben. Ich habe den Mann gefragt, was denn die Juden am 24. März 1933 getan haben als sie Deutschland den Krieg erklärt haben. Haben sie Bomben nach Deutschland geschickt? Haben sie die Deutschen in KZ’s gesteckt? Haben sie versucht sie zu vergasen, was haben sie denn unternommen? „Ja“, sagt er: „Boykott deutscher Waren!“. Also wir wissen heute, was Boykotte bedeuten, und sicher hat es damals einen nach dem 30. Januar 1933, nach den ersten Ausschreitungen gegeben. Ist das aber der Grund zu sagen: „Deshalb wollen wir das ganze jüdische Volk vernichten!“? Ich meine, daß wenn Sie die Gelegenheit haben, sollten sieIhren Onkel fragen, ob er überhaupt einen Juden kennt. Meistens werden die feststellen, daß er das alles nachgelesen hat, in Bücher wie „Mein Kampf“ oder am Stammtisch mitbekommen hat.
Frage aus dem Publikum:
Herr Bubis, Sie haben einmal davon gesprochen, daß sich viele Menschen von Kirche oder auch dem Judentum, Islam, von den Religionen abwenden und dabei zu dem Fundamentalismus übergehen.
Zwischenantwort Herr Bubis:
Nur Teile. Viele ist vielleicht übertrieben. Es gibt beides. Die Abwendung ist viel größer, aber nicht gleichzeitig fundamentalistisch.
Weiterführung der Frage:
Aber zur Zeit ist es doch so, daß besonders beim Islam eine fundametalischtische Linie zu sehen ist. Können Sie sich erklären, warum so viele zum Fundamentalismus wechseln?
Herr Bubis:
Wir erleben es, daß es diesen Fundamentalismus zur Zeit in Algerien gibt. Wobei sich in Algerien auch die Frage stellt, wie der Staat mit seinen Bürgern umgeht. Da kann man nicht übersehen, daß der algerische Staat alles andere als ein freier Staat ist, daß hier die Möglichkeit der persönlichen Entfaltung sehr eingeschränkt ist. Nicht zuletzt aus einer Angst vor dem Fundamentalismus. Doch diese Einschränkung schafft den Fundamentalismus erst. Aber gleichzeitig sieht man, wie diese Fundamentalisten in Algerien auch mit Menschenleben umgehen. Mit Menschenleben, die eigentlich nicht einmal was mit dem Staat zu tun haben, mit französischen und überhaupt mit ausländischen Journalisten. Ausländische Journalisten sind sich heute in Algerien nicht ihres Lebens sicher. Die Algerier erklären auch offen, daß sie die Ausländer aus dem Land vertreiben wollen und den heiligen Staat des Islam dort errichten wollen. Das zweite Beispiel ist der Fundamentalismus, der vom Iran ausgeht, der ebenfalls nicht zu übersehen ist. Welche Auswirkungen das haben kann, nenne ich als Beispiel mal Salman Rushdie. Das was Salman Rushdie beschrieben hat kann keinen Beifall verdienen. Denn wenn jemand über das Christentum oder das Judentum so geschrieben hätte, wäre das schon ein Grund sich aufzuregen. Aber gleichzeitig Rächer loszuschicken, um ihn umzubringen, das ist ein Unterschied. Wenn man mich gefragt hätte, ich hätte gesagt, dieses Buch, was er da geschrieben hat, ist im Sinne des Islam Gotteslästerung. Gotteslästerung sollte man bei keiner fremden Religion ausüben. Und da habe ich vollstes Verständnis für die Aufregung. Ich habe nur kein Verständnis, daß man ihn durch die Welt jagt, um ihn umzubringen. Dieser Fundamentalismus ist da und hat auch auf Israel übergegriffen. Zum Beispiel dieser Goldstein, der sich auch noch als Rabbi bezeichnet und in die Moschee in Hebron eingedrungen ist, um dort 40 Menschen bestialisch zu ermorden. Das kommt auch von einem Fundamentalismus, der ebenso verbrecherisch ist. Da kommt es mir nicht darauf an, um welche Richtung es sich dabei handelt. Der Islam hat mit der Zunahme des Fundamentalismus im Iran ein Stück mit nach Israel übergeschwappt.
