Prof. Georg Steins im “Handruper Forum”

„Die Bibel ist keine göttliche Dienstanweisung“ – Alttestamentler referierte im Rahmen des Handruper Forums

Zum Referenten:
Prof. Georg Steins,
Alttestamentler, Universität Osnabrück

Handrup (rav) – Dass die Bibel alles andere als ein „verstaubtes göttliches Rezeptbuch“ ist, das machte der Osnabrücker Alttestamentler Professor Georg Steins in einem Vortrag deutlich, den er im Rahmen des Handruper Forums hielt. Entsprechend dem Thema „Ganz anders als gedacht – das Gottesbild des Alten Testaments“ führte er die Zuhörer in die Gedankenwelt des Alten Testaments ein.

Der Alttestamentler Professor Georg Steins (2. v. rechts) sprach im Rahmen des Handruper Forums. Unser Foto zeigt ihn zusammen mit Schulleiter Pater Dr. Heiner Wilmer (rechts) sowie den Organisatoren der Veranstaltung, Christa Prior und Karl-Josef Bußmann.

Schulleiter Pater Dr. Heiner Wilmer verwies in seiner Einführung auf das gängige Bild des „rächenden und strafenden Gottes“. Nicht weniger als 1000 Stellen könne man im Alten Testament hierfür anführen. Die Thematik des 14. Handruper Forums sei mit seiner Thematik also „nur auf den ersten Blick allein für Insider“ geeignet. Sein besonderer Dank galt in diesem Zusammenhang den beiden Lehrpersonen Christa Prior und Karl-Josef Bußmann, die für Planung und Organisation der Veranstaltung verantwortlich zeichneten.

Professor Steins griff in seinem Vortrag zunächst vielfach kursierende Ansichten über das Alte Testament auf: Es sei fremdenfeindlich, predige gefährliche Intoleranz und verherrliche Gewalt. Wer allerdings die „dunklen Seiten der Bibel“ benenne, dürfe „ihre überragenden Leistungen für die westliche Kultur“ nicht unberücksichtigt lassen. Grundsätzlich sei der Umgang mit der Bibel jedoch so, dass sowohl Kritiker und Verteidiger die Bibel häufig moralistisch läsen, gleichsam als „ein göttliches Rezeptbuch“ oder „eine biblische Dienstanweisung, die es zu befolgen gilt oder nicht“, kritisierte der Referent. Die Bibel sei viel eher mit einem „wilden Libretto“, einem „Textheft für die Weltoper“ vergleichbar. Die Bibel sei „genauso bunt und wild wie die Welt“. Ordnung lasse sich nur „um den Preis einer Verflachung“ erzielen. Man dürfe die Bibel eben nicht wie ein gewöhnliches Kochbuch behandeln, sondern müsse sich damit abfinden, dass „Klassiker von ihrer Rätselhaftigkeit lebten“, betonte der Wissenschaftler. Gott sei auch in der Bibel „keine Selbstverständlichkeit“, sondern er begegne den biblischen Autoren als stetige Herausforderung. Drei Fragen seien dabei von besonderer Bedeutung.

Die „erste Entdeckung Gottes“ beziehe sich auf die Frage nach dem „Wohnort Gottes“. Die Bibel gebe hier eine „originelle Antwort“, so Professor Steins, denn sie rücke die Ordnung der Zeit in den Vordergrund. Durch die Scheidung von Licht und Dunkelheit zu Beginn des Schöpfungsberichts schaffe Gott die Voraussetzung für das Leben. Zwar sei „mit dem sechsten Tag eigentlich alles erreicht“, aber der siebte Tag diene der Heiligung und Segnung der Schöpfung. „Jedes Mal, wenn nun der siebte Tag an der Reihe ist, wird das Ziel der Welt hineingeholt in ihren Lauf“, erklärte der Professor.

Die Erwählung des Volkes Israel sei „ein ungewöhnliches Gesellschaftsexperiment“ und beantworte die Frage nach dem Willen Gottes. Die Befreiung des Volkes aus der Sklaverei Ägypten zeige, dass Erlösung nicht individuell, sondern „gesellschaftlich gedacht“ werden müsse. Eine Gruppe von Menschen lerne, „neu zu leben“ entsprechend der Verheißung Gottes: „Ihr sollt nie wieder Sklaven sein und andere dazu machen.“ Damit erübrige sich auch jedwede Ausgrenzung und Benachteiligung einzelner Gruppen in der Gesellschaft.

Als zutiefst „verstörend“ wertete Professor Steins schließlich die Entdeckung von der, wie er es nannte, „Nutzlosigkeit Gottes“. „Was habe ich davon, an Gott zu glauben?“ Diese Frage sei auch für die biblischen Autoren von elementarer Bedeutung. Dass eine schlichte „Kosten-Nutzen-Rechnung“ hier nicht weiterhelfe, zeige sich am Beispiel der von Gott veranlassten Opferung Isaaks durch Abraham. Nach Auffassung von Professor Steins gehe es in dieser Erzählung – „eine Geschichte zum Davonlaufen“ – vor allem darum, Gottes Unbegreiflichkeit deutlich zu machen: „So fremd kann dir Gott werden, dass alles dir wie durchgestrichen erscheint.“ Eine moralistische Leseweise, die vom Menschen höchste Opferbereitschaft verlange, bewertete Professor Steins dann auch als „grundfalsch“.

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Michael Felten im “Handruper Forum”

„Die Bibel ist keine göttliche Dienstanweisung“ – Alttestamentler referierte im Rahmen des Handruper Forums

Zum Referenten:
Michael Felten
Pädagoge und Publizist, Köln

Manuskripttext des Vortrags:

„Verlernt zu erziehen?“
– Kommen Schule und Elternhaus ihren Erziehungsverpflichtungen noch nach? –

Verehrte Anwesende,
der Untertitel zu dieser Veranstaltung hat die Frage aufgeworfen, ob Schule und Elternhaus ihren Erziehungsverpflichtungen heute noch nachkommen. Falls Sie es an diesem Abend ganz eilig haben sollten, will ich vorweg schon einmal eine schnelle Antwort geben, sie lautet: Es kommt darauf an: In manchen Fällen durchaus, in anderen einigermaßen, nicht selten aber auch mehr schlecht als recht. Sie werden zwar jetzt blitzschnell überlegen, welcher Teilgruppe Sie sich zurechnen sollten oder ob es noch eine vierte irgendwo dazwischen gäbe, aber: Sie wollen vermutlich mehr dazu von mir hören. Ich freue mich, daß Sie sich so zahlreich für eine eingehendere Erörterung dieser Fragestellung Zeit genommen haben, ich danke für die Einladung Ihnen meine Überlegungen dazu vorstellen zu dürfen, und ich hoffe, daß auch Sie selbst nachher aus Ihren Erfahrungen dazu beitragen werden.

Lassen Sie mich zunächst einen Blick auf die allgemeine Lage des Projekts Jugend werfen.

Spätestens seit den Befunden von Pisa ist die Debatte über die Situation der Jugend wenn auch nicht zur Kanzlersache, so doch zu einer öffentlich stärker beachteten Angelegenheit geworden. Aber die Diskussion war – wo sie nicht nach der üblichen Medienaufgeregtheit ohnehin im Sande verlief – mit deutlichen Scheuklappen behaftet. So konzentrierten sich viele Stellungnahmen zur mageren Leistungsbilanz deutscher Schüler auf organisatorische oder ökonomische Forderungen: nach höheren materiellen Aufwendungen für das Bildungswesen etwa (die mir teils berechtigt, teils illusorisch, teils unnötig erscheinen) oder nach einer Umstrukturierung des Schulsystems (dabei waren Finnland und Japan gar nicht wegen ihrer Gesamtschulen so erfolgreich). Andere Ursachenvermutungen waren nicht von der Hand zu weisen: die vielfach mangelhafte Anregung im Kindergarten, die geringe Sprachkompetenz von Migrantenkindern; die methodischen Schwächen manchen Fachunterrichts. Aber merkwürdig: Kaum jemand hielt sich lange damit auf, daß möglicherweise das veränderte Erziehungsklima im Elternhaus oder die Einstellung zu Disziplin und Leistung unter den Lehrern zu der neudeutschen Bildungsnot beigetragen haben könnten.

Auch die Reaktionen auf die Bluttat von Erfurt wiesen eine gewisse Engstirnigkeit auf. Da war zum einen die ausgesprochen gespenstisch anmutende Debatte um den Einfluß massenhaft konsumierter gewaltverherrlichender Videos und Computerspiele. Daß diese den Amoklauf des jungen Mannes aus Thüringen begünstigt haben, ist doch für jeden unstrittig, der solche Medien kennt – es sei denn, er stünde im Sold entsprechender Produzenten oder hege eine grundsätzliche Abneigung gegen pädagogische oder staatliche Regularien. Man mache sich nur einmal die Mühe, derartige Bildfolgen stundenlang auf sich einprasseln zu lassen, und stelle sich das über Jahre hinweg vor – aber nicht mit der Psyche eines gefestigten Erwachsenen, als wohldotierter Medienexperte, sondern im Zustand jugendlicher Labilität! Was würde man dann von der Behauptung halten, man könne keinen direkt ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Anschauen eines Gewaltvideos und der Ausführung einer Gewalttat nachweisen?
Zum anderen wurde für den Amoklauf gerne – mal offener, mal zwischen den Zeilen – das angebliche Auslesesystem Schule und die vermeintlich düsteren Zukunftsperspektiven verantwortlich gemacht, frei nach dem Motto „Wer Druck oder Aussichtslosigkeit sät, wird Gewalt oder Verzweiflung ernten“. Vergleichsweise gering dagegen war das öffentliche Nachdenken darüber, ob der in sich gekehrte Sonderling vielleicht einmal ein Kind war, um das sich die doppelt berufstätigen Eltern zu wenig kümmern konnten oder mochten. Und ob nicht viel zu viele Lehrer Jugendliche in Bildungsgänge hineinstolpern lassen, in denen sie absehbar nicht erfolgreich werden können.

Aber verlassen wir einmal die großen Schauplätze und suchen andernorts nach Anhaltspunkten für den Verdacht, wir könnten verlernt haben zu erziehen. Im Restaurant wird man – zumindest in Köln – tatsächlich immer öfter mit Kindern konfrontiert, denen anscheinend niemand klar gemacht hat, daß sie sich nicht zuhause, sondern in einer kultivierten Öffentlichkeit befinden: Sie benehmen sich so, daß anderen Gästen nicht nur der Appetit vergeht, sondern auch der Gesprächsfaden entgleitet – die progressiven Eltern aber hüten sich konsequent, die Selbstentfaltung ihrer Liebsten einzuschränken. Auch in Bussen und Bahnen sind die Folgen einer weithin „verweigerten Erziehung“ unübersehbar: Selbst bei Regenwetter ist kaum eine Sitzfläche mehr vor lässig hochgestellten Schuhen sicher – Mitreisende jeden Alters scheuen sich aber, auch nur hinzusehen, geschweige denn, etwas dazu zu sagen, auch bei Jugendlichen, denen anzusehen ist, daß sie nicht zuschlagen werden, auch in einer Stadt, die an jeder dritten Litfaßsäule Aufforderungen wie „Hinsehen und Handeln“ oder „Müll: Jetzt langt’s“ plakatiert. Manchmal scheint es, als sei die ganze Gesellschaft paralysiert: Als würde sie der Devise huldigen: Nicht das verzogene Kind ist tyrannisch, sondern die auf gewisse Regeln pochende Gesellschaft, in der es lebt.

Und was sagen Außenstehende zu unserer Frage? Der iranische Filmregisseur Majid Majidi erzählt in seinem mehrfach preisgekrönten Film „Baran“ die Liebesgeschichte zweier Heranwachsender, die sich auf einer zugigen Baustelle im Norden Teherans abrackern müssen – damit ihre Familien überleben können. Majidi wollte damit ein Gegenbild zur westlichen Welt von heute schaffen, in der man, wie er findet, „von einer Herrschaft der Kinder sprechen kann. Die Erwachsenen denken, “ fährt der Regisseur fort“, daß sie alle Unannehmlichkeiten ertragen müssen, damit es den Kindern gut geht. Das Ergebnis sind Kinder mit zu wenig Verantwortungsbewußtsein. Als ich ein Kind war, war ich immer besorgt um meine Eltern. Wenn ich heute meine Kinder ansehe, dann weiß ich, daß sich das genau umgedreht hat.“ Ich glaube, viele von uns müßten ihm – zumindest ein Stück weit – beipflichten.

Zu dieser Umkehrung der Verhältnisse paßt auch, was kürzlich in der ‘Zeit’ zu lesen war. Vier Mütter berichteten darüber, wie chaotisch es in den Zimmern ihrer jugendlichen Söhne und Töchter aussähe und wie sehr sie sich anstrengen würden, diese – wie sie es nannten – eigene Welt zu akzeptieren: Haschischposter an den Wänden, verschimmelte Lebensmittel halb auf halb unter dem Teppich, im familiären Streit von Söhnen eingetretene Türen, oder schon am frühen Morgen eine Lautstärke der Musik, die sie allein körperlich kaum aushielten. Zwei Wochen später wurden drei Leserbriefe veröffentlicht, die sich mehr als erstaunt über die Schwäche dieser Mütter zeigten, die daran erinnerten, daß die Halbwüchsigen doch eine recht kostenintensive Fürsorge genössen, und die von den Eltern schärfere Maßnahmen forderten. Diese Briefe stammten – von Jugendlichen.

Wenn ich all’ diese Eindrücke zusammenfassen sollte und dabei Anleihen bei der Jugendsprache machen würde, läge es nahe zu sagen: Irgendwie Wahnsinn! Und: Warum tuen wir unserer Jugend – und nicht zuletzt uns – so etwas eigentlich an? Meine Diagnose: Weil alle am Projekt Jugend Beteiligten – und das sind mehr als Eltern, Kindergärtner oder Lehrer – seit geraumer Zeit mehr oder weniger antipädagogisch infiziert sind! Der pädagogische Zeitgeist der letzten Jahrzehnte hat eine Reihe äußerst schwer erkennbarer Theorie“viren“ in unsere mentalen Programme eingeschleust. Das Dumme ist nur – und das ist ja typisch für solche Erreger – daß sie lange Zeit nicht als sonderlich störend empfunden wurden, sondern als urwüchsig pädagogisch. Ich nenne nur einige dieser Mythen der jüngeren Pädagogik:
•Kinder wissen selbst am besten, was gut für sie ist.
•Kinder sollen möglichst ohne Belastungen, Konflikte oder Versagungen aufwachsen.
•Wichtig ist vor allem ein gutes Selbstwertgefühl – die guten Fähigkeiten kommen dann schon von selbst.
•Lernen geschieht am besten spielerisch und soll Spaß machen.
•Leistungserwartungen machen Kindern Angst, deshalb sind Beurteilungen und Kritik unpädagogisch.
•Disziplin und Strenge, Verbote und Strafen schaden der kindlichen Entwicklung.

Was ebenso häufig wie ungenau als allgemeine Verunsicherung der Erzieher beklagt wird, erweist sich somit im Kern als verhaltene bis überzeugte Verweigerung von Erziehung. Diese beruht auf Vorstellungen, die sich bis zu Rousseau zurückverfolgen lassen, die aber insbesondere die Pädagogik im 20. Jahrhundert – dem sogenannten des Kindes – maßgeblich geprägt haben. Sie wollte der bessere Anwalt des Kindes sein und es von möglichst vielen Zwängen befreien. So hilfreich solch’ antiautoritäre Impulse aber noch vor dreißig Jahren gewesen sein mögen, mittlerweile treffen sie auf viele Jugendliche, die sich vor lauter Freiheiten kaum noch retten können, die über Langeweile, Betäubung oder Gewalt nicht allzuweit hinaus geraten, die nach Orientierung geradezu rufen.

Dabei würde erziehen doch – einfach gesagt – heißen, jedes Kind einerseits als ein ganz einzigartiges Wesen wahrzunehmen und auf es individuell einzugehen, es aber andererseits auch aktiv und zielstrebig in das allgemeine Leben hineinzuführen. Oder, um eine gängige Redewendung zu variieren, man sollte junge Menschen zwar da abholen, wo sie stehen, aber nicht bei ihnen stehenbleiben oder sie lediglich bei ihren Launen begleiten, sondern sie auch zu sinnvollen Schritten herausfordern und ihnen diese dann auch tatsächlich zumuten.

Ein Bild, das diesen Sachverhalt zumindest formal etwas genauer faßt, ist das vom „magischen Erziehungsdreieck“ (Hurrelmann). Demnach brauchen Heranwachsende dreierlei, um nicht nur selbstbewußt, sondern auch leistungsfähig und verantwortungsbereit zu werden: Anerkennung, Anregung und Anleitung. An diesen drei Dimensionen läßt sich vielleicht ganz gut prüfen, ob und inwieweit wir verlernt haben zu erziehen.

Zeit ist Geld, aber Kinder sind unbezahlbar

In der ersten Dimension geht es darum, wie wir als Erzieher zur Person des Kindes stehen, Stichwort: Anerkennung. Das bedeutet hier natürlich bei weitem nicht nur das ausdrückliche Lob, gemeint ist vor allem die grundsätzliche Wertschätzung und ganz konkrete Beachtung, aber auch der Respekt vor der jeweiligen Eigenart und das Gewähren von sinnvollen Freiräumen. Hier das rechte Maß zu finden, ist oft alles andere als einfach. Bei mangelnder Begeisterung fühlen sich Kinder schnell abgelehnt, in zu engen Beziehungen hingegen kann Unselbständigkeit und Abwehr entstehen. Man muß sich keineswegs rund um die Uhr mit Kindern beschäftigen oder sie permanent loben, aber für sie ansprechbar sein, ein offenes Auge für sie haben, mit ihnen auch Stunden der Muße verbringen können, das geht nicht ohne ein erhebliches Quantum Zeit. Angesichts von Tendenzen zum begeisterten Doppelverdienen und zum überzeugten oder leichtfertigen Alleinerziehen möchte ich deshalb betonen: Liebe allein genügt nicht, viele Kinder brauchen mehr mitmenschliche und pädagogische Aufmerksamkeit.

Man ist geneigt, an diesem Punkt schnell zu nicken – und zu wenig zu tun. So hat die aktuelle Bindungsforschung schon bei Kleinkindern Gefahr im Verzug registriert: Demnach ist allein in den vergangenen 20 Jahren der Anteil sicherer Bindungsmuster bei Zweijährigen von 68% auf 45% zurückgegangen. Mit anderen Worten: Die Verbreitung unsicherer oder stark gestörter seelischer Grundbefindlichkeit im frühen Kindesalter hat um zwei Drittel zugenommen. Das ist beunruhigender als ein Schwarzer Tag an der Börse, denn es wirkt ein Leben lang nach. Solche stark verunsicherten Kinder neigen zu Aggressionen oder Angst gegenüber den Müttern, zum Ignorieren elterlicher Gebote und Verbote, zu Unzufriedenheit und Unruhe, zu reduziertem Erkundungsverhalten und eingeschränkter Selbstständigkeit. In der Schule sind solche Kinder oft in Streit verwickelt oder stören andere, sie fallen auf durch erhöhte Aggressivität, mangelnde Konzentration und Gedächtnisstörungen – die „neuen Kinder“ eben, die unseren Unterricht auf eine so unglückliche Weise lebendig machen. Die Forschung sagt übrigens auch – in der für sie typischen nüchternen Sprache -, wie Bindungsstörungen zu vermeiden sind: Wenn eine mütterliche Person in den ersten Lebensjahren zur Verfügung steht und die Regungen des Kindes angemessen beantwortet. Das gewiß nicht reaktionäre Wochenblatt ‘Die Zeit’ legte kürzlich unter der Überschrift „Alleine zu zweit“ offen, welchem Streß sich alleinerziehende Berufstätige aussetzen, um Kind und Karriere halbwegs unter einen Hut zu bringen, und es war klar, daß dabei in der Regel beide – Erwachsener wie Kind – zu kurz kommen – Erfahrungen, die neuerdings auch in der Fachliteratur stärker beachtet werden.

