Jugendliche ticken unterschiedlich
Peter Martin Thomas, Leiter der Sinus-Akademie Berlin
Kann man, ausgehend von nur 72 Jugendlichen, eine allgemeingültige Antwort auf die Frage geben: „Wie ticken Jugendliche?“ „Ja, kann man“, sagt zumindest Peter Martin Thomas. Der Leiter der Berliner Sinus-Akademie stellte am 17. September 2012 die Ergebnisse der Sinus-Studie 2012 über die Lebenswelten Jugendlicher im Rahmen des Handruper Forums einer breiteren Öffentlichkeit vor, nachdem er zuvor schon die Lehrerschaft des Gymnasiums während einer schulinternen Lehrerfortbildung informiert hatte.
Mit großer Aufmerksamkeit verfolgten die zahlreich erschienenen Gäste, unter ihnen auch Erster Kreisrat Martin Gerenkamp, der für das Gymnasium Leoninum zuständige Dezernent, Leitender Regierungsschuldirektor Bert Märkl, sowie die Leiterin des Studienseminars Meppen, Oberstudiendirektorin Irmgard Pöling und ihre Stellvertreterin, Studiendirektorin Anne Mecke, den anschaulich und launig vorgetragenen Ausführungen. Die Titelfrage der Studie, stellte Schulleiter Franz-Josef Hanneken fest, „muss alle interessieren, die irgendwie mit Jugendlichen in Politik, Bildung, Erziehung oder Jugendarbeit zu tun haben.“ Jedes Bemühen um Bildung und Erziehung, um Chancen für alle jungen Menschen, habe „anzusetzen bei einem Blick auf das, was ist. Das Urteilen und das Handeln setzen ein Sehen voraus.“
Wie tief die Einblicke in die Lebenswelt ihrer Kinder tatsächlich sind, durften die Erwachsenen dann auch gleich testen: Im Stil von „Wer wird Millionär“ stellte Peter Martin Thomas seinen Zuhörern, die sich dafür von ihren Plätzen erhoben hatten, 15 Fragen über angesagte Handys, Filme, Kleidung. Nach zwei falschen Antworten musste man sich setzen. Die Eltern erwiesen sich als recht gut informiert, was auch als Beleg für die Aussage des Referenten gelten kann, wonach „die Jugendlichen heute ein entspanntes Verhältnis zu ihren Eltern haben.“ Andererseits könnten Eltern ihren Kindern heute nicht mehr auf allen Gebieten Orientierung bieten. So sei beispielsweise allein die Berufswahl schon deshalb schwieriger geworden, weil es manche Berufe erst seit kürzester Zeit gebe, mithin die Eltern gar nicht wissen könnten, was sich hinter einer Berufsbezeichnung verberge. Dies führe, so Thomas, dazu, dass den Jugendlichen mehr Eigenverantwortung aufgebürdet werde, wobei die Zukunft in einer immer komplexer werdenden Welt weniger planbar werde. Darüber hinaus herrsche bei Jugendlichen die Wahrnehmung, „dass der Wert eines Menschen an seiner Leistungsfähigkeit bzw. Bildungsbiografie gemessen wird.“ Dies führe unter anderem dazu, dass die Jugendlichen sich dem Druck ausgesetzt fühlten, keine Zeit vertrödeln zu dürfen. Sie seien pragmatisch, weniger ideologisch geprägt. Allgemein sei ein „Bewältigungsoptimismus“ zu verzeichnen. Was ihre Wertvorstellungen angehe, erklärte Thomas, könnten Jugendliche unterschiedlichste Auffassungen unter einen Hut bringen. Er zitierte in diesem Zusammenhang Karl Kardinal Lehmann, der einst in einem Interview angemerkt habe: „Die Mädchen auf dem Petersplatz, die dem Papst zujubeln, haben die Pille in der Tasche. Das wissen wir schon lange.“
Dass es „die Jugendlichen“ als homogene Gesamtgruppe nicht gibt, verdeutlichte Peter Martin Thomas anhand von Bildern und Tondokumenten. Angefangen von den in der Mitte der Gesellschaft angesiedelten „adaptiv-pragmatisch“ geprägten Jugendlichen, die in ihrem Leben viel erreichen wollten, über die „konservativ-bürgerliche Jugend“ mit ihrer Familien- und Heimatorientierung und den „erfolgs- und lifestyleorientierten“, von einer „gepflegten Abneigung gegen Schule“ geprägten Expeditiven bis hin zu Jugendlichen aus prekären, von Mobbing und Ausgrenzung gekennzeichneten Lebenssituationen stellte Thomas sieben Lebenswelten heutiger Jugendlicher vor. Die Unterschiedlichkeit dieser Lebenswelten schlage sich auch im Verhältnis zu Bildung, Erziehung und Schule nieder. Während konservative Jugendliche die Schule als „wichtigen Ort des Lernens, wo man für das Leben lerne“ bezeichneten, sähen „experimentalistisch-hedonistisch“ geprägte Jugendliche in ihr „einen autoritär geprägten Raum“ und Jugendliche aus einem prekären Umfeld nur noch „einen Ort von Misserfolg und Konflikt.“ Dementsprechend, so führte Thomas aus, würden auch Lehrkräfte unterschiedlich wahrgenommen und beurteilt. Hedonistische Jugendliche forderten von ihnen Verständnis für Jugendliche ein, für die adaptiv-pragmatisch geprägte Gruppe oder sozialökologisch orientierte Jugendliche zähle in erster Linie Kompetenz. Gleichwohl könne man nicht alle Gruppen immer eindeutig voneinander abgrenzen, räumte Thomas abschließend ein.
Hermann-J. Rave