Frage aus dem Publikum:
Nach den Gedenkfeiern von Bergen-Belsen stand am nächsten Tag in der NOZ mit großer Überschrift „Juden und Deutsche beten gemeinsam …“. Wieso steht da nicht „Europäische Juden und Deutsche“ oder „Deutsche Juden und Deutsche beten gemeinsam.“
Herr Bubis:
Es sind die Begriffe, der „Deutsche“ und der „Jude“, die seit einigen Jahrzehnten nicht mehr zusammenpassen. Diese Unterscheidung hat sich leider auch in Deutschland eingebürgert. Das ist etwas, was man bis nach dem 1. Weltkrieg in Deutschland nicht kannte. Natürlich stimmt die Überschrift, wenn es um Deutsche und um Juden aus Amerika, aus Rußland oder sonstwo gehen würde. Aber hier war auch von deutschen Juden die Rede. In der Regel , wenn von Deutschen und von Juden gesprochen wird, meint man auch die Juden, die in Deutschland leben. Das ist etwas, was sich doch hauptsächlich in der Nazizeit entwickelt hat. Der Jude ist kein Deutscher, Doch das hat noch nie gestimmt. Das hat es in den früheren Jahrhunderten schon mal gegeben, aber so ab Mitte des vergangenen Jahrhunderts war das schon verschwunden gewesen und kommt jetzt wieder.
Und zum Zusammen-Beten: Ich war beim Ökumenischen Gottesdienst am 8. Mai in Berlin und bei Folgeveranstaltungen. Wir haben in Bergen-Belsen ebenso Gebete der ev. und kath. Kirche und des Rabbiners gehört, obwohl es eine Gedenkfeier des Zentralrates war, wo jeder verstanden hätte, daß bei einer Gedenkfeier des Zentralrates nur ein Rabbiner dabei gewesen wäre. Es ist für uns aber selbstverständlich, daß wir die beiden Kirchen gebeten haben, zu kommen. Aber leider sind sowohl Bischof Lehmann als auch Bischof Engelhardt auf der Autobahn in einen 10 km Kilometer langen Stau steckengeblieben und konnten nicht kommen. Aber sie waren beide unterwegs dorthin, falls sich jemand gewundert hat. Wir haben uns alle drei noch am Vorabend beim Bundespräsidenten gesehen. Nur mit dem Unterschied, daß ich noch nachts nach Hannover gefahren bin, da war ich dann auch rechtzeitig in Bergen. Die beiden haben in Berlin übernachtet und sich darauf verlassen, friedlich über die Autobahn zu kommen, aber wie so oft war der Schalk des Staus stärker als die Bischöfe.
Frage aus dem Publikum:
Herr Bubis, ich möchte noch einmal die „Ausschwitzlüge“ ansprechen, die „sogenannte Ausschwitzlüge“, ich war vor kurzem im Konzentrationslager Bergen-Belsen zu Besuch. Wenn man dort die großen Gräber sieht, 5.000 Tote, 10.000 Tote usw. Wenn man sich mit dieser Materie ein bißchen beschäftigt und ließt und hört, daß mehrere Millionen Menschen im Konzentrationslager umgekommen seien, dann kann man das fast nicht glauben. Sie waren im Konzentrationslager, und ich muß sagen, es überkommen einen manchmal Selbstzweifel ob es möglich ist, so viele Millionen Juden in so kurzer Zeit umzubringen. Sie waren Augenzeuge. Ist es möglich so etwas zu machen, ist es überhaupt vorstellbar?