Die Problematik elterlicher Überlastung reicht bis in die Pubertät. Ist das jüngste Kind erst einmal in der Schule, spätestens aber nach dem Wechsel etwa ins Gymnasium wird doppelverdient – oft nicht nur aus Hedonismus, sondern weil ein mehrköpfiges Leben auch einfach ziemlich teuer ist. Was schnell übersehen wird: Selbst wenn Heranwachsende immer früher selbständig wirken und es auch gerne sein wollen – sie brauchen uns auch mit 14 noch, wenn auch nicht so häufig und auf eine andere Weise als zur Kindergartenzeit. Es ist eben ein Unterschied, ob sie sich mittags nur mit Mikrowelle und Monitor unterhalten können oder ob sie zuhause jemand antreffen, der sich für ihre Erlebnisse interessiert – auch wenn sie gar nicht sofort davon erzählen mögen. Und es macht etwas aus, ob es niemand mitbekommt oder ob es einem auffällt, wenn sie mit dem Schwänzen liebäugeln. Es spielt auch eine Rolle, ob die Hausaufgaben hektisch und gereizt am Abendbrottisch kontrolliert oder am Nachmittag ruhig und beiläufig mitverfolgt werden. Und es bleibt nicht folgenlos, ob die Eltern nach Job, Einkaufen und Kochen abends endlich einmal ihre Ruhe haben wollen – oder ob wenigstens einer ein offenes Ohr für den Jugendlichen aufbringen kann – selbst wenn der es nicht dauernd in Anspruch nimmt.

Ohnehin stellt das schwierige Alter auch den Erwachsenen schwierige neue Aufgaben: Die jugendlichen Stimmungsschwankungen zu verstehen und damit umzugehen, angemessene Freiräume auszuloten und zuzugestehen, Kritik an der eigenen Lebensweise zuzulassen, Auseinandersetzungen zu suchen und auszuhalten. Wer das zwischen Tür und Angel abzuhandeln versucht, hat in der Regel schlechte Karten – und beschränkt seine Aufmerksamkeit womöglich auf negatives Verhalten, auf die ‘Störungen’.

Tatsächlich fühlt sich – einer neueren Umfrage zufolge – jedes dritte Kind von seinen Eltern unverstanden und nimmt an, ‘die’ hätten keine Ahnung davon, was in ihm vorgehe. Auch wenn Kinder und Jugendliche zu ‘funktionieren’ scheinen – wenn sie zuhause nicht randalieren, wenn keine ‘blauen Briefe’ aus der Schule kommen, wenn die Polizei nicht vorfährt – dies ist keine Garantie dafür, daß sie sich weitgehend wohl und sicher fühlen. Viele Eltern fallen jedenfalls aus allen Wolken, wenn sie erfahren, daß ihr Fünfzehnjähriger regelmäßig an irgendwelchen Satansriten teilnimmt – weil er sich nämlich jahrelang verdammt einsam gefühlt hat und hier nun plötzlich und scheinbar Gemeinsamkeit erlebt – oder daß ihre Vierzehnjährige seit einiger Zeit Haschisch raucht – weil sie nämlich meint, so Farbe in ihr unauffälliges Leben bringen zu können.

Ich formuliere ein erstes Fazit: Wir haben nicht verlernt, unsere Kinder zu lieben, sondern sie als Wesen ernst zu nehmen, die zum Erwachsenwerden auf einfühlsame und zugewandte Erwachsene angewiesen sind – aber dafür braucht man auch Zeit.

Von nichts kommt nichts – oder zumindest zuwenig

Der zweite Pol des Erziehungsdreiecks hat damit zu tun, wie wir auf die Auseinandersetzung des Kindes mit der Welt (man könnte auch sagen: auf sein Wachsen und Lernen) einwirken, Stichwort: Anregung. Auf diesem Gebiet stellt sich die Lage recht uneinheitlich dar. Daß junge Menschen überhaupt der gezielten Anregung bedürfen, ist keineswegs selbstverständlich, wie ein Blick in zahlreiche Kindergärten zeigt: Dort sind heute viele Kinder ebenso über- wie unterfordert – wenn die Erzieher sie nämlich zu sehr sich selbst überlassen. Dabei liegt die „strahlende Intelligenz von Fünfjährigen“, wie Freud sich ausdrückte, unnötig brach, wenn man diese eminent bildsame Lebenszeit nicht dazu nutzt, den geistigen Horizont auf breiter Front zu erweitern. Dies insbesondere bei Kindern aus bildungsferneren Schichten zu unterlassen, bedeutet letztlich nichts anderes als frühe Beihilfe zu unnötiger Selektion. Angeleitetes Malen oder inszenierte Naturbegegnungen, regelmäßiges Vorlesen oder auch behutsames Gewöhnen ans Aufräumen – das ist keineswegs fremdbestimmte Einengung von kindlicher Spontaneität, da werden vielmehr Wege gebahnt für zukünftige Künstler oder Forscher, Weltverbesserer oder Handwerker. Was spricht eigentlich dagegen, im Kindergarten nach Kräften zum „Weltwissen von Siebenjährigen“ – so kürzlich ein Bestsellertitel – beizutragen?

In Familien und Schulen hingegen, in denen Anregung keine Mangelware ist, erwachsen indes neue Gefahren. So machen wir vielen unserer Kinder zwar jede Menge Angebote – von den überquellenden Spielzeughalden in manchen Kinderzimmern über eine breite Palette von Nachmittagsterminen bis hin zur Fächervielfalt der Oberstufe – aber was fangen sie eigentlich mit dieser Fülle an? Und was tun wir, wenn ihnen ein neues Spielzeug nach kurzer Zeit keinen Spaß mehr macht, wenn sie keine Lust mehr auf Jazzdance haben, wenn sie das gewählte Neigungsfach nach der ersten verhauenen Klausur doof finden? Würde ‘Anregung’ in diesem Fall nicht vor allem bedeuten, daß wir dem Kind dabei behilflich sind, daß es bei einer Sache bleibt – indem wir es etwa bei aufgetretenen Schwierigkeiten unterstützen?

Oder Thema Lob: Zwar ist es mittlerweile eine pädagogische Binsenweisheit, daß man das Größerwerden und Mehrkönnen von Kindern würdigen sollte und sie nicht durch Kritik oder Ungeduld entmutigen darf. Aber muß man deshalb vor jedem normalen Fortschritt in überschwengliche Begeisterung verfallen? Und ist es wirklich förderlich, jeden Hinweis auf mögliche Verbesserungen verschämt zu verschlucken, um das Kind nur ja nicht zu frustrieren und sein Selbstwertgefühl nicht zu beschädigen? Die Sache mit dem Selbstwertgefühl ist ja ohnehin eine populäre Halbwahrheit, die neuerdings wieder kritischer gesehen wird. Man glaube nur nicht, daß es Kindern uneingeschränkt guttue, wenn man sie unbeschränkt Fehler machen läßt – sie geraten ja dadurch andern gegenüber in Rückstand und erleben die Erwachsenen als gleichgültig. Zudem stellt ein hohes Selbstwertgefühl auch keinen Eigenwert da – schließlich muß es keineswegs mit sinnvollen Zielsetzungen und anspruchsvollen Leistungen einhergehen (Bandenführer etwa sind ja in der Regel äußerst selbstbewußte Typen). Grundsätzliche Selbstüberschätzung gar kann richtig gefährlich werden – solche Menschen neigen in Belastungssituationen zu unerwarteten und aggressiven Ausbrüchen.

Und wie verträgt sich der Aspekt Anregung mit den flächendeckend in deutschen Kinder- und Jugendzimmern verbreiteten Fernsehgeräten (und Computern)? Natürlich gibt es auch sinnvolle Fernsehsendungen, aber im Kern ist die Auswirkung des stundenlangen Glotzens in Kindheit und Jugend doch eine zweifache: Passivität und Oberflächlichkeit einerseits, sowie Gewöhnung an Gewalt andererseits. Deshalb hat die Journalistin und Autorin Susanne Gaschke dafür plädiert, vor allem den sozial ohnehin schon benachteiligten Familien durch eine regelrechte Anti-TV-Kampagne die Risiken dieses Mediums klarzumachen. Jede Stunde ‘Glotze’, die man seinem Kind erspart, wäre für dieses jedenfalls ein großer Gewinn – und für einen selbst vielleicht auch. In dieser Zeit könnte das Kind spielen oder später lesen, oder man könnte mit ihm sprechen und gemeinsam etwas unternehmen – oder sich dafür interessieren, was es in der Schule Neues erfahren hat. Auch in dieser Hinsicht gehört Deutschland ja zur PISA-Nachhut: Nur etwa 40 Prozent der Mütter und Väter erkundigen sich hierzulande nach den Schulleistungen ihrer Kinder oder nehmen sich Zeit für persönliche Gespräche, in den Niederlanden tun dies immerhin etwa zwei Drittel, in Italien gar vier von fünf Elternpaaren.

In diesem Zusammenhang ist ein weiteres Detail aus der PISA-Studie aufschlußreich, daß nämlich deutsche Jugendliche im Hinblick auf ihre Leselust das absolute Schlußlicht im internationalen Vergleich bildeten. Unsere Kinder reizt es demnach besonders wenig, sich eine Geschichte Seite für Seite selbst zu erlesen, im Kopf dazu eigene Bilder entstehen zu lassen und diesen Vorgang zu genießen oder interessant oder spannend zu finden. Dabei gibt es hierzulande keineswegs zu wenige oder zu wenig gute Kinder- und Jugendbücher, und in vielen Vergleichsländern sind Fernsehen und Computer ähnlich verbreitet wie bei uns. Haben unsere Mütter – oder Väter, oder Großeltern – nur zu wenig vorgelesen, als die Kinder noch klein waren? Oder haben sie ihnen etwa schon von früh an zu viel abgenommen: das Warten auf die nächste Mahlzeit, das Gestalten freier Stunden, die kleine aber wichtige Mithilfe im Familienhaushalt, die zweite Hälfte der Hausaufgaben? Kurz gesagt: Haben sie sie vielleicht an etwas grundsätzlich Ungünstiges gewöhnt, nämlich an die Erwartung, man werde das Leben schon gemacht bekommen – anstatt es selbst zu machen?

Die Risiken der verwöhnenden Erziehung hat übrigens der Wiener Arzt und Psychologe Alfred Adler in seiner Individualpsychologie erstmalig detailliert beschrieben – und erst kürzlich erreichte ein Buch mit dem Titel „Die Verwöhnungsfalle“ wieder mehrere Auflagen. Die bereits erwähnte moderne Bindungsforschung liefert eindrückliche Beispiele dafür, wie früh solche Verwöhnung beginnen – und wie man sich ihr entziehen kann. Stellen Sie sich vor: Da versucht ein Kleinkind, bäuchlings über den Fußboden robbend an sein Plastikentchen zu gelangen. Mühsam kommt es voran, mit einer Mischung aus Stemmen, Schieben, Rutschen, manchmal gelingt eine Kriechbewegung; ab und zu bleibt es erschöpft liegen, vielleicht ein kurzes Weinen, dann doch wieder sich aufraffen, ein letzter energischer Ruck – geschafft! Wie viele Mütter würden dazu neigen, ihrem Kind diese Mühe abzunehmen – und damit auch die in der Belastung liegende Stärkung und den sie krönenden Erfolg?

Verwöhnung bedeutet eben weit mehr als die Überhäufung eines Kindes mit Süßigkeiten oder Streicheleinheiten. Verwöhnend verhalten sich Erzieher immer dann, wenn sie dem Kind Tätigkeiten abnehmen oder gar nicht erst zutrauen, die es selbst bewältigen – und daran wachsen könnte. Das betrifft auch die Mitwirkung von Kindern und Jugendlichen bei den Haushaltsarbeiten. Unser heutiges häusliches Komfortniveau ist für Heranwachsende zwar momentan angenehm, aber langfristig ungünstig: Sie gewöhnen sich an eine Haltung des Versorgtseins – und es entgeht ihnen das so wichtige Empfinden, von anderen gebraucht zu werden, für andere wichtig zu sein – übrigens ein viel tragenderes Gefühl als das, eine Pflicht erledigen zu müssen. Es würde nicht nur unserem Zeitbudget, sondern vor allem unseren Kindern guttun, wenn wir weniger verschämt von ihnen erwarten würden, daß sie sich im familiären Miteinander – oder auch in der Klassengemeinschaft – in altersgemäßer Weise nützlich machen – und das heißt mit 10 oder 15 keineswegs nur feigenblattartig.

Daß auch viele Lehrer von Verwöhnung ein mehrstrophiges Lied singen könnten, ist kein Geheimnis; etwa wenn sie
•in der Grundschule kurze Texte fotokopiert verteilen, die die Schüler auch von der Tafel oder vom Projektor abschreiben und dabei ihre Feinmotorik trainieren könnten
•Essen oder Trinken im Unterricht zulassen, auch wenn alle 45 Minuten Pause ist
•auf die Verbesserung von Klassenarbeiten verzichten
•nur wenig Hausaufgaben aufgeben, obwohl das Lernen doch der Beruf des jungen Menschen ist.

In Sachen Anregung ist mithin eine höchst zwiespältige Bilanz zu ziehen: Wachsenlassen alleine genügt nicht, Verwöhnung und Überbehütung bremst die kindliche Entwicklung aber auch – es sieht so aus, als brauchten viele unserer Kinder vor allem mehr gezielte Herausforderungen – in sachlicher ebenso wie in sozialer Hinsicht.

In diesem Zusammenhang verdient ein Begriff rehabilitiert zu werden, der im Pädagogischen zu Unrecht den Beigeschmack des Unanständigen angenommen hat: Leistung! Dabei wollen Heranwachsende durchaus etwas leisten und sich dafür anstrengen – wenn sie nur den Eindruck haben, daß es sich lohnt – und dieser Lohn kann ganz unterschiedlicher Natur sein: weil etwa das Lesenlernen für sie unmittelbar nützlich ist; weil die Eltern wissen wollen, was sie Neues gelernt haben; weil ein Lehrer, den sie schätzen, ihnen zutraut, quadratische Gleichungen zu lösen; weil sie etwa in Informatik kompetenter werden als andere; weil ihnen ohne Fremdsprache der Weg zum Traumberuf verbaut ist.

Lernfreude ist allerdings etwas sehr Empfindliches, das Lehrer wie Eltern allzu schnell dämpfen oder blockieren können: Wenn sie zuwenig Zeit oder Interesse für den ‘Beruf’ ihrer Kinder haben, oder wenn sie auf Fragen oder Schwierigkeiten mit Ärger oder Kritik reagieren. Aber auch wenn sie von kleinen Fortschritten in übertriebener Weise begeistert sind oder sich mit mangelhaften Leistungen zufrieden geben, z.B. einem eigentlich unlesbar geschriebenen Aufsatz, einem lustlos gemalten Bild oder einer vollkommen unübersichtlich notierten Rechenaufgabe. Besonders verhängnisvoll ist die Wahl einer weiterführenden Schule, die anhaltende Überforderung bedeutet. Dabei tun Kindern gute Noten und entsprechende Erfolgsgefühle an einer Haupt- oder Realschule viel besser, als jahrelang das ‘letzte Rad’ am Gymnasialwagen zu sein.

In dem Maße, indem die Zahl unserer Kinder zurückgeht, für die wir nur das Beste wollen, steigt unsere Neigung, ihnen auch den Weg dahin abzunehmen. Nur: Wer zuviel getragen wird, dessen Kräfte lassen ebenso nach wie seine Ansprüche an andere wachsen. Unnötige Entlastung, das bedeutet bei jungen Menschen ganz einfach Unterschätzung – und damit vermeidbare Schwächung. Will man Kindern also keine ihrer Möglichkeiten vorenthalten, will man wirklich Lebenstüchtigkeit hervorrufen, dann ist nicht Schongang angesagt, sondern Herausforderung: ihnen hin und wieder auch einen geeigneten Stein in den Weg legen, sie zu Neuem oder Besserem anregen, ihnen Anstrengungen zumuten, ihnen Bemühungen abverlangen.

Ein zweites Fazit könnte also lauten: Manche Erzieher haben verlernt, ihre anregende Funktion überhaupt anzunehmen, andere haben übersehen; daß man in Angeboten auch ertrinken kann, wieder andere haben sich nicht klar gemacht, wie wichtig Belastungen für eine optimale Entwicklung sind. Das lange Zeit euphorisch propagierte Ideal der Selbstentfaltung ist jedenfalls gründlich überstrapaziert worden und gehört relativiert – der begleitende Erwachsene wird auch im 21. Jahrhundert keineswegs überflüssig sein.

Selbstbestimmung ist ein gutes Ziel – aber oft kein günstiger Weg

Der derzeit meistdiskutierte Pol des Erziehungsdreiecks ist der der richtigen Anleitung. Daß es nichts Anstößiges ist, in Familien, Kindergartengruppen oder Schulklassen auf Regeln des Miteinanders zu pochen, hat sich zwar wieder herumgesprochen. Wie man aber dafür sorgt, daß Vereinbarungen, Anordnungen oder Verbote auch eingehalten werden, darüber besteht Konfusion, wohin man schaut. Wir tun uns schwer mit der Einsicht: Selbstbestimmung und freundliche Hinweise alleine genügen nicht, unsere Kinder brauchen mehr erzieherische Autorität.

Ich möchte diesen Anspruch an einigen Beispielen aus der Schule erläutern. Schüler sollen sich ja auch mit Sachverhalten auseinandersetzen, die sie derzeit vielleicht überhaupt nicht interessieren – weil dies bislang unbekannte Interessen bei ihnen anregen oder zu einem späteren Zeitpunkt für sie nützlich sein könnte. Hinzu kommt: Bei jedem Lernen stellen sich eine Reihe von Schwierigkeiten – schließlich vollzieht sich Wissenserwerb und Kompetenzzuwachs in der Regel nicht nur beiläufig, quasi von selbst, sondern vielfach auch und gerade nur gegen Widerstände: Die Schüler verstehen etwa einen Zusammenhang nicht. Oder können eine Handlung nicht sofort ausführen. Oder nicht so gut wie andere. Oder sie können den Lehrer nicht leiden. Lernen hat insofern viel mit starken Unsicherheitsgefühlen zu tun, mit der Befürchtung, etwas nicht schaffen zu können. Würden Lehrer nun darauf verzichten, zumal die labilen und mutlosen Schüler immer wieder auch ohne deren Lust, gelegentlich gar gegen ihren Willen, verständnisvoll aber quasi unerbittlich, an Belastungen und mögliche Mißerfolge heranzuführen und scheinbar bedrohliche Lernsituationen auszuhalten, so würden diese in ihrer Ängstlichkeit belassen oder gar bestärkt. Schulisches Lernen kann also gar nicht nur Spaß machen – aber gerade hierin liegt entwicklungspsychologisch betrachtet ein erhebliches Förderpotential:
•Erfahrungen des (Noch-)Nicht-Könnens muß das Kind nicht gekränkt und resignierend verbuchen, sondern kann sie konstruktiv verarbeiten – das wäre dann psychische Reifung.
•Misserfolgsängste kann es als unbegründet, Ausweichverhalten als unnötig erfahren – so käme es zu nachhaltiger Ermutigung.

So förderlich die Konfrontation mit Schwierigkeiten und Mißerfolgen für Heranwachsende auch ist, sie wird von diesen keineswegs immer angenehm erlebt: Was de facto eine Chance ist, mag zunächst als Plage empfunden werden. Gute Lehrer sind deshalb darauf gefasst, daß sie – wenn sie den Unterricht unmißverständlich leiten und Regelverstöße spürbar sanktionieren – auch Ablehnungsgefühle oder gar Wut auf sich ziehen. Und sie sind bestrebt, solche Entwertungsversuche der Schüler nicht zurückschlagend zu beantworten, sondern gelassen zu ihren Erwartungen zu stehen. Denn dadurch vermitteln sie den Heranwachsenden – über den Lernfortschritt hinaus – eine wichtige zwischenmenschliche Erfahrung: daß nämlich ihr Gegenüber auch in Konflikten verläßlich für sie bleibt.

So gesehen wäre der Ruf nach mehr Strenge im Klassenzimmer kein Plädoyer für Härte, Schroffheit oder Tortur, sondern lediglich gegen modische Unverbindlichkeit. Im Kern geht es ‘nur’ um die konsequente Anleitung und Unterstützung bei der Überwindung von Lernschwierigkeiten. Also darum, Lernprozesse mit all ihren Widrigkeiten besonnen (d.h. unbeirrt von den individuellen Affekten der Schüler) und selbstbewußt (d.h. im Wissen um das sachlich Gebotene) zu leiten. Dazu gehört auch, daß man sich nicht in Kämpfe mit rebellierenden oder auch nur ausweichend argumentierenden Jugendlichen verwickeln läßt, sondern eine Art humorvolle Distanz hält. Klar, aber cool – so könnte man die Devise zuspitzen.