Herr Bubis:
Vor wenigen Wochen hat meine Schwägerin, die in Paris lebt, die auch im Lager war, etwas gesagt. Sie ist zusammen mit mir am 16. Januar 1945 befreit worden. Damals wußten wir nicht, daß sie meine Schwägerin wird, wir waren beide noch viel jünger. Da hat sie gesagt, daß sie versteht, daß viele Menschen das gar nicht begreifen können, daß so etwas Schreckliches überhaupt möglich war. In Bergen-Belsen gab es zum Beispiel keine Vergasungen, keine normalen Tötungen, keine Genickschüsse wie zum Beispiel im Osten und in Rußland nach dem Einmarsch. Hier sollten sie sich mal das Material anschauen, was seinerzeit von der Täterseite gedreht wurde. Nicht das von der Opferseite. Diese Massenerschießungen, bei denen man zum Beispiel in Babilar? 36.000 Menschen in mehrere Gruben hat hinuntergehen lassen, um sie dann mit Maschinengewehren zu erschießen. Babilar? war kein Einzelfall. Nicht überall waren es gleich 36.000 Menschen.
Meine Frau war mit mir zusammen im Lager Bergen-Belsen. Wir haben uns eine gewisse Zeit nie unterhalten. Meine Frau war nur etwa 4 Wochen in Bergen-Belsen. Von Ende Januar bis Anfang März. Anfang März wurde sie dann weitertransportiert in Richtung Dachau über Allach. Sie ist dann in Dachau befreit worden. Meine Frau war in den ganzen 50 Jahren nach dem Krieg nie in Dachau gewesen, bis zum ersten Mal in diesem Jahr, am 30. April zur Gedenkfeier des 50. Jahrestages der Befreiung. Da ist sie zum ersten Mal nach Dachau gegangen. In Bergen-Belsen war sie nach dem Kriege aber nie. Auch nicht bei dieser großen Gedenkveranstaltung des Zentralrates. Zum ersten Mal und bis heute zum einzigen Mal, nämlich als wir nach Dachau fuhren, hat sie zu mir gesagt: „Ach weißt du, für uns in Dachau war es nicht so schlimm wie Bergen-Belsen. Bergen-Belsen war die Hölle.“ Da sehen Sie, wie sich selbst bei den Opfern vieles relativiert. Das war das einzige Mal, daß meine Frau mit mir darüber gesprochen hat.
Ich will ihnen ein Beispiel über Bergen-Belsen geben. Als die Engländer nach Bergen-Belsen kamen, gab es, was sie wenigsten wissen, einen gewissen Waffenstillstand. Bergen ist am 15. April befreit worden. Aber schon am 12. April hat sich eine britische Sanitätseinheit dorthin verirrt und stand plötzlich vor dem Lager Bergen-Belsen. Die Bewacher haben sie reingelassen und haben so etwas wie einen Waffenstillstand vereinbart. Die Deutschen haben von der Sanitätseinheit erwartet, daß sie die im Lager ausgebrochenen Krankheiten wie zum Beispiel Typhus behandeln. Am 14. April, also zwei Tage später haben manche Häftlinge versucht, aus den Lebensmittelkammern etwas zu stehlen. Da haben die gleichen deutschen Bewacher – die Engländer waren schon im Lager – ich glaube 5 Häftlinge erschossen. Erst da sind die Bewacher von den Engländern entwaffnet worden. Das war nur einen halben Tag bevor die Engländer Bergen-Belsen besetzt haben. Als die Engländer dann nach Bergen-Belsen reinkamen, fanden sie 35.000 Leichen – auch von Menschen, die noch in den letzten 2-3 Wochen im Lager gestorben waren und es gab keinen, der auch nur versucht hätte, sie zu bestatten. Sie wurden mit Baggern in Gräben gekarrt, die Baracken wurden niedergebrannt, um Seuchen zu vermeiden. Mehrere der britischen Sanitäter sind kurze Zeit später an Infektionen gestorben.
Es gab die verschiedensten Arten der Tötung. Ich werde ihnen jetzt ein paar Zahlen nennen, die sich nur auf das deutsche Reich beziehen. Gemeint sind nicht Ausschwitz und Treblinka. Treblinka, ein Ort, wo auch mein Vater umgebracht wurde. Treblinka war „nur“ 11 Monate in Betrieb. Von Ende 42 bis August 43. Wer nach Treblinka kam, hat nicht länger als 10 Minuten gelebt. Er stieg aus dem Waggon, ging in so etwas wie einen Wartesaal runter – hinter dem Wartesaal waren die Gaskammern. In Treblinka sind in 11 Monaten 800.000 Juden umgebracht worden. Davon etwa 600.000, die aus dem Warschauer Getto gekommen waren. Im Warschauer Getto lagen die Leichen auf der Straße. In Mittelbaudora??? wurden die Häftlinge zu Zwangsarbeit bei der Herstellung der V2-Raketen eingesetzt. Sie sollten mal nach Mittelbaudora? fahren und sich dort die Stollen anschauen, wo 10.000de von Häftlingen nicht nur den Stollen, ja sogar die ganze Anlage mit Händen, ohne Maschinen erbaut haben. In dieser ganzen Anlage gab es keine Toilette. Nur um einige Beispiele zu nennen. Ich will ich ihnen die Zahlen der deutschen Lager – ohne diese Lager, die ich erwähnt habe wie Treblinka, Sobibor, Ausschwitz, geben. In Deutschland gab es 22 Hauptkonzentrationlager. Das sind solche wie Bergen-Belsen, Dachau und Buchenwald mit 1.022 Außenstellen. Die Außenstellen, da war zum Beispiel eine in Mittelbaudora?. Am Anfang wurden die Menschen noch für jeden Tag zum Stollen gefahren. Sie wurden immer hin und her transportiert. Zum Schluß haben sie auch in den Arbeitsstollen übernachtet. Dort, wo sie übernachtet haben, haben sie auch ihre Notdurft verrichtet, alles dort vor Ort. Sie können das auch auf den Bildern sehen, die der Herr Werner von Braun machte, als er den Stollen besuchte, aber, der will auch von nichts gewußt haben. Für ihn waren das nur Arbeiter. Aber Werner von Braun war der zuständige Fachleiter von Mittelbaudora. Die Amerikaner, die dort kamen, haben das alles übersehen. Aber die Dokumente, die in Mittelbaudora vorhanden sind, sind Dokumente nicht von heute, sondern von damals.
Aber jetzt kommt etwas anderes dazu: Das mit den 22 Hauptkonzentrationslagern mit über 1.000 Außenstellen sind das eine. In der 2. Hälfte 1944 gab es im Gebiet des ??? Reiches 38.000 Konzentrationslager, in denen 5,8 Millionen Zwangsarbeiter waren. Diese hatten mit Juden nichts zu tun, sie kamen aus Rußland und Polen. Es gab keinen größeren Betrieb im Reich, in dem nicht Zwangsarbeiter aus irgendeinem Konzentrationslager zwangsverpflichtet wurden – oft wurden gerade deshalb, weil ein Betrieb Arbeiter brauchte, ein Außenlager gegründet. Es gab diese 5,8 Millionen in der 2. Hälfte 1944. Allein in Berlin, um die größeren Betriebe herum, gab es 700 Konzentrationslager mit 350.000 Zwangsarbeitern. Wenn sie die Quelle wissen wollen: die Gesellschaft zur Erforschung des Nationalsozialismus hat dieses in den letzten Jahren aufgearbeitet.