Die Forderung nach mehr guter Autorität zu erheben, heißt ein weiteres ideologisiertes pädagogisches Ideal deutlich zu relativieren, das der Selbstbestimmung. Bemerkenswerterweise sind es die jungen Menschen selbst, die hierzulande in Umfragen das Bedürfnis artikulieren, ihre Eltern möchten „ruhig etwas strenger sein“. Und die in der Schule diejenigen Lehrer am meisten schätzen, die den Unterricht nicht nur interessant, verständlich und humorvoll, sondern eben auch „mit einer gewissen Strenge“ gestalten. Heranwachsende finden es also offenbar wichtig, dass Erzieher Regeln nicht nur aufstellen und erklären, sondern sie auch durchsetzen und – wenn nötig – Überschreitungen angemessen ahnden. Die Jugend selbst plädiert mithin für eine behutsame Rehabilitierung von Disziplin – oder gar Strafe.

Soweit ist es also gekommen, daß die jungen Bäumchen dem Gärtner sagen müssen, er solle sie vorübergehend und rindenschonend anbinden! Kein Wunder, schließlich hatte die pädagogische Debatte der letzten Jahrzehnte alles, was mit Zwang, Kontrolle oder äußeren Anforderungen zu tun hatte, ausgeblendet oder verteufelt – eine Art antifaschistischer Kurzschluß. Grenzen zu setzen war verpönt, auf Konflikte wurde verzichtet, Konkurrenzerleben und Enttäuschungen galt es zu vermeiden. Die Folgen waren bekanntlich nicht ganz nach Wunsch. „Narziß und Schmollmund“ nannte der Spiegel im vergangenen Jahr die typischen Vertreter der neuen Jugend – überaus selbstbezüglich, lange ziellos, schnell unzufrieden. Die pauschale Kritik der Disziplin müssen wir heute teuer bezahlen – mit den vielfältigen Opfern der Disziplinlosigkeit. Erziehung ohne Grenzen hat in der Regel eben nicht zu unbegrenzten Fähigkeiten geführt, sondern mündete allzuschnell in grenzenlose Gewalt.

In dieser Hinsicht steht Umkehr umso dringender an, als unsere Gesellschaft in weiten Teilen recht vaterlos (oder zumindest vaterarm) geworden ist. Damit sind nicht nur die vielen alleinerziehenden und mehrfachbelasteten Mütter gemeint, sondern auch die noch zahlreicheren verunsicherten Väter – und in einem übertragenen Sinne all’ die erzieherischen Einflußfaktoren, die man früher einmal väterlich nannte, und die etwas mit Grenzsetzungen, Entbehrungen und Herausforderungen zu tun haben. Dabei ist – die Beispiele haben es gezeigt – maßvolle erzieherische Strenge etwas, das Heranwachsenden hilft, eigene Stärke zu entwickeln! Pädagogische Strenge als Entwicklungshilfe – ein für viele heute ketzerischer, gleichwohl unbedingt zu aktualisierender Gedanke. Und er paßt so gut zur alten Hauptbedeutung des Wortes, die keineswegs anrüchig ist, sondern Eigenschaften wie stark, tapfer oder tatkräftig bezeichnet.

Auch der weithin geschätzte Hartmut von Hentig hat sich übrigens vor nicht allzulanger Zeit öffentlich zum Thema Strenge geäußert: Er finde „das Gerede von der notwendigen Strenge schlichtweg dumm“. Das war ein wenig mißverständlich für diejenigen, die von Hentig nur aus Reden und Schriften kennen. Dabei hat seine Schulpraxis immer deutlich werden lassen, daß er selbst Momente des Wohlwollens und des Anspruchs, aber eben auch der Disziplin in glücklicher Ausgewogenheit verkörperte. Insofern war es gut, daß ihm eine Kollegin in einem offenen Brief deutlich widersprach, ihr Kernsatz lautete: „Wer erzieht, ist mitunter unbequem – also auch schon ‘mal unbeliebt!“

Das ist es, was wir als Erzieher vielleicht am ehesten verlernt haben: Mit Gelassenheit gelegentlich unbeliebt zu sein bei den zu Erziehenden. Ein Großteil der 68er-Generation hat allen möglichen Autoritäten Widerstand geschworen, kann aber Kindern oft nur wenig entgegensetzen. Das ist es aber, was gute Eltern und gute Lehrer neben der liebevollen bzw. fachlichen Zugewandtheit auch besitzen müßten: eine gewisse Unabhängigkeit von den lieben Kleinen und Großen. Gut Freund sein mit Kindern, das ist eine schöne Seite der pädagogischen Medaille – ihr standfestes Gegenüber bleiben aber die wichtige andere. Erst aus dieser Ambivalenz können Tugenden erwachsen.

Das pädagogische Lagerdenken überwinden

Haben wir also auf breiter Front verlernt zu erziehen? Wir haben gesehen, daß die Antwort vielfältige Facetten besitzt. Wenn Sie sich nur zwei Dinge heute abend merken wollen, dann vielleicht diese: Wir tun uns einerseits nicht leicht damit, wirkliche Nähe zu unseren Kindern herzustellen, also mitzubekommen wie es ihnen tatsächlich geht. Und noch viel schwerer fällt es uns, einen Gegensatz zu ihnen ruhig auszuhalten, also ihren Ärger oder ihr Wehklagen. Wer aber gerne ein wenig mehr mitnehmen möchte, dessen Resümee könnte sein: In dreifacher Hinsicht sollten wir unseren Umgang mit Kindern und Jugendlichen neu akzentuieren: Mehr Aufmerksamkeit! Mehr Herausforderungen! Mehr Autorität! Diese Formel sollte nicht als Plädoyer für eine neue „Durchgriffsmentalität“ verstanden werden. Sie ist allerdings eine entschiedene Absage an pseudomoderne „Identifizierungsgesinnung“, diese historisch verständliche, mittlerweile aber überholte, und heute geradezu gefährliche Überreaktion auf pädagogische Ideologien aus Kaiserzeit und Nazistaat.

Nicht nur die Schwarze Pädagogik hat sich an vielen Kindern vergangen, indem sie deren Individualität nicht respektierte und deren Willen zu brechen suchte. Auch viele Auswüchse der Reformpädagogik haben der Jugend nicht gut getan: Erwachsene haben sich aus der Erziehung zu sehr zurückgezogen und die Jugend damit fragwürdigen Kräften in peer-group und Medienwelt ausgeliefert. Wer zu früh allein gelassen wird, ist aber schlichtweg überfordert. Und genau das ist die heikle Grundbefindlichkeit vieler Heranwachsender heute: Sie fühlen sich einsam, ohne Ziel, nicht gebraucht. Projekte aller Art – in der Schule, in der Jugendarbeit – können diese Grundstimmung punktuell übertünchen, nicht aber grundsätzlich beheben. Drogen aller Art präsentieren sich genau hier als Scheinlösung – und haben eben deshalb Hochkonjunktur. ‘Verweigerte Erziehung’ hat eben unweigerlich Folgen. Die Spitze dieses Eisbergs haben uns Pisa und Erfurt gezeigt.

Die Zeit drängt also, aus Hitlers langem Schatten über der Pädagogik herauszutreten. Und dabei steht weitaus mehr als nur unser pädagogisches Eros auf dem Spiel: Erstens geht es keineswegs nur darum, daß unsere Kinder und Jugendlichen heute zufriedener sein und bessere Noten oder Arbeitsplätze bekommen können. Sie sollen auch uns zur Seite stehen können, wenn wir einmal hilfsbedürftig geworden sind, sei es durch ihre Sozialversicherungsbeiträge, sei es durch pflegende Betreuung. Eine Generation aber, die etwa nicht gelernt hätte sich anzustrengen, würde ihre gealterten oder gebrechlichen Vorfahren nur ungerne lange durchfüttern wollen, ob nun die eigenen Eltern zu Hause oder fremde alte Menschen im Krankenhaus. Zweitens ist uns vermutlich auch der Fortbestand demokratischer Zustände in unserem Land nicht gleichgültig: Ein freiheitlicher Rechtsstaat kann aber nur bestehen, wenn seine Mitglieder gelernt haben, vernünftige Regeln zu akzeptieren, auch wenn sie ihnen einmal nicht in den privaten Kram passen.

Sie werden es gemerkt haben: Worüber ich heute zu Ihnen gesprochen habe, das war auch der Versuch, das Lagerdenken zwischen vermeintlich altbackener und angeblich moderner Erziehung zu überwinden – antiautoritäre Verwahrlosung also zu vermeiden, ohne in autoritäre Härte zurückzufallen. Man könnte das vielleicht als den dritten Weg in der Pädagogik bezeichnen. Ich danke Ihnen, daß Sie mir so aufmerksam auf diesem gefolgt sind.

Literaturhinweise:
Adler, Alfred: Kindererziehung. Frankfurt 1976
Ahrbeck, Bernd: Konflikt und Vermeidung. Psychoanalytische Überlegungen zu aktuellen Erziehungsfragen. Neuwied 1997
Bergmann, Wolfgang: Gute Autorität. München 2002
Biddulph, Steve: Das Geheimnis glücklicher Kinder. München 1999
Biddulph, Steve: Jungen! Wie sie glücklich heranwachsen. München 1998
Bröckelmann, Wilfried und Felten, Michael: „Sind Sie streng?“ Zum Wandel von Abstand und Differenz in pädagogischen Beziehungen. In: Pädagogik, Heft 11/2002, S. 23-26
Elschenbroich, Donata (Hrsg.): Anleitung zur Neugier. Grundlagen japanischer Erziehung. Frankfurt 1996
Elschenbroich, Donata: Weltwissen der Siebenjährigen. Wie Kinder die Welt entdecken können. München 2001
Felten, Michael: Kinder wollen etwas leisten. Wie Eltern und Lehrer sie dabei unterstützen können. München 2000
Felten, Michael (Hrsg.): Neue Mythen in der Pädagogik. Warum eine gute Schule nicht nur Spaß machen kann. Donauwörth 1999, 2. Auflage 2001
Frech-Becker, Cornelia: Fördern heißt Fordern. Frankfurt 1995
Gaschke, Susanne: Die Erziehungskatastrophe. Kinder brauchen starke Eltern. München 2001
Giesecke, Hermann: Pädagogische Illusionen. Lehren aus 30 Jahren Bildungspolitik. Stuttgart 1998
Giesecke, Hermann: Wozu ist die Schule da? Die neue Rolle von Eltern und Lehrern. Stuttgart 1996
Ladenthin, Volker: Vorläufige Bemerkungen zur Schuldisziplin. In: Engagement, Heft 1/2002, S. 25 – 30
Myhre, Reidar: Autorität und Freiheit in der Erziehung. Stuttgart 1991
Rehfuß, Wulff D.: Bildungsnot. Hat die Pädagogik versagt? Die Fehler von gestern und die Aufgaben von morgen. Stuttgart 1996, 2. Auflage 1997
Schwarz, Bernd und Prange, Klaus (Hrsg.): Schlechte Lehrer/innen. Weinheim 1997
Wunsch, Albert: Die Verwöhnungsfalle. München 1999
Wunsch, Albert: Abschied von der Spaßpädagogik. München 2003
Ziehe, Thomas: Schule und Jugend – ein Differenzverhältnis. In: Neue Sammlung, Heft4/1999, S. 619-629

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Dr. Heinrich Dickerhoff im “Handruper Forum”

„Wie konnte ich vergessen, dass ich ein Königskind bin?“

Zum Referenten:
Dr. Heinrich Dickerhoff
Präsident der Europäischen Märchengesellschaft, Cloppenburg

„Wir Menschen sind die einzigen Lebewesen auf dieser Erde, die mit offenen Fragen leben. Wozu bin ich da? Was bleibt von mir und von denen, die mir lieb sind? Weil uns unser Leben nicht selbstverständlich ist, darum müssen wir Antworten entwerfen auf die großen Fragen, die uns weder die Natur noch unser logisches Denken beantworten können.
Religion wie Kunst zeigen solche Sinn-Entwürfe. Mir ist die christliche Glaubenstradition der entscheidende Lebens-Schlüssel, aber wichtig ist mir auch die zu Märchen verdichtete Lebensweisheit. Und Evangelium wie Märchen fordern uns heraus, Lebens-Künstler zu werden, unserer Sehnsucht mehr zu glauben als unserer Verzweiflung. Du bist erwünscht, sagen sie, du wirst erwartet. Also geh!“

(H. Dickerhoff)

Dr. Heinrich Dickerhoff

Am 12. Dezember 2002 fand in der Aula des Gymnasiums Leoninum Handrup das 12. „Handruper Forum“ statt, welches sich diesmal allerdings in einer ganz außergewöhnlichen Weise ereignete.

Mit Herrn Dr. Heinrich Dickerhoff, dem Präsidenten der Europäischen Märchengesellschaft, konnte ein Referent gefunden werden, der die zahlreichen Zuhörer mit einer beeindruckenden Auswahl von Märchen Perspektiven für ein gelingendes Miteinander der Generationen im Erziehungsprozess veranschaulichen konnte. Mit seinem „Programm“ „Wie konnte ich vergessen, dass ich ein Königskind bin?“ – Wie Märchen uns erinnern an das richtige Leben versetzte Dr. Dickerhoff die Besucher in die Welt der Märchen, in der oftmals Unausgesprochenes auf einfache und anschauliche Weise zum Ausdruck gebracht werden kann.

Auf unkonventionelle Art und oft mit einer Harfe untermalend verstand es Dr. Dickerhoff, sein Publikum zu fesseln, zu begeistern und der Suche nach dem eigenen „Ich“ und „Wir“ neue Impulse zu geben. Seine bildhafte Vortragsweise vermittelte anschaulich Glaubensinhalte und regte zum Nachdenken über sich selbst und die Beziehungen zu den Mitmenschen an. Beispielhaft zeigte er auf, was Märchen vom Wesen und Weg der Menschen erzählen, wie die Gute Nachricht in und mit Märchen zu entdecken ist.

In der adventlich dekorierten Aula des Gymnasiums Leoninum in Handrup tauchten die Besucher in eine Welt der leisen Farben ein, um voller Spannung zuzuhören und Anregungen für das familiäre Miteinander herauszufiltern.

Stellvertretend für seine eindrucksvolle Auswahl an Märchen aus aller Welt drucken wir das chinesische Rosenmärchen „Die blaue Rose“ ab, in dem deutlich wird, dass die Liebe über allem steht:

Die blaue Rose
(Chinesisches Rosenmärchen)

Der Kaiser von China hatte eine Tochter, die war schön und sehr klug – und sehr, sehr eigenwillig: was sie nicht wollte, das wollte sie nicht. Und heiraten, heiraten wollte sie ganz gewiß nicht. Am Hof und im ganzen Reich wurde darüber schon getuschelt: „Sie nimmt keinen Mann. Sie will keinen Mann! Was mag da nur los sein? Ist sie zu stolz? Oder kann sie nicht lieben? Oder ist sie am Ende gar verhext?“
Ihr Vater, der Kaiser, drängte sie darum jeden Tag, doch einen Ehemann zu nehmen, und endlich sagte sie: „Also gut, ich werde heiraten – aber nur den, der mir eine blaue Rose bringt“.
Da rief der Kaiser alle großen und wichtigen Männer des Reiches in seinen Palast, und sagte, derjenige solle seine einzige Tochter zur Frau bekommen, der ihr eine blaue Rose bringe.
„Eine blaue Rose? Eine blaue Rose! Hat man davon je gehört?!“ Die Freier murmelten und murrten und machten sich davon. Und nur drei blieben übrig:
der erste ein großer Kriegsheld,
der zweite ein reicher Kaufmann,
der dritte ein Gelehrter, bewandert in allen Wissenschaften und in der schwarzen Kunst der Hexerei.
Und die versprachen nun alle drei, in dreißig Tagen zurückzukommen mit einer blauen Rose.
Der Kriegsheld rüstete sich und zog mit hundert Kampfgefährten gegen ein benachbartes Königreich, das war berühmt für seine Schätze. Und dem König des Reiches ließ er sagen:
„Ich werde dich vom Thron stürzen und dein Reich zerstören, wenn du mir
nicht eine blaue Rose bringst!“ Der König erschrak, und mit ihm sein Reich,
und seine Diener und Ratgeber überlegten hin und her, bis endlich einer in einer Schatzkammer einen großen blauen Edelstein fand, einen gewaltigen Saphir. Den brachte man zu einem Edelsteinschleifer, der schnitt daraus eine blaue Rose, die gab man dem fremden Krieger, und der zog zufrieden ab.
Der Kaufmann durchforschte all seine Lager und Speicher und ließ auf allen Märkten im Inland und Ausland fragen, ob eine blaue Rose zu kaufen wäre – aber sie war für Geld nicht zu haben. Da erstand er für ein Vermögen eine Schale aus Porzellan, zart wie ein Posenblatt,
und vom besten und teuersten Maler des Reiches ließ er da hinein eine blaue Rose malen.
Der Gelehrte ging in sein Haus, schloß sich ein in der innersten Kammer, schlug nach in den uralten Büchern, fand die geheime Formel, mischte seltsame Kräuter und Pulver, kochte daraus einen blauen Sud, stellte eine weiße Rose hinein – und die weiße Rose färbte sich blau!
Nach dreißig Tagen kamen die drei zum kaiserlichen Palast; verneigten sich vor dem Kaiser und vor seiner Tochter, dann trat der Krieger vor und gab der Prinzessin die Edelsteinrose.
„Das ist keine blaue Rose,“ sagte die Prinzesssin, „das ist ein Saphir,
und davon hab ich mehr als genug.“
Da trat der Kaufmann vor und reichte ihr die Rose aus Porzellan.
„Wie schön, wie wunderschön,“ sagte die Prinzessin.
„Sollte ich jemals wirklich eine blaue Rose bekommen, so will ich sie nur in diese Vase stellen.“
Da trat der Gelehrte vor und gab ihr die Zauberrose. Die Prinzessin nahm sie, besah sie von allen Seiten, ging damit zum geöffneten Fenster – da flog ein Schmetterling herein, setzte sich auf die Rose und fiel im Augenblick wie tot zu Boden. „Das ist keine blaue Rose“, rief die Prinzessin, „das ist Gift und Betrug und Hexerei!“
Am Abend dieses Tages ging sie durch den Garten des kaiserlichen Palastes. Da hörte sie von jenseits der Mauer eine wunderschöne Melodie, und jemand sang dazu von der Schönheit und von der Liebe und von der Sehnsucht. Sie stieg auf einen Gartenstuhl, schaute über die Mauer und erblickte einen jungen Spielmann.
„Wie schön ist dein Lied, Fremder,“ sagte sie.
„Viel schöner ist dein Gesicht, Fremde,“ sagte er.
Und die Luft war süß und der Mond schien wie Silber und sie blieben sich nicht lange fremd, denn ihre Herzen fanden zueinander.
„Du bist der erste Mann, den ich lieben kann,“ sagte die Tochter des Kaisers, „doch ich kann dich nicht heiraten,
denn ich habe erklärt, ich würde nur den zum Mann nehmen, der mir eine blaue Rose bringt.
Und das Wort der Tochter des Kaisers ist wie ein Gesetz.“
„Ach, wenn es mehr nicht ist!“, sagte der Spielmann, „morgen früh komm ich zu dir in den Palast mit einer blauen Rose.“
Am andern Morgen ging der Spielmann zum Palast, und unterwegs pflückte er am Straßenrand eine weiße Rose.
Und er trat vor den Kaiser und seine Tochter, verneigte sich und gab der Prinzessin die Blume, die er in der Hand hielt. Die nahm die Blume und sah den Spielmann an und sagte, ja, genau so eine blaue Rose habe sie sich immer gewünscht. Und weil das Wort der Tochter des Kaisers wie ein Gesetz ist, darum sagte ihr Vater:
„Sie hat es gesagt, die Rose ist blau, und damit wird sie jetzt deine Frau!“ Und sie heirateten und wurden sehr glücklich und bekamen viele Kinder.
Und im Garten ihres Palastes blühten tausende weiße Rosen, aber sie nannten ihn nur – unsern blauen Garten.