Ich will ihnen zum Schluß noch etwas sagen, und vielleicht ist das auch noch bezeichnend, um den Umgang und was sich da alles abgespielt hat, darzulegen. Kein Mensch hier im Saal wird den Namen des Lager je gehört haben: Breitenau. Ich bin mir sicher, daß ihnen dieser Name überhaupt nichts sagt. Bis vor 2 Jahren wußte ich auch nicht, was ist Breitenau, wo war Breitenau. Breitenau liegt neben Guxhagen, das liegt ungefähr 15 km von Kassel entfernt. Dort war einmal ein altes Kloster, einige 100 Jahre alt. Dieses Kloster 1929 eingerichtet als ein Heim für schwererziehbare Mädchen. Mitte der 30er Jahre wurde es zu einem Zwischenkonzentrationslager. Nach 1945 wurde es zu einem Jugendgefängnis. Von 1924 bis 1954 gibt es Bücher mit Eintragungen eines jeden Insassen bzw. Häftlings, der dort hingekommen ist. Schwererziehbare Mädchen, Zwischenkonzentrationslager, Jugendgefängnis. Und: Alle Eintragungen mit der gleichen Handschrift. Der gleiche Mann, der schon 1929 der Leiter des Erziehungsheims war, er war der Leiter des Zwischenkonzentrationlagers, und er war der Leiter des Jugendgefängnisses. Dort sind in der Nazizeit etwa 10.000 Häftlinge durchgegangen. Es blieb dort keiner länger als 3 Monate. Für jeden dieser Häftlinge waren im Durchschnitt 31 Personen beschäftigt. Von der Verwaltung in Breitenau über die Ämter in Guxhagen und Kassel bis hin zu den Regierungsstellen in Darmstadt bis nach Berlin. Verwaltungsmäßig gab es in den Schriften nicht einen Häftling, über den nicht jedes Detail festgehalten war – und keinem fällt es auf. Das hat übrigens eine Schule vor 5 Jahren entdeckt und aufgearbeitet.
In diesen Chroniken ist auch die Geschichte einer Familie, einer Frau festgehalten, die auch in diesem Zwischenkonzentrationlager war. Ihren Sohn kennt in der BRD fast jeder. Sie war Ärztin, Jüdin und mit einem sogenannten Arier verheiratet. Sie hatten sich in der Zeit des Nationalsozialismus irgendwann scheiden lassen. Sie hatte 5 Kinder, 4 Töchter und einen Sohn. Ich erzähle ihnen das mit Namen, weil es in den Büchern festgehalten ist. Ich kenne diesen Namen sehr gut, der bekannte Sohn hat in der Öffentlichkeit nie mit einem Wort darüber gesprochen. Ich habe ihn kürzlich bei der Trauerfeier des verstorbenen Ministerpräsidenten Schiller getroffen, dann habe ich ihn darauf angesprochen. Da hat er mich angeguckt und gesagt: „Ja, so, wie es die Schüler ausgearneitet haben, so,war das!“. Damals ist dort eine Frau eingeliefert worden, die wie,gesagt Ärztin war, geschieden von Ihrem Mann. Ihre Straftat bestand darin, daß sie ein Rezept ausgestellt hat und hat den Vornamen Sarah nicht dazugeschrieben hat. Dafür kam sie erst einmal in Köln in das Gefängnis, später kam sie dann nach Breitenau. In Breitenau durfte sie jeden Monat einen Brief schreiben, die Briefe sind alle vorhanden. Sie hat sie alle an ihre älteste Tochter geschrieben. Die Familie hat diese Unterlagen dann zur Verfügung gestellt, weil man bei der Aufarbeitung festgestellt hat, daß sie dort war. Später ist die Frau dann von diesem Lager deportiert worden. In ihrem letzten Brief – sie hat sich nie in einem der Briefe beklagt – schrieb sie ein einziges Mal über ihre Erlebnisse. Sie schreibt auf dem Weg nach Auschwitz, daß sie in Dresden Halt gemacht hätten, und sie die Gelegenhet nutze, eine Postkarte zu schreiben. Sie schreibt, sie habe gehört, daß dieser Transport nach Ausschwitz gehe und über Ausschwitz würde man sich schreckliche Dinge erzählen. Sie fragt ihre Tochter, ob diese nicht mit dem Vater sprechen könne und etwas unternehmen könnte. Die Frau ist nach Ausschwitz gekommen und nicht zurückgekehrt. Sie ist in Ausschwitz ermordet worden. In der Ausschwitzer Datei, dort gab es Karteikarten, ist ihr Name auch verzeichnet. Im Moment werden diese Namen, soweit vorhanden, aufgearbeitet. Die Frau ist nicht zurückgekommen, die Kinder haben überlebt, nicht beim Vater. Sie waren bei Verwanden teilweise versteckt. … Der Sohn dieser Frau war der spätere Bundesminister Jahn. Ich nehme an, daß viele hier im Saal ihn kennen. Ich habe bis vor 2 Jahren nicht von der Existenz des Lagers Breitenau gewußt. Es war 1 km von der Autobahn entfernt, in einem ehemaligen Kloster, mitten in Deutschland. Sie können in den Büchern über jeden Häftling nachlesen, der dort war. Welche erschossen wurden, welche wohin überstellt wurden, in welches Konzentrationslager. Das ganze hatte den Charakter eines Zwischenkonzentrationslagers. Dennoch, daß das ganze unbegreiflich ist und auch unbegreiflich bleibt, hat auch möglicherweise dazu geführt, daß es nicht nur eine Verdrängung bei den Tätern gegeben hat, sondern auch eine Verdrängung bei den Opfern. Auch unter den Opfern, unter den Überlebenden gibt es viele, die mit ihren Kindern oder Enkelkindern nie darüber gesprochen haben. Auch ich habe mit meiner Tochter nur ein einziges Mal darüber gesprochen. Das ist jetzt sogar schon 14 Jahre her. So wie ich heute darüber spreche, hat mich bis 1989 keiner sprechen hat hören können. Aber seit ich zum ersten Mal – genauso wie meine Frau, die über Dachau zum ersten Mal nach 50 Jahren und über Bergen-Belsen bis heute nicht darüber gesprochen hat – habe ich es bis 1989 nicht fertiggebracht, den Ort zu besuchen, von dem ich annehmen mußte, daß mein Vater dort umgebracht wurde. Inzwischen gibt es eine größere Gewißheit, daß er dort umgebracht wurde, das wußte ich damals nicht. Aber erst nachdem ich das erste Mal dort war, kann ich überhaupt darüber sprechen.
Aus dem Publikum:
Sehr geehrter Herr Bubis, am Ende dieser tollen Veranstaltung muß ich mich doch noch aufregen: Was eigentlich nicht passieren darf, ist, daß der Tatbestand der Judenvernichtung öffentlich in Frage gestellt wird. Ich denke, da ist irgend etwas falsch gelaufen. Man sollte verhindern, daß solche Fragen gestellt werden.
P. Dr. J. Meyer-Schene:
Nun wollen wir zum endgültigen Schluß kommen. Jetzt darf ich noch unsere Schülersprecherin bitten.
Doris Achelwilm (Schülersprecherin):
Sehr geehrter Herr Bubis. Als Schülersprecherin möchte ich stellvertretend für die gesamte Schülerschaft meine Freude über Ihren Besuch an unserer Schule aussprechen. Deshalb überreichen wir Ihnen als Zeichen unserer Gastfreundschaft eine Photographie von der gesamten Schülergemeinschaft. Wir hoffen, daß Sie einen angenehmen Aufenthalt in Handrup hatten und wünschen Ihnen für ihren weiteren Weg alles Gute.
P. Dr. J. Meyer-Schene:
Sehr geehrter Herr Bubis, meine Damen und Herren, ich möchte am Ende unserer Veranstaltung jetzt nicht mehr kommentieren, meinen Eindruck möchte ich in einem Satz zum Ausdruck bringen und ich hoffe, das ich im Namen der ganzen Gemeinschaft hier sprechen kann: Herr Bubis, ich danke Ihnen, daß Sie da waren.