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Prof. Dr. Ludwig Hagemann im “Handruper Forum”

Der Islam – Was der Westen lernen muss

Zum Referenten:
Prof. Dr. Ludwig Hagemann
Lehrstuhl für Systematische Theologie und
Religionsgeschichte an der Universität Mannheim

(Zu diesem Abend existieren nur mehr Manuskripttexte)

Begrüßung durch P. Dr. H. Wilmer SCJ, Schulleiter

Sehr geehrte Damen und Herren!
Sehr geehrte Eltern!
Liebe Schülerinnen und Schüler!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Mitbrüder!

Seit einigen Jahren ist das „Handruper Forum“ eine feste Größe im Schulalltag des Gymnasiums Leoninum. Ziel ist es, Schüler, Eltern, Lehrer und Öffentlichkeit zu einer aktuellen und relevanten Thematik ins Gespräch zu bringen.

Für die diesjährige Winterveranstaltung haben wir ein politisch-religionswissenschaftliches Thema gewählt und für heute Abend Herrn Professor Dr. Ludwig Hagemann gewinnen können. Professor Hagemann ist Ordinarius für Systematische Theologie und Religionsgeschichte an der Universität Mannheim. Er stammt gebürtig aus Niederlangen im Emsland und studierte nach dem Abitur in Meppen Philosophie und Theologie, Arabistik und Islamwissenschaft in Frankfurt, Tübingen, Münster, Beirut und Kairo. Zwischen seinem ersten Buch „Der Koran in Verständnis und Kritik bei Nikolaus von Kues“ und seinem jüngst erschienen Werk „Christentum contra Islam – Eine Geschichte gescheiterter Beziehungen“ gab es zahlreiche Veröffentlichen, die zum Teil auch in mehrere Sprachen übersetzt worden sind.

Herr Professor Dr. Hagemann, wir sind froh und stolz, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind und ich heiße Sie hiermit sehr herzlich willkommen.

Ebenfalls begrüße ich die Herren Stadt- und Samtgemeindedirektoren sowie die Bürgermeister des Einzugsgebietes der Schule. In diesem Zusammenhang heiße ich die Bürgermeister unserer Samtgemeinde Lengerich herzlich willkommen. Stellvertretend für sie begrüße ich unseren Bürgermeister aus Handrup, Herrn Josef Stockel.

Mein Willkommensgruß gilt den Abgeordneten aus dem Kreistag, aus dem Landtag und aus dem Bundestag. Ich freue mich über die Anwesenheit unseres ehemaligen Dezernenten der Bezirksregierung Weser Ems, Herrn Claus Lanfermann. Die Mitglieder des Rotary-Clubs Lingen heiße ich ebenfalls herzlich willkommen.

Herzlich begrüße ich auch den Rektor des Herz-Jesu-Klosters, Pater Johannes Strieker, die Dechanten und Pastöre aus den umliegenden Pfarreien, sowie die Schwestern und Mitbrüder. Besonders freut es mich, in diesem Zusammenhang auch unsere muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger zu begrüßen, mit denen uns der Glaube an den einen Gott, den Schöpfer und Erhalter der Welt, vereint.

Willkommen heiße ich alle Eltern, die Ehemaligen unserer Schule, alle Schülerinnen und Schüler, Kolleginnen und Kollegen sowie die Vertreter der Presse. Stellvertretend für die Presse begrüße ich Herrn Willy Rave sehr herzlich.
Zu danken habe ich seinem Sohn, Herrn Hermann-Josef Rave, Lehrer für Englisch und katholische Religion am Gymnasium Leoninum. Sie, Herr Rave, hatten die Idee und stellten die Kontakte zu Herrn Professor Hagemann her. Für Ihre Vermittlertätigkeit herzlichen Dank!
An dieser Stelle möchte ich einem weiteren Kollegen sehr herzlich danken, der sich seit langem mit großem Einsatz für ein regelmäßiges Zustandekommen des Handruper Forums engagiert hat, nämlich Herrn Studiendirektor Paul Wöste. Herzlichen Dank für die Mühe!

Herr Professor Hagemann, wir haben uns nach dem 11. September in Handrup bewusst für dieses Thema entschieden, weil wird der Überzeugung sind, dass wir erst dann einander Nächste werden, wenn wir bereit sind, die Straße zu überqueren, aufeinander zuzugehen. Es gibt zu viele Trennungslinien zwischen linkem und rechtem Straßenrand: zwischen schwarzen und weißen Menschen, zwischen Jungen und Alten, Kranken und Gesunden, zwischen Menschen in Südamerika und Menschen in Europa, zwischen Juden und Heiden, Muslimen und Christen. Es gibt viele Straßen und Trennungslinien, die überquert werden müssen. Wir sind viel mit uns beschäftigt und sehen nicht bis zum anderen Straßenrand. Wir haben unsere eigenen Leute, zu denen wir gehen und unsere eigenen Angelegenheiten, um die wir uns kümmern. Dieser Abend soll dazu dienen, die Straße zu überqueren, den Blick hoch zu nehmen und danach zu schauen, was auf der anderen Seite passiert, damit wir einander Nächste werden.

Uns allen wünschen ich zum Vortrag „Was der Westen über den Islam lernen muss“ einen anregenden Abend, Herr Professor Hagemann, Sie haben das Wort.

Prof. Dr. Ludwig Hagemann



Vortrag Prof. Dr. Ludwig Hagemann
„Der Islam – Was der Westen lernen muss“

Gliederung des Vortrags:

1. Die Idee der Einheit als Fundament des Islam

a) Die Religion als staatstragende Kraft

b) Ein Gott – eine Religion – eine Gesellschaft

2. Das zentrale Glaubensbekenntnis

a) „Es gibt keine Gottheit außer Gott“
•Zur religiösen Situation auf der arabischen Halbinsel im 7. Jahrhundert n. Chr.
•Wider den altarabischen Polytheismus
•Widerstand gegen Juden und Christen
•Gottes Transzendenz und Immanenz

b) „ … und Muhammad ist sein Gesandter“
•Charisma und Macht
•“Siegel der Propheten“ (Koran 33,40)

3. Der Koran: Gottes letztes Wort
•Inlibration: Buchwerdung von Gottes Wort
•Die „Entwestlichung des Wissens“

4. „Dir sind wir ergeben“

Vortragstext:

1. Die Idee der Einheit als Fundament des Islam

a) Die Religion als staatstragende Kraft

„Nur unwissende Frömmler“, so predigte einst Ayatollah Khomeiny vor dem Hadjdj, der alljährlichen Wallfahrt nach Mekka, „nur unwissende Frömmler sehen im Hadjdj eine Zeit des Gebetes und der frommen Riten. Nur diese meinen, der politische Kampf gegen Frevler und Tyrannen entweiht das Gotteshaus“ (1). Damit hatte Khomeiny etwas ausgesprochen, was für den Islam von seinem Ursprung, seinem Selbstverständnis und Anspruch her typisch ist: die innere Verflechtung von Religion und Politik mit ihren Auswirkungen auf Tagespolitik, Lebensordnung und Lebensgestaltung(2). Religion ist also nie Privatsache, vielmehr Politik tragende und sie inspirierende Kraft. Sie prägt nicht nur das Individuum, sondern auch die Gesellschaft, sie ist staatstragende Kraft. Der Islam als die Religion der bedingungslosen Hingabe an Gott, der vorbehaltlosen, totalen Unterwerfung unter seinen Willen, – das sagt ja das Wort „Islam“ – der Islam beansprucht nämlich, den ganzen Menschen in allen Bereichen seines Lebens zu erfassen und durch Vorschriften und Verhaltensmuster zu regeln. Die islamische Lebensordnung beinhaltet nicht nur verbindliche Glaubenssätze, sondern ebenso sittliche Gebote und Verbote als Norm des Handelns, ferner das Leben des Einzelnen, der Familie und der Gemeinschaft normierende Weisungen sowie die verschiedenen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und der internationalen Beziehungen regelnde gesetzliche Bestimmungen. Allen diesen Vorschriften hat sich der Mensch in unbedingtem Gehorsam gegenüber dem souveränen Willen Gottes zu unterwerfen, sie als gottgewollte Normen und Verpflichtungen anzunehmen und zu erfüllen. Denn: „Gott sagt die Wahrheit, und Er führt den (rechten) Weg“ (Koran 33,4)(3). Er ist der sicherste Garant für die beste Rechtleitung der Gläubigen.

b) Ein Gott – eine Religion – eine Gesellschaft

Die Idee der Einheit als Fundament des Islam spiegelt sich in der offenbarungstheologischen Konzeption des Korans wider. Alle Propheten, so die Auffassung, verkünden grundsätzlich ein und dieselbe Botschaft: „Es gibt keinen Gott außer mir. Dienet mir!“ (Koran 21,25)(4). Diese Botschaft richtet sich an alle Völker ohne Ausnahme, denn zu jedem Volk hat Gott Propheten gesandt (Koran 16,36). Die zu allen Zeiten in sich identische Botschaft der Propheten hat ihren Grund in der Einheit und Einzigkeit Gottes. Weil Gott einer ist, kann es nur eine einzige Offenbarung geben, deren Selbigkeit Gott garantiert. Ihrerseits steht sie ganz im Dienst an der Einheit der Menschheitsfamilie. Ursprünglich waren die Menschen nämlich eine im Glauben und im Gehorsam geeinte Gemeinschaft. Aber im Laufe der Zeit hat sich diese Menschheitsgemeinschaft aufgrund des Unglaubens der späteren Generationen in verschiedene Gruppierungen und Parteiungen zerspalten. Aufgabe der Propheten ist es nun, zu dieser ursprünglichen Einheit zurückzuführen: Einheit Gottes – Einheit der Religion – Einheit der Gesellschaft. Diesem Anliegen dienten Mose, der Verkünder der Thora, und Jesus, der Verkünder des Evangeliums. Dementsprechend sah Muhammad seine Botschaft in Kontinuität stehen mit eben diesen früheren Offenbarungsschriften Thora und Evangelium (Koran 6,92; 3,84). Die Einheit der göttlichen Offenbarung wird durch die Vielheit der Offenbarungsschriften – Thora, Evangelium, Koran – nicht gefährdet oder geschmälert, sondern durch ihre inhaltliche Identität nachdrücklich bestätigt. Weil Gottes Offenbarung grundsätzlich immer ein und dieselbe ist, gibt es letztlich auch nur eine sich auf verschiedenste Weise explizierende Religion. Diese Einheit der Religion gilt es zu wahren: „Er hat euch als Religion verordnet, was Noah aufgetragen hat, und was Wir dir offenbart haben, und was Wir Abraham, Mose und Jesus aufgetragen haben: Haltet die (Bestimmungen der) Religion ein und bringt keine Spaltungen hinein …“ (Koran 42,13). Denn – so heißt es im Koran: „Gott ist unser und euer Herr“ (Koran 42,15) und: „Unser Gott und euer Gott ist einer“ (Koran 29,46).

2. Das zentrale Glaubensbekenntnis

a) „Es gibt keine Gottheit außer Gott …“

Die Mitte, das Herz des Islams, ist der Glaube an Gott: „Ich bezeuge: Es gibt keine Gottheit außer Gott …“, so lautet der erste Teil des islamischen Glaubensbekenntnisses.
Von Gottes Einheit und Einzigkeit Zeugnis abzulegen, gehört zu den Grundpflichten eines Muslims. Dieses Glaubenszeugnis ist ein Widerhall von Gottes Zeugnis selbst: „Gott bezeugt, daß es keinen Gott gibt außer Ihm“, heißt es in Koran 3,18. Gott selbst steht also ein für die Wahrheit des monotheistischen Glaubens. Festgeschrieben im Koran, dem hl. Buch der Muslime, begleitet diese Wahrheit die Muslime durch ihr ganzes Leben, beginnend mit der Geburt, wenn dem Neugeborenen diese Wahrheit ins Ohr geflüstert wird, bis hin zum Tod, wenn der Sterbende zum letzten Mal diese Wahrheit auszusprechen in der Lage ist.

• Zur religiösen Situation auf der arabischen Halbinsel im 7. Jahrhundert n. Chr.
Dieser Glaube an den einen und einzigen Gott ist das Ergebnis einer allmählichen Entwicklung innerhalb der Lebensgeschichte des arabischen Propheten Muhammad(5). Um 570 n. Chr. in Mekka im heutigen Saudi-Arabien geboren, wuchs Muhammad in einem polytheistischen Milieu auf. Die religiöse Situation auf der arabischen Halbinsel war zu seiner Zeit vornehmlich von folgenden Faktoren beeinflusst:

– Da war zunächst die altarabische Religion mit ihrer Götter-, Ideen- und Vorstellungswelt, die das tägliche Leben prägte: Im Wesentlichen handelte es sich um Lokalnumina (Lokalgottheiten); al-Lât, Manât und al-cUzzâ, die auch im Koran erwähnt sind (53,19-20), sind als weibliche Gottheiten neben Hubal als männlichem Stammes- oder Stadtgott in Mekka die bekanntesten. Mittelpunkt des religiösen Lebens in Mekka war die Kacba, die als Sitz der Gottheiten galt. An der Spitze dieses altarabischen Polytheismus stand eine Art „Hochgott“, Allâh (al-ilah); dass er den Arabern schon vor Muhammads Verkündigung bekannt war, erhellt aus dem Koran: „Und wenn du sie (die Ungläubigen) fragst, wer die Himmel und die Erde erschaffen und die Sonne und den Mond dienstbar gemacht hat, sagen sie bestimmt: ‚Gott‘ [Allâh] … Und wenn du sie fragst, wer Wasser vom Himmel herabkommen läßt und die Erde damit nach ihrem Absterben belebt, sagen sie bestimmt: ‚Gott‘ [Allâh] … Wenn sie in ein Schiff einsteigen, rufen sie Gott [Allâh] an, wobei sie Ihm gegenüber aufrichtig in der Religion sind. Kaum hat Er sie ans Land errettet, da gesellen sie (Ihm wieder andere) bei …“ (Koran 29,61-65). Koran 12,106 formuliert kurz und präzise: „Und die meisten von ihnen glauben nicht an Gott [Allâh], ohne (Ihm andere) beizugesellen.“ Daraus lässt sich schließen, dass sich der Glaube an Allâh als höchsten Gott weithin durchgesetzt hatte. Aber wie die Hochgötter anderer Religionen war Allâh in weite Ferne entrückt und spielte immer weniger eine bestimmende Rolle im täglichen Leben. Dafür waren gleichsam die alten Lokal- und Stammesgottheiten zuständig.

– Daneben gab es aber auch noch andere religiöse Einflüsse, die im Koran ihre Spuren hinterlassen haben. Die im vorislamischen Zentralarabien bestehenden jüdischen Siedlungen – in Medina machten die Juden etwa die Hälfte der Einwohnerschaft aus – hatten bereits eine lange Geschichte hinter sich, so dass jüdisches Gedankengut zwangsläufig auf die damalige Umwelt Einfluss nehmen musste(6).

– Als dritter Faktor sind die Christen zu nennen – Monophysiten, Nestorianer, Sektierer , die mit ihren Glaubensvorstellungen nicht ohne Wirkung auf den Koran geblieben sind.

So hat vor allem also religiöses Gedankengut von Palästina, Syrien und Irak aus bei der grenznahen arabischen Bevölkerung Eingang und Anklang gefunden und ist von dort immer weiter, jedoch mit abnehmender Intensität, nach Innerarabien durchgesickert. Im Großen und Ganzen handelt es sich dabei um Ideen und Vorstellungen christlicher und jüdischer Herkunft.

•Wider den altarabischen Polytheismus
Parallel zu der ständig verfochtenen Behauptung, es gebe nur einen Gott, verwarf Muhammad die Vorstellung von der Teilhaberschaft Gottes, d.h. Gott andere Nebengötter beizugesellen (shirk). Diejenigen, die Gott Teilhaber zuschrieben („beigesellen“), wurden als mushrikûn bezeichnet, als Ungläubige; sie – so heißt es – begehen eine unverzeihliche Sünde. „Gott vergibt nicht, daß Ihm beigesellt wird, und Er vergibt, was darunter liegt, wem Er will. Und wer Gott (andere) beigesellt, hat eine gewaltige Sünde erdichtet“ (Koran 4,48).
Die Vorstellungen der Polytheisten, ihre Idole und Götzen, sind immer wieder Zielscheibe der Kritik Muhammads. Darüber hinaus ging er aber auch gegen das christliche Trinitätsverständnis vor. Ich will den Zusammenhang kurz erläutern.

•Widerstand gegen Juden und Christen
Enttäuscht darüber, dass weder Juden noch Christen seine unerschütterliche Überzeugung von der inhaltlichen Identität aller Offenbarungsreligionen akzeptierten und zum Islam konvertierten, änderte Muhammad seine Haltung gegenüber den „Schriftbesitzern“
(ahl al-kitâb). Verschiedene Einwände erhob er gegen sie:

(1) Der Vorwurf der Schriftverfälschung: tahrîf. Muhammad selbst hat Juden und Christen vorgeworfen, den ursprünglich von ihnen richtig erfassten Sinn der Schrift (Thora, Evangelium) entstellt zu haben: „Erhofft ihr etwa, dass sie (die Juden) mit euch glauben, wo doch ein Teil von ihnen das Wort Gottes hörte, es aber dann wissentlich entstellte, nachdem er es verstanden hatte?“ (Koran 2,75; 4,46; 5,41 u.ö.). Ferner: „Und von denen, die sagen: ‚Wir sind Christen‘, nahmen Wir ihre Verpflichtung entgegen. Sie vergaßen einen Teil von dem, womit sie ermahnt worden waren“ (Koran 5,14). Über die Bedeutung des koranischen Begriffs „tahrîf“ gehen die Meinungen auseinander. „Tahrîf“ – zunächst gegen die Juden erhoben – entstammt einer Wurzel, die „biegen“ bedeutet und bezeichnet wahrscheinlich eine falsche Interpretation des Textes, ein Drehen und Wenden seines Sinns zum eigenen Vorteil. Die muslimischen Theologen sind sich in ihrer Beurteilung nicht einig: Einige verstehen tahrîf im Sinne der Fehlinterpretation biblischer Texte, andere vermuteten nicht nur Sinnentstellung, sondern textliche Veränderungen.
Die zunächst zurückhaltende Kritik Muhammads an den Christen spitzte sich mit der Zeit immer mehr zu. Diese Verschärfung der antichristlichen Position resultierte einmal aus der fortschreitenden Präzisierung seiner eigenen Botschaft, zum anderen aus dem Expansionsdrang zum byzantinischen Norden.

– Jesus ist nicht der Sohn Gottes
„O ihr Leute des Buches, übertreibt nicht in eurer Religion, und sagt über Gott nur die Wahrheit. Christus Jesus, der Sohn Marias, ist doch nur der Gesandte Gottes und sein Wort, das Er zu Maria hinüberbrachte, und ein Geist von Ihm…“ (Koran 4,171). Dass Jesus nur der Gesandte Gottes war und eben nicht sein Sohn, behauptet der Koran wiederholt; dass er ein gewöhnlicher Mensch war und nicht Sohn Gottes, unterstreichen die koranischen Bezeichnungen „Wort“ (kalimatu Ilâh) und „Geist“ (ruh) Gottes für Jesus, wird doch in ihnen besonders die Geschöpflichkeit Jesu hervorgehoben: durch das Schöpfungswort Gottes und das Einhauchen seines Geistes wurde Jesus wie Adam ins Leben gerufen.

– Jesus ist nicht am Kreuz gestorben
Dass Jesus sterblich ist, kann aus dem Koran als gesichert angenommen werden. Aber über den Zeitpunkt seines Todes gehen die Meinungen weit auseinander.
Gegen die Juden, die beteuern: „Wir haben Christus Jesus Sohn Marias, den Gesandten Gottes, getötet“ (Koran 4,157), behauptet der Koran: „Sie haben ihn aber nicht getötet, und sie haben ihn nicht gekreuzigt, sondern es erschien ihnen eine ihm ähnliche Gestalt. Diejenigen, die über ihn uneins sind, sind im Zweifel über ihn. Sie haben kein Wissen über ihn, außer dass sie Vermutungen folgen. Und sie haben ihn nicht mit Gewissheit getötet, sondern Gott hat ihn zu sich erhoben. Gott ist mächtig und weise“ (Koran 4,157f.). Demnach gelang es den Juden nicht, Jesus zu kreuzigen. Gott hat ihn errettet, er allein verfügt über Leben und Tod. Ein schmachvoller Tod eines Gesandten wäre gegen die Ehre Gottes. – Die Leugnung des Kreuzestodes Christi wird somit als Beispiel für die Allmacht Gottes hingestellt, gleichsam als „Zeichen“ für die, die glauben. Wenn sich auch die kategorische Ablehnung der Kreuzigung Christi zunächst gegen die Juden richtete, so ist doch gerade die Bestreitung des Kreuzestodes Christi sowie die Zurückweisung des trinitarischen Gottesbegriffs bis heute von den Muslimen immer wieder als Argument gegen die Christen verwandt worden. Zudem stellt die Leugnung der Kreuzigung Jesu die christliche Soteriologie (Erlösungslehre) in Frage.

– „Es gibt keinen Gott außer Gott“
Unmissverständlich weist der Koran die Lehre von der Trinität zurück: „So glaubt an Gott und seine Gesandten. Und sagt nicht: Drei. Hört auf, das ist besser für euch. Gott ist doch ein einziger Gott. Preis sei Ihm, und erhaben ist Er darüber, daß Er ein Kind habe. Er hat, was in den Himmeln und was auf der Erde ist. Und Gott genügt als Sachwalter“ (Koran 4,171).
Allerdings gibt der Koran die christliche Trinitätsauffassung nicht authentisch und korrekt wieder. Er scheint den christlichen Dreifaltigkeitsglauben als Tritheismus missverstanden zu haben und sich eine Trias aus Gott (Vater), Maria (Mutter) und Jesus (Kind) vorzustellen: „Und als Gott sprach: ‘O Jesus, Sohn Marias, warst du es, der zu den Menschen sagte: ‚Nehmt euch neben Gott mich und meine Mutter zu Göttern?’…“ (Koran 5,116). Von diesem Missverständnis abgesehen, polemisiert der Koran gegen die Christen, die sich zur Dreifaltigkeit Gottes bekennen, und verbindet seine Zurückweisung der Trinitätslehre mit der Androhung der göttlichen Strafe: „Ungläubig sind diejenigen, die sagen: ‘Gott ist der Dritte von dreien’, wo es doch keinen Gott gibt außer einem einzigen Gott. Wenn sie mit dem, was sie sagen, nicht aufhören, so wird diejenigen von ihnen, die ungläubig sind, eine schmerzhafte Pein treffen“ (Koran 5,73). Mit der immer wiederholten Betonung der Einzigkeit Gottes geht der Koran zwar in erster Linie gegen den altarabischen Polytheismus vor, trifft aber ebenso auch den Kern des christlichen Gottesbegriffs.

•Gottes Transzendenz und Immanenz
Im Mittelpunkt der islamischen Gotteserfahrung steht der Glaube an den einen und einzigen Gott, der tagtäglich im ersten Teil des Glaubensbekenntnisses öffentlich bezeugt wird: „Ich bezeuge, daß es keine Gottheit außer Gott gibt …“ Der Islam misst der Einzigartigkeit Gottes ein solches Gewicht bei, dass er alles ablehnt und verwirft, was auch nur im Entferntesten eine Beeinträchtigung der alleinigen Gottheit Gottes bedeuten könnte.

Die absolute Weltüberlegenheit Gottes, seine nicht einholbare Transzendenz betont der Koran immer wieder: „Gott ist der Erhabene“ (Koran 2,255), „die Sehkraft erreicht Ihn nicht“ (Koran 6,103), ja „es gibt nichts, was Ihm gleich wäre“ (Koran 42,11). Diese unendliche Wesensverschiedenheit Gottes von weltlicher Wirklichkeit hat weitreichende Konsequenzen: über das strikte Bilderverbot im Islam hinaus stellt sich die Frage, wie überhaupt ein Zugang zu Gott möglich sein kann. Wenn Gott in seinem Wesen derart unzugänglich ist – der Koran sagt: Auch wenn Gott sich zu erkennen gibt, bleibt er verborgen (Vgl. Koran 57,3) -, wenn er sich total menschlicher Erkenntnis entzieht – wie kann Gott dann vom Menschen, in welcher Weise auch immer, erfahren werden?
Es sind vor allem zwei von Gott ermöglichte Wege, die zu ihm führen: Seine Offenbarung und seine Schöpfung. In ihnen hat sich Gott den Menschen zugewandt. Wie selbstverständlich kommt seine Zuwendung in den Eingangsworten der einzelnen Suren des Korans (mit Ausnahme der neunten Sure) zur Sprache: „Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen …“. Die Initiative liegt bei Gott. Er stellt sich als Schöpfer und Lehrer des Menschen vor, so in der zuerst geoffenbarten Sure 96,1-5: „Lies im Namen deines Herrn, der erschaffen hat, den Menschen erschaffen hat aus einem Embryo. Lies. Dein Herr ist der Edelmütigste, der dem Menschen durch das Schreibrohr gelehrt hat, was er nicht wußte …“. Diese von Gott initiierte Relation zum Menschen hat ihre letzt-gültige Verbindlichkeit im Koran gefunden. Als Willensausdruck Gottes findet der Mensch im Koran jene Rechtleitung, hudâ, die von Gott selbst kommt und die den rechten Weg des Menschen vor Gott garantiert. Wer sich den vorgegebenen Handlungsnormierungen unterwirft, kann sicher gehen, dass Gott, der den Menschen in die Existenz gerufen hat, ihn mit seiner Vorsehung ein Leben lang begleitet, auch dann nicht im Stich lässt, wenn es mit ihm, dem Menschen, zu Ende geht.

Ebenso deutet das Wunder der Schöpfung auf Gott hin. In ihr kommen seine Allmacht – „Wenn Er eine Sache beschlossen hat, sagt Er ihr nur: Sei!, dann ist sie“ (Koran 2,117) – und seine Güte zum Ausdruck. Auch in der Schöpfung zeigt sich Gottes Zuwendung zum Menschen. Denn Gott hat Welt und Mensch nicht ein für allemal ins Dasein gerufen, um sie dann ihrem Schicksal zu überlassen. Im Gegenteil: Er begleitet seine Geschöpfe mit seiner Vorsehung. Er tut es unablässig, denn er setzt jederzeit sein schöpferisches Wirken fort. In allem kreatürlichen Sein ist Gott als schöpferisch begründende und erhaltende Ursache zu entdecken. Das hat zur Folge, dass Gottes Verhältnis zu Welt und Mensch nicht nur durch seine Transzendenz bestimmt ist, sondern ebenso durch seine Immanenz. Gott ist nicht nur der ferne, transzendente Gott, sondern ebenso auch der nahe, anwesende Gott; er ist dem Mensch „näher als die Halsschlagader“ (Koran 50,16).

b) „ … und Muhammad ist sein Gesandter“

Nach islamischer Tradition war Muhammad etwa vierzig Jahre alt, als er jene Erfahrungen machte, die so nachhaltig auf ihn einwirken und seine prophetische Berufung und Sendung einleiten sollten(7). Verschiedene Ursachen spielten dabei eine Rolle: Es waren nicht primär politische oder soziale Fragen, an denen sich Muhammads Erfahrung seiner eigenen Berufung und Sendung entzündete, sondern zutiefst religiöse Impulse. Ferner hat der Verfall des altarabischen Polytheismus, der offensichtlich zur Zeit Muhammads von keiner tieferen Bedeutung mehr war, auf ihn eingewirkt und ihn nach einigen Jahren der Zurückgezogenheit und zeitweisen Abgeschiedenheit veranlasst, mit seiner Botschaft an die Öffentlichkeit zu treten. Kernaussagen sind die Lehre vom alleinigen und allmächtigen Schöpfergott sowie ausgeprägte eschatologische Vorstellungen, in denen von der Unerbittlichkeit der göttlichen Abrechnung die Rede ist.

•Charisma und Macht
Überzeugt von der Wahrheit dieser Botschaft, sah Muhammad sich verpflichtet, sie seinen Landsleuten mitzuteilen, um sie so auf den Weg des Heils zu führen. Kollektiv empfindend, wusste er sich für seine Mitmenschen verantwortlich. Doch die Mehrheit lehnte ihn ab. Es kam zur Konfrontation. Muhammad und seine Getreuen verließen ihre Heimatstadt Mekka und wanderten nach Medina aus. Es war das Jahr 622. Durch die Übersiedlung von Mekka nach Medina seiner Sippe und seinem Stamm entwurzelt, versuchte Muhammad in Medina eine neue Gemeinschaft aufzubauen, indem er die mit ihm emigrierten Mekkaner und die neu hinzugewonnenen Gläubigen aus Medina zur „umma al-islâmiyya“, zur „islamischen Gemeinschaft“ zusammenschloss. Der religiöse Charismatiker von Mekka wurde zum politisch-mächtigen Anführer einer sich neu formierenden Interessen- und Glaubensgemeinschaft. Sie war gehalten, mit eben denselben Mitteln ihre Existenz zu sichern wie die benachbarten Stämme. Zwangsläufig ist so das neue muslimische Gemeinwesen von Medina zu einem politisch-kämpferischen Stadtstaat geworden. Während das Christentum in einen Staat hineingeboren wurde, hat der Islam einen Staat hervorgebracht. Damit ist der Islam von seiner Entwicklung her gleichzeitig und untrennbar Religion, gesellschaftliche Gemeinschaft sowie politisch-rechtliche Größe. Alle drei Aspekte sind untrennbar miteinander verbunden. Das „Haus des Islam“ (dâr al-Islâm) verkörpert eine religiöse und politisch-rechtliche Ganzheit. So verschieden die Muslime ihrer sozio-kulturellen Herkunft nach auch sein mögen – ob Araber, Türken, Inder, Pakistani, Indonesier, Afrikaner oder Iraner – sie alle gehören zum „dâr al-Islâm“. Nach der bereits im Jahre 623 von Muhammad erlassenen ersten Gemeindeordnung gehören alle Muslime zusammen und bilden aufgrund ihres Glaubens eine solidarische Gemeinschaft. Diese Richtlinien gelten in der islamischen Tradition als Modell für eine ideale Gesetzgebung in den islamischen Staaten und als vorbildliches Muster für das echte islamische Leben innerhalb der islamischen Gemeinschaft.

Von Anfang an war der Islam politisch orientiert. Muhammad war ja nicht nur der Verkünder einer religiösen Lehre, sondern auch einer theokratischen Staatsidee. So versteht sich der Islam von seinem Ursprung her gleichermaßen als „dīn“ – Religion – und „dawla“ – Staat -: „Al-Islām dīn wa dawla“, so wird gesagt, d.h. als Idealvorstellung ist der Islam religiöse und politische Gemeinschaft zugleich.(8) Das Staatsvolk ist das Gottesvolk, das religiöse Gesetz – sharī‘a – Staatsgesetz. „Ihr (Muslime)“, heißt es im Koran 3,110: „Ihr (Muslime) seid die beste Gemeinschaft, die je unter den Menschen hervorgebracht worden ist. Ihr gebietet das Rechte und verbietet das Verwerfliche und glaubt an Gott.“ In diesem Sinn gilt dann das als Ausspruch Muhammads überlieferte Motto: „Der Islam herrscht und wird nicht beherrscht.“(9) Daraus resultiert die Pflicht der muslimischen Gemeinschaft, sich als Glaubensbrüder und -schwestern für die Belange des Islams einzusetzen.

Der Einsatz „auf dem Weg Gottes“: djihad
„Rücket aus, ob leicht oder schwer, und setzt euch mit eurem Vermögen und mit eurer eigenen Person auf dem Weg Gottes ein“, so steht es im Koran.(10) Diese Pflicht, sich mit Leib und Leben für den Glauben gegen alle Widerstände selbst aus den eigenen Reihen einzusetzen(11), gilt für die muslimische Gemeinschaft als Gesamtheit, d. h. die ganze islamische umma auf Weltebene muss sich darum bemühen, dass sich dieser koranischen Vorschrift entsprechend das Gesetz Gottes durchsetzen kann.(12) Unter den Gegebenheiten zur Zeit Muhammads bedeutete das den bewaffneten Kampf. Dem entspricht bereits der koranische Befund ebenso wie die spätere Interpretation in den Rechtsbüchern. Nach muslimischer Auffassung ist die Welt – so die klassische Theorie – in zwei Lager geteilt:
1) in das Gebiet des Islams (dār al-Islām) und
2) in das Gebiet des Krieges (dār al-harb),
das bedeutet: die Welt besteht aus zwei Lagern:
das der Muslime und das der Nicht-Muslime.(13) Zur Verteidigung des islamischen Gebietes, das „dār al-Islām“ und zur Ausweitung seines Bereiches zwecks Einführung der islamischen Lebensordnung ist der djihād, der Einsatz „auf dem Wege Gottes“, als probates Mittel gefordert. Der djihād seinerseits kann die verschiedensten Formen annehmen: von militärischem Kampf, sprich Krieg, über propagandistische Solidaritätskundgebungen für die „mustad ‘afīn“, d. h. für „Arme und Entrechtete“, bis hin zur finanziellen und politisch-ideologischen Unterstützung von Freiheitsbewegungen in aller Welt und egal welcher Provenienz, ganz zu schweigen von den internationalen Missionsaktivitäten dank der arabischen Petro-Dollar als Investitionshilfe und Finanzierungsquelle für islamische Zentren.
Diese innerislamische Solidarität fundamentalistischer Kreise gründet in ihrer Auflehnung gegen Fremdherrschaft, soziale Ungerechtigkeit und kulturelle Entwurzelung, und zwar im Namen des Islams, von dem der Koran sagt: „Und wer hat eine schönere Religion als der, der sich völlig Gott hingibt und dabei rechtschaffen ist …?“(14) Getrieben vom Eifer, durch eine Weltrevolution die islamische, weil beste Ordnung, zum alleinigen Gesetz für die ganze Menschheit einzurichten, machen sie sich auf, mit ihren fundamentalistischen Verheißungen immer mehr Anhänger in der islamischen Welt für sich zu gewinnen. Der von ihnen anvisierte islamische Gottesstaat verspricht den Gläubigen nicht nur die Glückseligkeit im Jenseits, sondern schon jetzt das Heil im Diesseits.

•„Siegel der Propheten“ (Koran 33,40)
Muhammad – religiöser Charismatiker und politischer Anführer zugleich – verstand sich theologisch gesehen als „das Siegel der Propheten“ (Koran 33,40), d.h. er sah sich mit seiner Berufung und Sendung nicht nur in Übereinstimmung mit den früheren Propheten und Gesandten, sondern darüber hinaus als das abschließende Glied dieser langen Traditionskette. Als Abschluss und Höhepunkt der Offenbarungsgeschichte, eben als „das Siegel der Propheten“, ist er derjenige, der die gespaltene Menschheit wieder in Gott, ihrem Ursprung und Ziel, zusammenführt. Deswegen ist mit ihm, Muhammad, eine neue Zeit angebrochen, die Zeit der Versöhnung der einen Menschheitsfamilie im Leben des Islams, der fraglosen Unterwerfung unter Gottes Willen(15).

3. Der Koran: Gottes letztes Wort

•Inlibration: Buchwerdung von Gottes Wort
Zentrale Glaubensaussage des Islam ist im Gegensatz zum Christentum: Gottes Wort ist Buch geworden, nicht Gott ist Mensch geworden. Nicht die Inkarnation steht im Mittelpunkt, sondern die Inlibration, die Buchwerdung von Gottes Wort im Koran. Als zeitlich jüngste von Gott gesandte Schrift ist sie vom Inhalt her Gottes letztes Wort an die Menschheit, unnachahmlich und unüberbietbar (Koran 17,88). Weil Gottes Wort, trägt der Koran die untrüglichen Merkmale seiner Authentizität in sich selbst. Die geglaubte Verbalinspiration verleiht ihm uneingeschränkte Autorität in der muslimischen Welt, gilt er doch als die arabische Version jener Offenbarungsschrift, die bei Gott hinterlegt ist und „Mutter des Buches“ (umm al-kitâb) genannt wird (Koran 3,7 u.ö.)(16).

Weil aus muslimischer Sicht Gott sich und seinen Willen in endgültiger Weise im Koran geoffenbart hat, ist der Koran das vorzügliche Medium, durch das der Mensch Gott erkennen und erfahren kann. Schon verhältnismäßig früh als das ungeschaffene Wort Gottes – gleich ewig mit ihm – anerkannt, ist der Koran für jeden Muslim der Dreh- und Angelpunkt seines Selbstverständnisses und seiner Weltdeutung. Die gesamte Lebensordnung gewinnt von ihm her ihre lebensgestaltende und -prägende Kraft.

•Einführung der Scharia
Aufgrund der Tatsache, „daß in der islamischen Tradition Religion und Staat besonders eng verbunden waren, und das Hauptkennzeichen der Islamizität des Staates in der Durchführung des auf Offenbarung zurückgeführten religiösen Rechts, der Scharia, gesehen wurde“(17), streben die Verfechter des Islamismus die Wiederherstellung eines islamischen Staates an, verbunden mit der Wiedereinführung der Scharia. Damit würde ein Recht zur Grundlage der politischen Ordnung gemacht, das einzig und allein die Musline als Vollbürger anerkennt, während Nicht-Muslime dem Wohlwollen der Herrschenden ausgeliefert wären.

•Die „Entwestlichung des Wissens“
In seinem Beitrag „Islamischer Fundamentalismus gegen den Westen“(18) analysiert Bassam Tibi – selbst Muslim – jenes Fremdbild vom Westen, das sich in den Köpfen führender muslimischer Fundamentalisten festgesetzt hat. Er zeigt vier Gedankenkomplexe auf(19):
(1) Ausgangspunkt ist die Kritik am westlichen Kolonialismus als einem angeblich speziell gegen den Islam gerichteten Unternehmen; in Anlehnung an die Kreuzzüge sprechen sie in unseren Tagen von einem „neuen Kreuzzüglertum“ des Westens.
(2) Die theologische Weltsicht des Islams sehen sie durch westliche Wissenschaft gefährdet (Autonomie menschlicher Vernunft, Sittlichkeit usw.) und fordern eine “Entwestlichung des Wissens“ durch Rückgriff auf das unüberbietbare Wissen des Korans.
(3) Die Krise der europäischen Moderne wird als Sinnkrise einer säkularen Welt interpretiert.
(4) Diese Sinnkrise wird dem weltpolitischen Herrschaftsdenken des Westens ein Ende setzen und dem Islam zur Weltführung verhelfen.(20)
„Diese antiwestliche Ideologie“, so B.Tibi, „bietet eine Alternative zu der ‘westlichbeherrschten Welt‘, eine Alternative, in der der Islam die Führung innehat. Westliche Universalität, auch die der Menschenrechte, soll durch die islamische Universalität, in deren Doktrin es ein Konzept individueller Menschenrechte gar nicht gibt, ausgetauscht werden“(21). Damit sind wir bei einem der zentralen Punkte des islamischen Fundamentalismus angelangt. Es geht um die grundsätzliche Frage der Universalität der Menschenrechte. Sind sie unveräußerliche Rechte des Individuums oder dürfen sie “einem wie immer gearteten Kulturrelativismus geopfert werden“(22)? Oder anders gefragt: „Rechte der Menschheit oder Rechte der Muslime“(23)? Hier sind kritische Anfragen dringend geboten.

4. „Dir sind wir ergeben“

Das komplexe religiös-politische Phänomen „Islam“ bedarf einer differenzierten Sichtung und Darstellung. Schwarz-Weiß-Malerei hilft nicht weiter. Defizitäres Wissen ist aufzuarbeiten, um auch das Positive jener Weltreligion zu sehen, das uns die Medien allzu oft vorenthalten, jene Dimension, die wir Spiritualität nennen:
Und im Zentrum muslimischer Spiritualität steht das unerschütterliche Bekenntnis der Einzigkeit des transzendenten Gottes. Dabei kommt es nicht ausschließlich darauf an, verbaliter zu bestätigen, dass es nur einen Gott gibt, „keine andere Gottheit außer Gott“, wie das islamische Glaubensbekenntnis sagt, sondern vielmehr glaubend zum Ausdruck zu bringen, dass letztlich Gott allein „wirklich“ und „eigentlich“ existiert(24), während alles andere Existente neben ihm – wie Welt und Mensch – nicht im eigentlichen Sinn des Wortes existiert, sondern unablässig „zerfällt“, d.h. ins Nichts zurückfällt, um von Gott andauernd neu ins Leben gerufen zu werden: Alles vergeht, sagt Koran 55,26-27, „bleiben wird nur das Antlitz deines Herrn, das erhabene und ehrwürdige“. Alle Geschöpfe und an ihrer Spitze der Mensch haben ihren Sinn und Zweck nur insofern, als sie „geschaffen wurden, den Herrn anzubeten“(25). In diesem Sinne spiegelt die islamische Spiritualität die Geschichte unzähliger Menschen in ihrem Versuch wider, sich dem glaubend zu unterwerfen, von dem sie ausgegangen sind und zu dem sie zurückkehren: Gott. Er, der souveräne Schöpfer und Herr des Universums und doch zugleich dem Menschen näher als die eigene Halsschlagader, wie Koran 50,16 bekennt, ist transzendent und immanent zugleich: „Die Blicke erreichen Ihn nicht“, so Koran 6,103, doch „wohin ihr euch auch wenden möget, dort ist das Antlitz Gottes“ (Koran 2,115)(26). Von diesem Glauben getragen und im Wissen um die in der Schöpfung verankerte Relation Gottes zum Menschen(27), bekennen Muslime in aller Welt: „Dir sind wir ergeben“.

Quellenangaben:

1 A. Ta’heri, „Der Koran ist unser Programm“. Wie der politische Islam die moslemischen Nationen aufwühlt, in: Die
Zeit Nr. 36 vom 28.08.1987, 9.
2 Vgl. L. Hagemann, Zwischen Religion und Politik. Islamischer Fundamentalismus auf dem Vormarsch?, in: Ders./E.
Pulsfort, „Ihr alle aber seid Brüder“. Festschrift für A.Th. Khoury (Religionswissenschaftliche Studien, Bd. 14).
Würzburg-Altenberge ²1991, 244-260.
3 Der Koran ist zitiert nach A. Th. Khoury, Der Koran, Übersetzung. Gütersloh 2 1992.
4 Vgl. L. Hagemann, Propheten-Zeugen des Glaubens. Koranische und biblische Deutungen
(Religionswissenschaftliche Studien, Bd. 26). Würzburg-Altenberge 2 1993.
5 Vgl. ders., Christentum und Islam zwischen Konfrontation und Begegnung (Religionswissenschaftliche Studien, Bd.
4). Würzburg-Altenberge 3 1994, 27ff.; R. Paret, Mohammed und der Koran. Stuttgart 5 1985; A. Th. Khoury, Wer war
Muhammad? Lebensgeschichte und prophetischer Anspruch. Freiburg – Basel – Wien 1990.
6 Vgl. C. Colpe, Das Siegel der Propheten. Historische Beziehungen zwischen Judentum, Judenchristentum,
Heidentum und frühem Islam. Berlin 1989.
7 Siehe Anm. 5.
8 Vgl. L. Hagemann, Christentum und Islam a.a.O. 44-47 mit weiterführenden Literaturangaben; ders. Zur
Politisierung des Islam, in: Dialog in der Sackgasse? Christen und Muslime zwischen Annäherung und Abschottung
(Religionswissenschaftliche Studien, Bd. 46). Würzburg-Altenberge 1998 (Zusammen mit R. Albert). 205 S.
9 Vgl. Bukh~r§, Sah§h, Kairo 1897/H1315, K 23, 80; vgl. Koran 4,141.
10 Koran 9,41.
11 Vgl. ebd. 9,23.
12 Vgl. L. Hagemann, Christen und Islam a.a.O. 48f.
13 Vgl. A. Th. Khoury, Toleranz im Islam (Religionswissenschaftliche Studien, Bd. 8). Würzburg-Altenberge 1986,
103ff.
14 Koran 4,125.
15 Vgl. A. Th. Khoury, Muhammad, in: Ders., L. Hagemann, P. Heine, Islam-Lexikon, Bd. 2. Freiburg – Basel – Wien
2 1999, 543-566 (Lit.).
16 Vgl. A. Th. Khoury, Der Koran. Arabisch-Deutsch. Übersetzung und wissenschaftlicher Kommentar, Bd. 1.
Gütersloh 1990, 65ff.
17 R. Wielandt, Zeitgenössischer islamischer Fundamentalismus – Hintergründe und Perspektiven, in: K. Kienzler
(Hg.), Der neue Fundamentalismus. Rettung oder Gefahr für Gesellschaft und Religion? Düsseldorf 1990, 46-66.
18 In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“ B 22 (1990) 40-46.
19 Ebd. 42.
20 Vgl. auch A. Th. Khoury/L. Hagemann, Christentum und Christen im Denken zeitgenössischer Muslime
(Religionswissenschaftliche Studien, Bd. 7). Würzburg-Altenberge 2 1994, 165ff.
21 Siehe oben Anm. 19.
22 Ebd. 46.
23 Ebd. 45.
24 Vgl. R. Gramlich, Mystische Dimensionen des islamischen Monotheismus, in: A. Falaturi/W. Strolz, Glauben an
den einen Gott. Freiburg 1975, 195ff; A. Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam, Köln 1985 u.ö.
25 R. Caspar, Islamische Mystik I, in : Cibedo-Texte Nr. 12 (1981), 5; vgl. R. Gramlich, Mystische Dimensionen des
islamischen Monotheismus, a.a.O. 191ff.
26 Vgl. L. Hagemann, Die Welt ist sein Geschöpf. Zum Verhältnis von Transzendenz und Immanenz, in: A. Bsteh
(Hg.), Der Islam als Anfrage an christliche Theologie und Philosophie (Studien zur Religionstheologie, Bd. 1).
Mödling 1994, 91-96.
27 Vgl. J. Bouman, Gott und Mensch im Koran. Eine Strukturform religiöser Anthropologie anhand des Beispiels
Allah und Muhammad. Darmstadt 1977; L. Hagemann, „… mein Leben und mein Sterben gehören Gott“ (Koran
6,162). Strukturen islamischer Anthropologie, in: H. Hoffmann (Hg.), Werde Mensch. Wert und Würde des Menschen
in den Weltreligionen. Trier 1999, 121-142.

Literaturhinweise (Auswahl)

Bouman, J.: Gott und Mensch im Koran. Eine Strukturform religiöser Anthropologie anhand des Beispiels Allah und Muhammad. Darmstadt 1977.

Bsteh, A. (Hg.): Der Islam als Anfrage an christliche Theologie und Philosophie (Studien zur Religionstheologie, Bd. 1). Mödling 1994.

Colpe, C.: Das Siegel der Propheten. Historische Beziehungen zwischen Judentum, Judenchristentum, Heidentum und frühem Islam. Berlin 1989

Falaturi, A./Strolz, W.: Glauben an den einen Gott. Freiburg 1975.

Gramlich, R.: Islamische Mystik. Sufische Texte aus zehn Jahrhunderten. Stuttgart – Berlin – Köln 1992.

Hagemann, L./Pulsfort, E. (Hg.): „Ihr alle aber seid Brüder“. Festschrift für A. Th. Khoury (Religionswissenschaftliche Studien, Bd. 14). Würzburg – Altenberge 21991.

Hagemann, L.: Propheten – Zeugen des Glaubens. Koranische und biblische Deutungen (Religionswissenschaftliche Studien, Bd. 26). Würzburg-Altenberge ²1993.

Hagemann, L.: Christentum und Islam zwischen Konfrontation und Begegnung (Religionswissenschaftliche Studien, Bd. 4). Würzburg-Altenberge ³1994.

Hagemann, L./Khoury, A.Th. (Hg.): Blick in die Zukunft (Religionswissenschaftliche Studien, Bd. 43). Würzburg-Altenberge 1998.

Hagemann, L./Albert, R. (Hg.): Dialog in der Sackgasse? Christen und Muslime zwischen Annäherung und Abschottung (Religionswissenschaftliche Studien, Bd. 46). Würzburg-Altenberge 1998.

Hagemann, L.: Christentum contra Islam. Eine Geschichte gescheiterter Beziehungen. Darmstadt 1999.

Hoffmann, H. (Hg.): Werde Mensch. Wert und Würde des Menschen in den Weltreligionen. Trier 1999.

Khoury, A. Th.: Der Koran. Übersetzung und wissenschaftlicher Kommentar, Bd. 1ff. Gütersloh 1990ff.

Khoury, A. Th.: Wer war Muhammad? Lebensgeschichte und prophetischer Anspruch. Freiburg – Basel – Wien 1990.

Khoury, A. Th.: Der Koran. Übersetzung. Gütersloh 21992.

Khoury, A.Th./Hagemann, L./Heine, P.: Islam-Lexikon. 3 Bde. Freiburg, 21999.

Paret, R.: Mohammed und der Koran. Stuttgart 51985.

Schimmel, A.: Mystische Dimensionen des Islam. Die Geschichte des Sufismus. Köln 1985.

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Prof. Dr. phil. Jörg Splett im “Handruper Forum”

Prinzipien gelebter Menschlichkeit
Therapeutisches Klonen, Sterbehilfe, Homosexuellenehe usw.
Grundsätzliches zu den ethischen Herausforderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Zum Referenten:
Prof. Dr. phil. Jörg Splett, Lehrstuhl für Philosophische Theologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt/Main.

Vortrag im Rahmen des „10. Handruper Forums“ am 28. März 2001

(Zu diesem Abend existieren nur mehr Manuskripttexte)

Begrüßung durch P. Dr. H. Wilmer SCJ, Schulleiter

Sehr geehrte Eltern!
Liebe Schülerinnen und Schüler – besonders begrüße ich hier die ehemaligen Schülerinnen und Schüler, schön, dass Sie wieder in Ihre alte Schule zurückgekommen sind.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste!

Herzlich heiße ich Sie heute Abend in der Aula des Gymnasiums Leoninum willkommen, insbesondere begrüße ich die Priester aus den Pfarrgemeinden des Einzugsgebietes. Ich begrüße die Vertreter der Kommunen und politischen Gemeinden aus dem Landkreis Emsland und aus dem Landkreis Osnabrück.
Stellvertretend nenne ich unseren Ortsbürgermeister Herrn Josef Stockel. Ebenso begrüße ich die Vertreter der Presse. Liebe Mitbrüder, liebe Gäste, sehr geehrte Damen und Herren!

Aktueller hätte das Thema des heutigen Abends nicht sein können, denn im Mittelpunkt stehen die ethischen Herausforderungen, die uns – bedingt durch politische Entscheidungen und deren Diskussion in allen Medien – täglich begegnen und die nicht nur Fragen aufwerfen, sondern auch Verunsicherung stiften. Orientierungslosigkeit macht sich breit, mit Hartnäckigkeit wird allerorten um Antworten gerungen, um Antworten auf Fragen wie:

Darf man aus therapeutischen Gründen klonen, um Menschen vor Erbkrankheiten zu schützen, darf man überhaupt einen schönen und edlen Menschen züchten, kann es sich eine Gesellschaft in Zukunft überhaupt noch leisten bewusst Krankheit und Gebrechlichkeit in Kauf zu nehmen? Und was ist eigentlich klonen? Wird nicht das, was wir bisher können aber noch nicht dürfen eines Tages doch eintreten, ob wir es wollen oder nicht, weil in der Geschichte der Menschheit der Mensch immer das umgesetzt hat, wozu er in der Lage war.
Ist es aus sozialen Gründen nicht besser aktive Sterbehilfe zu leisten, um das Geld für die Kosten langjähriger Intensivpflege schwerkranker Menschen sinnvoller für sozialschwache aber kinderreiche Familien einzusetzen – so wird bisweilen provokant gefragt. Sprung.

Worin besteht die spezielle Partnerschaft in der Ehe? Wie werden Homosexuelle geschützt vor gesellschaftlicher Ausgrenzung? Ist die Partnerschaft von Homosexuellen einer Ehe gleichzusetzen? Sprung.
Und was ist mit BSE, mit der Mauen- und Klauenseuche, darf angesichts der Not in der Welt soviel Fleisch vernichtet werden? Oder aus anderer Perspektive gefragt, darf der Verbraucher bewusst über das, was er auf den Tisch bekommt, getäuscht werden, indem ihm die Information über gentechnisch veränderte Produkte vorenthalten wird?

Ein Dschungel von Fragen. Aber dennoch ist dies nur ein kleiner Ausschnitt aus den vielen Fragen um die es heute Abend hier gehen soll.

Für die diesjährige Frühjahrsveranstaltung haben wir Herrn Prof. Dr. Jörg Splett als Referenten gewonnen. Herr Prof. Dr. Splett hat seit 1971 an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt am Main den Lehrstuhl für philosophische Anthropologie und Religionsphilosophie inne. Zugleich doziert er an der Münchener Hochschule für Philosophie. Darüber hinaus ist er zum dritten Mal mit der Vertretung des Guardini-Lehrstuhls betraut und Autor ungezählter Publikationen.

Herr Prof. Dr. Splett, ich heiße Sie herzlich willkommen! Seit Jahren beschäftigt sich Prof. Dr. Splett mit grundsätzlichen Vorentscheidung, den Prinzipien der ethischen Beurteilung der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Neuordnungen. In seinem Vortrag „Klonen – Sterbehilfe – Homosexuellenehe usw. – Grundsätzliches zu den ethischen Herausforderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts“ werden neben Grundsatzüberlegungen auch Orientierungs- und Entscheidungshilfen zur Beantwortung der sich stellenden ethischen Fragen im Mittelpunkt stehen.

An dieser Stelle danke ich allen, die für die Gestaltung dieses Abends gesorgt haben. Ich danke Herrn Studiendirektor Franz-Josef Hanneken vom Gymnasium Johanneum in Lingen dafür, dass er den Kontakt zur Prof. Dr. Splett hergestellt hat.
Ich danke allen, die diesen Raum hergerichtet haben.
Ein spezieller Dank gilt Herrn Oberstudienrat Paul Wöste aus Freren. Seit vielen Jahren hat Herr Wöste das Handruper Forum aufgebaut, geleitet und zu seinem Erfolg verholfen. Auch für das heutigen Handruper Forum hatte Herr Wöste die gesamte Organisation inne. Lieber Herr Wöste, herzlichen Dank für die Arbeit und das Engagement.

Nach dem Vortrag steht Prof. Dr. Splett gern zur Diskussion, zu Anmerkungen, Kommentaren und kritischen Fragen zur Verfügung. Uns allen wünsche ich einen lebendigen Abend, Herr Prof. Dr. Splett, Sie haben das Wort.

Prof. Dr. phil. Jörg Splett

PRINZIPIEN GELEBTER MENSCHLICHKEIT
Therapeutisches Klonen – Sterbehilfe – Homosexuellenehe usw.
Grundsätzliches zu den ethischen Herausforderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Diskutiert werden lebhaft konkrete Probleme: Klonen – Sterbehilfe – Homosexuellen-Ehe – Umgang mit den Tieren angesichts von BSE und Maul-und-Klauenseuche.
Oft aber reden die Kontrahenten aneinander vorbei – absichtlich wie unbeabsichtigt. Und nicht selten hat man den Eindruck, die Grundsätze eines solchen Disputs, die Maßgaben möglicher Entscheidungen seien gar nicht im Blick. Prinzipien allein genügen nicht zum Handeln – sowenig man von Luft alleine leben kann. Wie aber ohne sie? Vor dem konkreten Disput seien darum hier vier Grundsätze vorgelegt.
Vorweg ist eine Grundentscheidung zu treffen: Wie denken wir Welt und Mensch zu verstehen? Geht es um kosmische Theorien, Hypothesen-Systeme? Die gab es mythisch; neuzeitlich bietet die Wissenschaft sie, vor allem die Physik. Und heute wollen Biologen diesen Paradigmaplatz besetzen.
Eine Theorie ist der Vorschlag zu einer bestimmten Deutung von Fakten. Man könnte diese auch anders verstehen (eine Theorie ist immer eine unter anderen). Für eine bestimmte Theorie votiert man, weil sie plausibel oder praktikabel ist. Bei modernen Theorien regiert zudem das Sparsamkeitsprinzip. Und tatsächlich soll hier das Subjekt möglichst verschwinden, im Dienst einer objektiven Theorie.
Oder entscheide ich dafür, dass es um Selbsterkenntnis in persönlicher Verantwortung geht? Gehe ich davon aus, dass ich angefordert bin, der Wahrheit die Ehre zu geben?
Auf die hier gemeinte Entscheidung weist ein berühmtes Pascal-Fragment hin: von den drei Ordnungen. Anmerkung: Pensées 793(Brunschvicg) bzw. 308 (Lafuma). Die klassische Brunschvicg-Anordnung ist durch die Forschung der letzten Jahrzehnte überholt (erst recht andere Aufgliederungen). Im Deutschen liegt von den neueren Editionen einzig, freilich ohne Apparat, der Lafuma-Text vor: Gedanken, Leipzig (J.-R. Armogathe, Übers.: U. Kunzmann) 1987. Danach ist die endlose Weite des Kosmos wie nichts gegenüber einem einzigen Bewusstseinsakt, in dem ein Wesen nicht nur denkt, sondern denkt, dass es denkt; weiß, zu wissen (oder nicht zu wissen). Das Weltall kann mich zerschmettern, schreibt er; doch ich bin größer als es; denn ich bin mir dessen bewusst. Anmerkung: Laf. 113, 200. Darum steht um eine Ordnung (wie von Punkt zu Linie) über dem Reich des Räumlichen die Dimension des Geistes.
Doch gibt es noch eine weitere Ordnung. Alle Erkenntnisakte zusammengenommen, alles, was Bewusstsein heißt (für jetzt beiseite gelassen, dass hier ein auch das Gewissen fiele), zählt nochmals, um eine Potenz geringer: so viel wie nichts – im Vergleich mit nur einem Vollzug wahrer Liebe. Gemeint ist das Ja zum Guten als solchen und um seiner selber willen.
Es ist eine Frage der inneren Entscheidung, ob man eine solche Dimensionen-Ordnung mitvollzieht oder nicht. Natürlich kann man sie niemand beweisen, der sich nicht dafür auftut. – Wer auf der Ebene des Ausgedehnten stehen bleibt – eine beliebte Formel hierfür: Ich als (Natur-)Wissenschaftler – , mit dem läßt sich davon nicht reden. Verlangt wird also ein Überstieg vom Messbar-Körperlichen über das Bewusstsein zur Stellungnahme des Herzens. So heißt in der Bibel und von Augustinus bis Pascal das, was wir jetzt Gewissen nennen. Es geht nämlich nicht um ein Fühlen, Emotion (nach einer heute weithin üblichen Aufteilung des Geistigen in Rationales und Emotionales). Solches gehört selbstverständlich zur Ganzheit des Menschen; aber es bildet nicht die Mitte des Personalen.

I. Grundsatz Gewissenhaben
1. Die Mitte des Herzens, um die es jetzt geht, ist die sittliche Erfahrung. – Das Gute soll unbedingt sein. Und das Böse auf gar keinen Fall. Das haben die Menschen natürlich immer gewusst. Doch wie haben sie es verstanden – auch innerhalb unserer philosophisch-theologischen Tradition?
Zuerst sei darum klargestellt, was sittliche Erfahrung nicht ist. Sie ist – zum ersten – keine Naturtendenz. Nicht eine Art Hunger und Durst entweder auf der untersten Stufe nach Lebensfristung, eine Stufe höher nach Wissen und Erkennen, oder noch eins höher nach Gemeinsamkeit und Frieden. Das alles wollen wir ohne Frage. Aber hier geht es nicht um dies naturhafte Streben und Wünschen. Denn solch ein Streben besagt zunächst nur ein Faktum. Daraus allein, dass man etwas braucht, und sei es noch so dringlich, folgt noch nicht, dass es sein soll.
Allerdings gibt es bis heute Ethiker, die dies meinen. In der christlichen Tradition war das noch verständlich; denn hier ist Natur nicht allein im heutigen Wortsinn, sondern ganz wörtlich „faktisch = tatsächlich“, nämlich Sache von Gottes freier Tat und Willen, also ihrerseits gewollt und gesollt. Doch jetzt wird es zum „naturalistischen Fehlschluß“ – in biologi(stisch)en Konzepten oder dort, wo man sagt, der Kern der Ethik sei ein „Ich will“ in Statuierung eines Ich-Ideals.
Kein Naturstreben also. Doch auch nicht – zweitens – eine Sache der „instrumentellen Vernunft“, der schlicht verstandesmäßigen Überlegung, es sei vernünftiger, korrekt zu sein. Das ist zwar keineswegs falsch; das Leben wird in der Tat einfacher und angenehmer; nicht in jedem Fall, doch „auf die Dauer und im Ganzen“, auch für einen selbst. Wenn wir uns nämlich nicht auf Anständigkeit verpflichten, geraten wir in einen allgemeinen struggle for life. Darin behaupteten sich nur die Starken, und wer ist schon auf Dauer stark? Doch auch aus solcher Vernünftigkeit folgt mitnichten, dass etwas unbedingt und schlechterdings so sein soll. Es ist vernünftig; doch warum nicht unvernünftig sein (wenigstens abwechslungshalber)? Es geht vielmehr um ein Sollen.
Dies aber ist – zum dritten – nicht das, was Psychologen „Überich“ nennen. Der Name meint, was wir aus der Kindheit übernommen haben: wie das Gesicht der Eltern strahlte, wenn man gut war, und sich unter Stirnrunzeln umwölkte, wenn man etwas tat, was sie unpassend fanden. Von diesen Göttern hing man ab, lebte in ihrem Licht. Diese Doppelung, Angst vor Bewölkung und Sehnsucht nach wärmender Liebe, gängelt fast jeden Menschen lebenslang. Anmerkung: Das erklärt auch die Ambivalenz der Jugend (jeden Alters) gegenüber Autoritäten (d.h. wörtlich „Mehrern“), nicht zuletzt natürlich gegenüber „Mutter Kirche“. Eben dagegen steht die Ich-Funktion des Gewissens.
2. Kant spricht vom „kategorischen Imperativ“. Er besagt: unbedingt soll das Gute geschehen. Lassen wir hier beiseite, was das im einzelnen sei. Vielleicht darf ich einfach sagen: man soll nicht „gemein“ sein. Gemeinheit soll schlechterdings nicht sein. – Welche Erfahrung begegnet uns hier? Anmerkung: Ausführlicher: J. Sp., Der Mensch ist Person. Zur christlichen Rechtfertigung des Menschseins, Frankfurt/M. – 1986, Kap. 2: Gewissen – Ernst der Menschlichkeit; ders., Ethik heute: Was darf und soll man – und warum?, in: LebZeug 42 (1987) 60-72.
Dieter Henrich hat vier Züge an ihr benannt Anmerkung: Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft, in: Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken (Hg. D. Henrich u.a., FS H.-G. Gadamer), Tübingen 1960, 77-109. :
a) handle es sich nicht um bloße Konstatierung, sondern um ursprüngliche Billigung – nicht Setzung. „Obwohl das Gute nur in der Zustimmung sichtbar wird, ist es doch nicht durch diese gut“ (84).
b) müsse darum das moralische Bewusstsein sehr wohl als Einsicht beschrieben werden statt nur als Betroffensein. (A. Schopenhauer in seinem Rekurs auf das Mitleid übersieht, dass der Mitleidige recht handeln soll. Unabschaffbares Leid beispielsweise stellt ihn vor die Alternative, entweder – beteiligt – mit zu leiden oder den Leidenden abzuschaffen.)
c) sei die Zustimmung eine spontane Leistung des Selbst. Mit S. Kierkegaard kann man darin sogar dessen Konstitution erblicken.
d) stünden wir damit nicht bloß in einer Sphäre von „Geltung“ und „Werten“, sondern im Sein. Das Bewusstsein soll nicht bloß, es ist – wie das „Du sollst“ und dessen Erfahrung und die Welt überhaupt, in der das sittliche Bewusstsein sich findet, die eben nicht „an und für sich“ bloß aus kruden Fakten besteht. „Die sittliche Einsicht folgt zwar nicht aus einem Gedanken von der Struktur des Seins des Seienden, ist ohne einen solchen Gedanken aber auch unmöglich“ (88).
Ich möchte diese vier Punkte nochmals auf zwei konzentrieren, um das Gemeinte vielleicht noch klarer zu machen:
Es geht erstens um Einsicht, um Vernunft-Erfahrung. Dies gegen alle Spielarten des Dezisionismus, der heute die Diskussion beherrscht, weil man Vernunft auf wissenschaftliche, nur konstatierende Rationalität reduziert und diese dann bloß durch das „Emotionale“ als Bezirk des Ästhetischen, Ethischen und Religiösen zu ergänzen vermag.
Zweitens ist diese Einsicht nicht rein objektiv theoretisch; vielmehr – wie in der Einleitung erwogen – läßt man sich (in praktischer Vernunft) ergreifen Anmerkung: R. Lauth (Ethik in ihrer Grundlage aus Prinzipien entfaltet, Stuttgart–Berlin 1969, 31) ersetzt so den Evidenz-Begriff durch den der Sazienz (vom mittellat. sacire = ergreifen, das noch im französ. saisir fortlebt). Ergreifen aber läßt sich der Gewissenhafte, wie Lauth vorschlägt, nicht einfach vom Richtigen, sondern vom „Doxischen“. Doxa bedeutet außer Meinung, Anschein auch: Willensmeinung, Beschluß und schließlich Aufschein, Ruhm und Herrlichkeit. : nicht durch ein Gefühl, sondern von einem Anspruch. Dies gegen den Intuitionismus und alle Formen des Rationalismus, für welche Sittlichkeit zuletzt aus der Erkenntnis der Zuträglichkeit (oder auch [transzendentalen] Unvermeidlichkeit) des Guten entspringt. Beide Momente, Einsicht(igkeit) und Unbedingtheit des Es-sei, ohne dass eins auf das andere zurückzuführen wäre, bilden die einzigartige Gegebenheit der sittlichen Erfahrung.
Es geht nicht bloß um das, was man will, sei es auch „eigentlich“ oder „im Grunde“; sondern darum, was gewollt werden soll. Darum ist es mit dem Guten als dem Zuträglichen nicht getan. Die Griechen verdeutlichten es als „kalón k’agathón“ = das Schöne-und-Gute. Philosophen wie geistliche Lehrer von Platon bis Fichte, von den biblischen Autoren bis Hans Urs von Balthasar, haben immer wieder zum Bildwort des Lichtes gegriffen, um die einleuchtende Selbstverständlichkeit des Gesollten und zugleich das Selbstgerechtfertigtsein und die Hoheitlichkeit des Du-sollst auszudrücken. Wer wirklich gut = sittlich handelt, verhält sich eben nicht bloß klug (geschweige denn klüglich), auch nicht „auf die Dauer und im Ganzen“. Sondern er „gibt der Wahrheit die Ehre“ und sucht, der „Herrlichkeit“ des Guten zu entsprechen. Er öffnet sich in „Sazienz“ dem „Doxischen“.

II. Grundsatz Menschenwürde
1. In die Unbedingtheit dieses „Lichts“ und seines Anspruchs wird der Angesprochene nun einbezogen. Er hat ihm nämlich unbedingt zu entsprechen. Und dieser unbedingte Gehorsam verlangt seinerseits unbedingten Respekt. Anmerkung: Eine klärende Präzisierung: Dieser Respekt untersagt ausnahmslos, jemanden zum Handeln wider sein Gewissen zu zwingen (dadurch würde er zum bloßen Mittel). Er schließt nicht die Möglichkeit (u. U. die Pflicht) aus, jemanden an Handlungen zu hindern, die ihm sein Gewissen aufträgt. Denn die Maßnahmen hierbei – zum Schutz seiner selbst wie anderer vor ihm – medizinisch, polizeilich, ja militärisch (bis hin zum äußersten Fall der Tötung seiner in Beistands-Notwehr – 20. Juli 1944) – stellen zwar ein Übel für den Betroffenen dar, müssen als solche jedoch nicht notwendig seine Personwürde verletzen.
Ein Wesen, das derart in seinem Gewissen-haben respektiert werden soll, nennen wir Person. Die Tradition hat der Person „Unmitteilbarkeit“ zugesprochen. Natürlich kann Person – und eigentlich nur sie – sich „mitteilen“; aber sie ist kein „Etwas“, das als Wesen, Zustand, Eigenschaft einem „Träger“ zukäme und so als „Prädikat“ einem Subjekt zugeteilt werden könnte. Sie wird nicht – wie solches – durch ein „Was?“ erfragt, sondern allein durch ein „Wer?“. Das Wort „Person“ läßt sich selbstverständlich, wie jedes Wort, auch prädikativ verwenden: Friedrich ist eine Person. Doch so gebraucht, erwidert es gerade nicht der Wer-Frage, sondern einem „Was ist?“. (Das erklärt, warum mitunter als anthropologische Grundfrage statt „Was ist der Mensch?“ – wie man glaubt: personaler – „Wer ist der Mensch?“ formuliert wird. Das ist zwar sprachlich falsch, meint aber Wichtiges; denn auf die [einzig korrekte] erste Frage lautet die Antwort: ein Wesen, das sich selbst und seinesgleichen fragt: Wer bist du?)
Wer bin ich? Nicht (was?) ein Ich, sondern ich. Für die Person wurde im Abendland die Definition des Boethius bestimmend: naturae rationa[bi]lis individua substantia – individuelle Substanz einer rationalen Natur Anmerkung: De duab. Nat./Contra Eut. 3. . Damit wurden Unbezüglichkeit und Selbstgenügen in einer Weise betont, die (nicht nur eine genuine Dreieinigkeitslehre verunmöglicht, weil sie dann zu einem Tritheismus führen würde, sondern zudem) ihren Höhepunkt im liberalistischen Individualismus der Neuzeit erreicht und so zum Umschlag in Kollektivismus und Systemtheorien geführt hat. Also zur Auflösung der Substanz(ialität – in jedem Sinn) von Ich und Person.
Es ist heute üblich geworden, die Berufung auf Substanz als „Klötzchen“-Denken abzutun. Demgegenüber hier zunächst ein Nein zu Programmen allgemeinen Verfließens, wonach Gott wie Mensch einzig als Verben statt als „Substantive“ gelten dürften. Gewisse Formen von „Mystik“ verbinden sich hier mit einer mikrophysikalischen Weltschau, die jede Art von Gegenständlichkeit zu puren Gesetz(lichkeit)en und Struktur-Formeln sublimiert.
Dabei wäre der Ernst von personalem Selbstand gerade als Ernst konkreter Bezüglichkeit = des Sich-Beziehens zu sehen. Bewusstsein ist – auch und gerade als ein Selbstbewusstsein – gerichtet: bewusst ist ihm stets etwas (jemand). Ich sehe, höre jemanden/etwas – nicht mich. Doch wer da weiß, sieht, hört, bin unaustauschbar ich.
Weit entfernt also, dass Einzigkeit Unbezüglichkeit meinte, geht sie gerade aus dem Entschluß und der Entschiedenheit von Selbst-Einsatz hervor.
2. Soviel scheint mir zunächst im Ernst einer sich nicht auf Empirie sowie Agnostizismus bornierenden Anthropologie und Ethik sagbar, doch auch zu sagen und im Disput zu vertreten. Vor allem zwei Fragen aber sind offen geblieben:
a) nach wie vor – praxis-nahe – , was dies für die Würde von anscheinend nicht (voll) verantwortlichen Menschen besage;
b) eher theoretisch (wenngleich sehr wohl praxisrelevant), ob bzw. wie wir das – in seiner Selbst-verständlichkeit nicht zu begründende – Vernunft-Faktum gleichwohl zu denken und als solches zu verstehen haben.
Es wird sich zeigen, dass die erste Frage hinreichend wohl einzig von der religiösen Antwort auf die zweite her beantwortet werden kann. Doch soll das keineswegs einen „theologischen Positivismus“ vertreten. Prüfen wir darum zuerst, welche Schritte die Anthropologie als solche noch tun kann. Was vermag sie zur Würde von Menschen zu sagen, deren Selbst-Verfügung beschränkt ist oder gänzlich fehlt?
Einem extremen Aktualismus läßt sich sofort widersprechen. Demnach wäre schon der Schlafende oder Besinnungslose kein Gewissens-Subjekt, also nicht Person. Nicht so leicht hat der Verteidiger der Menschenwürde es im Blick sowohl auf das noch nicht seiner bewusste Kind als auch auf geistig schwer Behinderte und seelisch Kranke.
Über die Rechte von Ungeborenen bzw. unsere Pflichten ihnen gegenüber muss es jetzt bei einer ausführlichen Anmerkung bleiben.
Anmerkung: Ein Exkurs in drei Punkten:
1. Natur- wie humanwissenschaftlich betrachtet, haben wir es mit einem Individuum zu tun, das seine Anlagen ohne Stufen oder gar Brüche in einem einzigen großen Entwicklungsbogen entfaltet – so sehr sich gerade bzgl. der Abhängigkeit von der Mutter markante Zäsuren angeben lassen, am einschneidendsten wohl die Geburt. Die Kontinuität dieses Werdeprozesses wird besonders eindrucksvoll durch die pränatale Psychologie dokumentiert (etwa L. Janus, Wie die Seele entsteht, Hamburg 1991).
2. Was innerhalb dieses Werdens nun den Aufgang des Selbstbewusstseins aus dem Bewusstsein betrifft, wird Spaemann nicht müde, an die Tatsache zu erinnern, „dass es zum Selbstbewusstsein eines Menschen niemals kommt, wenn man dem Menschen nicht bereits zuvor als einem Du begegnet, mit ihm als Person umgegangen ist. Selbstbewusstsein ist Folge des Personseins, nicht dessen Ursprung. Würden wir die Menschenwürde nicht achten, ehe ein menschliches Wesen sie einzufordern im Stande ist, so würde kein Mensch je in den Stand kommen, sie einfordern zu können“ (Die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens. Zu ethischen Fragen der Biomedizin. Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre. Mit einem Kommentar von R. Spaemann, Freiburg 1987, 85).
Es ist darum keineswegs „biologistisch“, das menschliche Leben mit dem Zeugungsvorgang beginnen zu sehen. (Wobei jetzt nicht dessen Erstreckung diskutiert werden soll. Besonders die Möglichkeit der Keim-Teilung wirft Fragen auf, da vielleicht nicht ein Ich, doch jedenfalls die Person von ihrem Wesen her unteilbar ist). Ich halte es für unvertretbar, wenn Theologen erklären: „Menschliches Leben ist nur dann menschliches Leben, wenn und insofern es angenommenes menschliches Leben ist“ (E. Jüngel, E. Käsemann, J. Moltmann, D. Rößler, Annahme oder Abtreibung, in:  218. Dokumente und Meinungen zur Frage des Schwangerschaftsabbruchs (Hg. E. Wilkens), Gütersloh 1973, 168-173, 171). Dies jedenfalls, solange sie die Annahme durch Menschen meinen.
Oder genauer: den Wortlaut als solchen kann man vertreten – als Appell zur Annahme des Lebens, zur Achtung der Würde, also als Aufruf zum Menschsein in normativem Verständnis: in Menschlichkeit. Aber wird er, wie im Zitat, als Gegenaussage zu einer „biologistischen“ Lebenssicht formuliert, öffnet er jeder Unmenschlichkeit Tür und Tor. Nähme man nämlich bestimmte Menschen nicht – oder nicht im Vollsinn – als solche, dann wären sie damit auch keine menschlichen Wesen: also der Verächter ihrer Rechte seiner Pflichten ihnen gegenüber ledig.
3. Geist und Freiheit kennen zudem eine Zeitlichkeit eigener Art, die sich der gewohnten linearen Außenperspektive entzieht. Vielleicht hilft ein Anschauungs-Beispiel (J. Sp., Wann beginnt der Mensch – und welche Pflichten haben wir ihm gegenüber? in: Kinder aus der Retorte? [Hg. Familienbund der deutschen Katholiken], Bonn 1989, 35-55, 40f): Wann mag ein Kind zum ersten Mal seine Mutter erkennen? – Wenn es sie erstmals wiedererkennt (denn jedes Erkennen bedeutet Identifizieren). In dieser „heutigen“ Erst-Erkenntnis jedoch erkennt das Kind seine Mutter zugleich als die von gestern: ab heute (erst) kennt es die Mutter seit gestern – und früher. Eine Verhinderung dieses Erkennens, etwa durch Kindsraub in der letzten Nacht, entzöge ihm deshalb nicht nur Dimensionen der Zukunft, sondern auch seiner bisherigen Vergangenheit.
Darum ist es bereits gemäß 1. und 2. legitim, zu erklären: „Ich wurde (dort und damals) geboren“, ja sogar: „gezeugt“ – obwohl ich damals noch nicht (als) ein Ich war. Aber diese Erklärung drückt mehr als das Dunkel und die Entzogenheit von Anfang überhaupt aus, darein stets erst nachträglich Licht fällt. Sie aktuiert überdies, was in strikt wörtlichem Sinn „Voraussetzung“ meint: Vorausgesetztes liegt voraus; aber vorausgesetzt wird es erst jetzt. Zuvor bestand es als Tatsache oder Ergebnis. Zur Voraussetzung macht es die heutige Setzung.
Aus alldem folgt, dass eine grundsätzliche Ungleichbehandlung von geborenen und ungeborenen Menschen nicht zu rechtfertigen ist (was im übrigen ja – wenngleich mit anderen Konsequenzen – auch Peter Singer vertritt).

Wie aber, wenn ein Mensch – geboren oder ungeboren – nach unserem Kenntnis-Stand nicht nur jetzt, sondern für länger, lebenslang – oder ab jetzt für den Rest seines Lebens – zur Gewissensverantwortung nur sehr eingeschränkt oder gar nicht fähig ist?
Hier ist meines Erachtens die Antwort auf zwei Ebenen zu geben. Einmal immanent in Auseinandersetzung mit Vertretern eines utilitaristischen Naturalismus, sodann im Einbezug der religiösen Dimension.
a) Dem bewusstseinsunfähigen Menschen gleichwohl „Würde“ zuerkennen wäre nach Singer ( in Aufnahme einer Wortbildung R. Ryders) „Speziesismus“. Anmerkung: P. Singer, Praktische Ethik, Stuttgart 1984, Kap. 3: Gleichheit für Tiere? R. Ryder, Victims of Science, London 1975, 16; dies nach: G. Haeffner, Aufgrund wovon kommt einem Menschen die Würde einer Person zu? in: Der Mensch und seine Frage nach dem Absoluten (Hg. P. Ehlen), München 1994, 79-107, 89; 90: „Speziesismus ist gewissermaßen der Rassismus der Tier-Rasse „Mensch“.“ Diesem Begriff müssen wir uns kurz grundsätzlich zuwenden. Zunächst geht es nämlich um die Sonderstellung des Menschen als solchen und überhaupt. Klärend unterscheidet Gerd Haeffner zwischen diesem proskriptiven (= verurteilenden) und einem rein deskriptiven „Speziesismus“ (89-91). Dieser besteht erst einmal darin, eine besondere Einstellung und Handlungsweise Menschen gegenüber zu fordern. Mit welcher Begründung? Weil wir zusammengehören? Das wäre Gruppenegoismus. Oder weil die Spezies „homo sapiens sapiens“ besonders interessant sei? Das wäre ein „naturalistischer Fehlschluß“ (vom faktischen Ist auf ein Sollen – 96).
Tatsächlich wurde die Würde des Menschen hier auch nicht artspezifisch begründet, sondern aus einer bestimmten Seins-Verfassung heraus: dem Beanspruchtsein im Gewissen. Faktisch begegnen uns solche Gewissens-Wesen einzig in der Menschen-Spezies. Die Ausbildung dessen erreichen sie nur durch Erziehung und auf der Basis bestimmter (nicht nur zerebraler) leiblicher Voraussetzungen. Andere Lebewesen haben diese Voraussetzungen grundsätzlich („per se“) nicht; bei Menschen können sie fallweise fehlen. Doch hat man es auch bei diesen mit Menschen zu tun. Damit mündet der Umweg wieder in unserer Frage: Sind solche Menschen dann auch Personen?
„Die Trennung zwischen Menschen, die Personen sind, und Menschen, die keine Personen sind, setzt voraus, dass es in den Menschen, die als Personen gelten, eine Ursache für Personalität gibt, die nicht mit der Ursache ihrer Humanität zusammenfällt. Für diese Annahme spricht nichts. Hingegen spricht alles für die gegenteilige Überzeugung, dass die Entfaltung einer Persönlichkeit das normale Entwicklungsziel jener Prozeßabläufe ist, die mit der Verschmelzung der Keimzellen eines Mannes und einer Frau beginnen“ (106f).
Auch wer aufgrund von Ausfällen jene Grundfähigkeit nicht (gar nicht, noch nicht oder nicht mehr) zu aktuieren vermag, zählt zu der Spezies, welche dieses Vermögen charakterisiert. „Die Idee der Menschenwürde hat also unweigerlich eine speziesistische Konnotation, allerdings nur im deskriptiven Sinn dieses Wortes“ (ebd.)
Konkret begegnet die Person-Würde demnach als Menschen-Würde, als die Würde jedes Menschen. Und gilt dies bei Bewusstseins-Unfähigkeit, dann erst recht in Fällen mehr oder weniger weitreichender Einschränkung und Trübung des Bewusstseins.
b) Sicher auch unter dem Eindruck der NS-Verbrechen scheint hierzulande das Argument für Kranke, Behinderte, Alte – noch? – zu tragen. Nicht mehr trägt es bekanntlich für ungeborene Menschen. Darum haben wir m. E. die zweite der oben gestellten Fragen aufzunehmen: die nach dem Verständnis des Vernunft-Faktums in sich und seiner religiösen Dimension. Das sei aber noch zurückgestellt: hinter den Blick auf die Leibhaftigkeit von Person.

III. Grundsatz Leiblichkeit
1. Im Versuch, den vielfältigen Reichtum des als Leib und Leiblichkeit Erfahrenen auf den Begriff zu bringen, sei jetzt Leib(lichkeit) als Da-sein für andere definiert. Leib wird hier also nicht vom dreidimensionalen Körpersein, von seiner physiko-chemischen Verfassung und biologischen Eigenheit her verstanden – ohne dass wir diese Zugänge bestreiten -, sondern ursprünglich anthropologisch.
Leib ist die Weise, wie ich für die anderen als ihr Objekt da bin: man wird gehört und gesehen, kann beurteilt, berührt, auf unterschiedliche Weise be-handelt werden. Leib ist zugleich in der Weise mein Da-sein für die anderen, dass ich meinerseits als Subjekt auf sie einwirken kann.
Leib ist so der unmittelbarste, nächste Gegenstand unserer Erfahrung, das, was wir immer bei uns haben, und zugleich jenes, wodurch wir, auf den „Wegen“ der Sinne, erst die anderen und die Welt überhaupt in ihren vielen Dimensionen erreichen. Leib ist zugleich und zuvor jenes, das der Mensch nicht nur sich gegenüber hat, sondern worin er selbst ist (Lust und Schmerz des Leibes sind die seinen). Und auch die Welt steht dem Leib nicht bloß als „Außenraum“ gegenüber, sondern stellt sich eher als eine „Ausweitung“ dar. Wo genau verlaufen die Grenzen? Sie ist nur da, sofern wir sie wahrnehmend (M. Merleau-Ponty) „bewohnen“.
So sehr also einerseits zwischen Ich und Leib Unterschiedenheit waltet – ich bin nicht mein Leib oder jedenfalls, wenn man sich doch so ausdrücken will: mein Leib ist nicht ich -, so sehr herrscht hier andererseits eine solche Einheit, dass man ebensowenig sagen kann: ich habe meinen Leib bloß; vielmehr gilt: Der Mensch ist (durch und durch) leiblich, leibhaftig. Anmerkung: Hier zeigt sich übrigens wieder die Begrenztheit von Fromms berühmter Alternative „Haben oder Sein“. Einen Körper mag man haben, eine Pyramide ist ein Körper. Aber schon ein Ich ist man nur so, dass man sich zugleich hat und hält (oder auch seine Haltung verliert). Erst recht im Fall der Leiblichkeit.
Im Vollzug dieser Leiblichkeit erst verwirklicht das Ich sich aus seiner seelisch-geistigen „Mitte“ heraus. Ein Gedanke ist nur als Wort da (und sei es als „inneres Wort“ – „im Kopf“ des Denkenden); Zuneigung, Liebe, Menschlichkeit sind nur in „Tat und Wahrheit“ wirklich, und bei äußerer Verhinderung zumindest im ernsten Wunsch und Willen zu solcher Realisierung.
Aber zugleich ist es dieser Leib, der der Selbstausgestaltung und Verwirklichung des Menschen Grenzen setzt. Er schränkt ihn äußerlich in Raum und Zeit ein und hindert ihn innerlich daran, sich voll und ganz auszusagen, weil Leib in seinem Eigensein (von der physischen Realität bis zur Triebmacht) dem Wollen Widerstand bietet, Kräfte, die eigentlich sich auf das Auszusagende richten, für das Aussagen selbst absorbiert und so die Reinheit der Aussage trübt.
So steht der Mensch in Gefahr, sein Leben in zwei voneinander geschiedenen Bereichen führen zu wollen, wobei aber beide ihre Menschlichkeit verlieren und so das Menschsein des derart Gespaltenen selbst aufs äußerste gefährden. – Eine zweite Fehlform wäre die Beschränkung auf eine der beiden Dimensionen: sei es in leibverachtender „Geistigkeit“, sei es in geistverachtender „Vitalität“; Versuche, die in jedem Fall das Gewählte zerstören und alsbald ins andere Extrem umschlagen.
Ein drittes Programm zielt auf schlicht undialektische Einheit; seine Parole lautet „natürlich“. – Als wäre dem Menschen reine Natürlichkeit überhaupt möglich; als gehörte es nicht zu seiner Natur, in Kulturen zu leben.
Am anschaulichsten zeigt die natürliche Kulturexistenz des Menschen seine Sprache (ein besonderes Konzentrat von Leiblichkeit). Die (Begriffs-)Sprache ist nach allgemeiner Überzeugung ein zentrales Merkmal des Menschen im Unterschied zu den Tieren; doch von Natur aus spricht er keine einzige. Er muss sie lernen, und zwar nicht Sprache schlechthin, sondern stets eine bestimmt besondere. – Die Alternative zu Kultur heißt für den Menschen nicht Natur, sondern Unkultur (also wiederum ein Kulturphänomen); und der Versuch, aus den lastenden Pflichten des Menschlichen in animalische Unschuld zu flüchten, führt statt zu paradiesischem Tiersein zu „brutaler“ Unmenschlichkeit. Anmerkung: Gehört hierher nicht auch ein Teil der zahlreichen Plädoyers für „Zärtlichkeit“? Sartre bestimmt Liebkosung als „das Insgesamt der Zeremonien, die den Anderen zu Fleisch werden lassen.“ (Das Sein und das Nichts, Hamburg 1962, 499), wobei „Fleisch“ den Leib meint, „insofern er das Bewusstsein verklebt“ (498). Ich erinnere an Freuds Rede von der „Klebrigkeit der Libido“. – Ein anderes als Zärtlichkeit(en – auch wo es sich nicht eher um maskierte Tätlichkeiten handelt) und deutlicher human wäre: Zartheit.
Sowenig der Mensch sich adäquat von seinem Leib abheben kann, vielmehr eben dieser bestimmte Mensch nur in diesem Leib ist, so wenig ist der Aufschwung der Begeisterung in Werk und Liebe eine Erhebung aus dem Leib und über ihn hinaus. Wie der Leib die Selbstaussage hemmt und trübt, so wird zugleich einzig in ihm die „unsichtbare Seele“ sichtbar. Im Leib „erkennt“ der Mensch den Menschen (Gen 4, 1), und aus diesem vollmenschlichen Geschehen wird der Mensch.
Im Leib sind wir dem Untermenschlichen verbunden und verhaftet: „Staub“ (Bedürfnis, Trieb), im Leib aber auch schon, als geistigem (nicht erst und bloß durch unseren Geist), sichtbar darüber erhoben. Man denke an Worte wie Antlitz, Blick, Haltung, Sich-Verneigen…
Leib ist (G. Siewerth) „Urhandlung“ des Menschen, sein „Realsymbol“ (K. Rahner), oder auch (B. Welte) sein Wesensmedium, in dem er sein Leben und Dasein, seine Gegenwart setzt. Man sieht, diesen Sachverhalt kann ein Schichten-Denken nicht fassen. Hier geht es um Dimensionen, die zwar unterschieden, aber nicht getrennt werden können, außer um den Preis des Lebens. (So ist ein Würfel nur, was er ist, in Unterschiedenheit wie Ungetrenntheit von Horizontaler und Vertikaler.)
2. Theologische Verfechter sexueller „Unbefangenheit“ zitieren oft das Paulus-Wort „Für die Reinen ist alles rein“ (Tit 1, 15 – wobei mich, offen gestanden, die Selbstgewißheit erstaunt – im Zeitalter der „maîtres de soupçon“). Objektiv geht es um die Freiheit des Menschen und erst recht des „Christenmenschen“ allen Dingen gegenüber, weil „an sich nichts unrein ist“ (Röm 14, 14). Doch gilt auf der anderen Seite nach wie vor das Prinzip, dass selbst der beste Zweck kein (schlechtes) Mittel heiligt. Schon dem zuvor wäre von einer klugen Herrschaft (die also um die Grenzen und Gefährdungen ihrer Autonomie weiß) zu beherzigen, was Paulus nach Korinth schreibt (2 Kor 6, 12): „“Alles ist mir erlaubt“ – aber nicht alles nützt mir. Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich.“ Anmerkung: Früher war hier von zu meidenden „Gelegenheiten zur Sünde“ die Rede – stets nur verklemmt und prüde?

Aber natürlich stellt sich vor allem die Frage, ob es überhaupt „in sich schlechte“ Mittel gibt. So liest man nicht selten, keine Tat als solche könne aus/in sich schlecht sein, sondern nur die sich darin realisierende Absicht, im Blick auf die Situation und die Folgen.
Tatsächlich ist nicht „Tötung“ verboten, sondern – wie es korrekt heißen müßte – eigenmächtiger Totschlag, und nicht jede Falschaussage ist eine (verbotene) Lüge. Aber wie steht es, ganz wertfrei beschrieben, mit „Erzwingung von Beischlaf“ (ob inner- oder außerehelich, mit welchen Mitteln, Gründen, Absichten immer)?
Dass nicht bloßes Nicht-Können hier Grenzen setzt, sollte klar sein – obwohl immer noch auf Tagungen und über Aufsätzen die Titel-Frage begegnet „Dürfen wir, was wir können?“. Damit wäre das Wort „dürfen“ sinnlos geworden; denn selbstverständlich bildet das Gedurfte stets eine Teilmenge des Gekonnten. Das ist eine Anfrage an Konzepte, welche nicht bloß Gestaltungsformen von Geschlechtlichkeit, sondern sie selbst und das Geschlecht als solches (über die Unterscheidung von „sex“ und „gender“ hinaus) als – individuell-gesellschaftliches – Konstrukt sehen wollen.
Demgegenüber ist innerhalb des Könnens auf die Ausdrucksgestalt des Handelns zu achten. Die, weil wir nicht bloß einen Körper haben, sondern leiblich sind. – An einem krassen Beispiel verdeutlicht: Person kann Person töten – und sie dabei achten (siehe den ritterlichen Zweikampf mit seinem Fortwirken in Regeln bzgl. Duell und „Satisfaktionsfähigkeit“ oder bei den Jagdfliegern im 1. Weltkrieg wie dem „roten Baron“); aber kann man auf einer Abendgesellschaft jemandem „hochachtungsvoll“ ins Gesicht spucken?
„Herrschaft“ hat eben nicht nur äußere, sondern auch innere Grenzen. Ein Instrument, eine Sprache „beherrschen“ heißt mitnichten, damit anfangen, was man mag, sondern damit umgehen, „wie es sich gehört“. Darum ist Sprechen, wie M. Heidegger gesagt hat, „zuvor ein Hören“ – auf das, was die Sprache verlangt. Anmerkung: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen – 1965, 254 (Der Weg zur Sprache). Und auch Sexualität ist als menschliche eine Sprache.
Woher aber wird hier etwas verlangt? Damit hat uns der Denkweg wie von selbst zu der vorhin zurückgestellten Frage geführt.

IV. Geschöpflichkeit
1. Welche Theorie der Gewissenserfahrung macht sie verständlich – ohne sie „besserwisserisch“ wegzuerklären? Ohne weiteres dürfte einsichtig sein, dass bio-, psycho-, soziologische Theorien, auch eine Reduktion auf rationales Kalkül die Forderung unbedingten Respekts vor dem (unbedingten) Gewissensgehorsam nicht rechtfertigen können. Gegebenenfalls (wenn der „Preis“ zu hoch wird) dürften sie ihn sogar verbieten. Alle diese Aspekte gehören zum Gesamtphänomen; aber nähme man sie als Basis- und Letzt-Verständnis, hätte man das Negativ-Ergebnis vorentschieden. Und dies darum, weil sie der ergreifend-ergriffenen „Herrlichkeit“ in der Gewissenserfahrung eines jeden (auch derer, die diese Theorien vertreten) nicht ansichtig werden.
Zwei Züge bestimmen, wie bedacht, das Phänomen:
1. der kategorische Anspruchs-Charakter: ein Imperativ (Du sollst!), der sich nicht auf den Optativ-Gehalt (Schön wär’s!) von Werten reduzieren läßt (Selbst von der Mitmenschlichkeit gilt als Wert nur [vgl. Ps 133]: „Wie fein und lieblich…“);
2. das lichthafte Selbstgerechtfertigtsein dieses Anspruchs (er trifft uns eben keineswegs nur als pures Pflicht-Soll).

Wie sind diese beiden Momente zusammenzudenken? Das gelingt einzig – so hier die These – religionsphilosophisch. Anmerkung: Im hiesigen Rahmen läßt sich das nicht mit gebotener Sorgfalt behandeln. J. Sp., Gotteserfahrung im Denken. Zur philosophischen Rechtfertigung des Redens von Gott, Freiburg-München 41995, bes. Kap. 4; ein Konzentrat: Über die Möglichkeit, Gott heute zu denken, in: Handbuch der Fundamentaltheologie (Hg. W. Kern u.a.), 1 Traktat Religion , – Tübingen 2000, 101-116, bes. 111-113. Der jetzige Text greift zurück auf: Spiel-Ernst. Anstöße christlicher Philosophie, Frankfurt/M. 1993, Kap. 2: Warum menschlich sein (sollen)? Zwei Hinweise müssen genügen: Anmerkung: Mitsamt der Erinnerung, dass es jetzt nicht um konkrete Normen von Humanität geht – die sich natürlich Kultur und Gesellschaft verdanken – , sondern um das prinzipielle Gebot, „menschlich“ zu sein, sich ein Gewissen daraus zu machen, eines zu haben.
a) Ein überzeugend kategorischer Anspruch kann nicht nur einzig an Personen ergehen (nicht an Unterpersonales. Darin ja beruht – anstatt auf „Menschheits-Chauvinismus“ – die „Sonderstellung des Menschen“); ein so unbedingtes Gemeintsein muss vielmehr auch von seinem Woher aus wissentlich-frei intendiert sein: als Anspruch gemeint.
b) Darum gebührt ihm Antwort derart, dass die Angesprochenen nicht bloß untereinander ihm gemäß verfahren, sondern ihm auch in wörtlichem Sinne entsprechen: also auch und zuvor direkt ihm selbst antworten, sich als sie selbst ganz auf ihn selbst beziehen. (So soll ich im Disput nicht bloß den Gegner achten; wir haben beide „der Wahrheit die Ehre zu geben“.)
Der Zeitgenosse fürchtet hier gleich Fremdbestimmung und blinden Gehorsam. Doch irrigerweise; ist das Gebotene doch in sich gut; seine Forderung leuchtet ein. Eben diese Verbindung von Einsichtigkeit und Unbedingtheitserfahrung, von Licht und Anspruch im Doxischen, „nimmt den Charakter des rein Faktischen und nicht weiter Begreifbaren an, sobald man unterstellt: non est Deus.“ Anmerkung: B. Schüller, Der menschliche Mensch. Aufsätze zur Meta-ethik und zur Sprache der Moral, Düsseldorf 1982, 28-53 (Sittliche Forderung und Erkenntnis Gottes), 54-88 (Dezisionismus, Moralität, Glaube an Gott), 88. Entweder muss man dann den Anspruchs-Charakter bestreiten: im Rationalismus, der höchstens Klugheit und Unklugheit kennt, doch weder ein „Du sollst!“ bzw. „Du darfst nicht!“ noch Schuld und Sünde – oder man wird die innere Einsichtigkeit preisgeben müssen: indem man das gebieterische Moment im Gewissen als Über-Ich deutet und ihm damit wiederum jede wirkliche Autorität raubt. (Beides zugleich gibt der Dezisionist preis.)
Wird jedoch die Gewissenserfahrung und die ihr entsprechende Würde des Menschen auf den lebendigen, heiligen Gott hin verstanden – wie dies insbesondere John Henry Newman ausgearbeitet hat -, dann sieht der Gewissenhafte sich und alles „vor Gott“, d. h. sowohl von Ihm her wie zugleich auf Ihn hin.
2. Solches „Vor-Gott“ ist dann aber nicht allererst und grundlegend durch den Imperativ zu charakterisieren. Vom Gesollten selbst hieß es schon, es sei gut: das Gute. Das aber gilt erst recht von eben diesem Gesolltsein des Guten: Dass wir gut sein sollen, ist (erst recht) gut. (Man mache eine Gegenprobe: als Strafe für ernstliche Schuld hätte man das Gewissen verloren. – Was im ersten Hinblick wie Erlösung aussehen mag, entdeckt sich tiefer als furchtbar; vegetierte man doch fortan „wie die Ochsen“ – Dan 4, 22.) Dass wir sollen, ist etwas, das wir dürfen.
Ist so, wie oben bemerkt, das Sollen selbst, an sich schon wirklich, auch wenn das Gesollte noch aussteht, dann zeigt sich damit bereits, dass das Gute nicht bloß „Idee“ ist, sondern (wie anfänglich immer) Realität. Erst recht sehen Leben(s)- und Dasein(sverlangen) vor jedem „Sinn“ und „Sollen“ das Sein einfachhin als gesollt und gewollt Anmerkung: Iwan Karamasoff hört das von seinem Bruder Aljoscha: „… gerade vor der Logik das Leben lieben lernen…, dann werde ich auch den Sinn begreifen…“ Die Brüder Karamasoff V 3 (Rahsin], Darmstadt 1979, 374).: als „gute Gabe“. Anmerkung: Wem das zu „heil“ und positiv klingt (obwohl Dostojewski gewusst haben dürfte, wovon er spricht), der hätte zumindest das Leiden an (quantitativer wie qualitativer) Lebensverkürzung und den Protest dagegen verständlich zu machen. Nicht, als sollte das die Hiobs-Frage (das Theodizee-Problem) beantworten; aber verwirft man das Gut-sein der Schöpfung und vor allem des Schöpfers, hat man die Frage eskamotiert: um welchen Preis vor den Klagen und Protesten der Opfer? (Ausführlich: Gotteserfahrung… Kap. 9; Denken vor Gott, Frankfurt/M. 1996, Kap. 10).

Der Schöpfungsglaube der drei abrahamitischen Religionen versteht Sein als Von-Gott-Gewolltsein. Gewollt warum und wozu? Das Absolute – oder nicht so verschämt: der Absolute, der heilige Gott bedarf keiner Ergänzung. So wie das Wahr/Gute schlechthin, unbedingt sein soll, nicht unter der Rücksicht irgendeines Um-zu, so hat auch das Sein keinen Zweck. Darum auch das Seiende nicht – und keinesfalls die Person; wäre ansonst ja nicht sie selbst gemeint, sondern ihr Wozu, und sie nur als Mittel.
Dies darf anderseits nicht (liberalistisch) atomistisch aufgefaßt werden. Dass der Freie nicht „eines anderen wegen“ da ist, besagt keineswegs, er sei nicht für andere da. Und dieses Eingebundensein in einen übergreifenden Zusammenhang hat je nach Selbstand des Seienden verschiedene Gestalt. Nichts ist bloß Mittel; stets sind Eigengesetzlichkeiten zu wahren. Aber dies verlangt einem Stein gegenüber anderes als gegenüber Pflanzen, Tieren sodann und ganzen Tierarten. Einzigartig ist der Status der unbedingt als sie selbst, in ihrem Selbst gemeinten Person. Anmerkung: J. Sp., Die Sonderstellung des Menschen, in: Die Sonderstellung des Menschen in der Evolution (Hg. W. Cyran), Bonn 1990, 59-73.
Sind aber Sollen und Sein und sind die Seienden selbst in der angesprochenen Stufung nicht nur und nicht nur erstlich „eines anderen wegen“ da, dann bleibt einzig übrig, dass sie ihrer selbst wegen da sind. Dies aber können sie selbstverständlich nicht aus sich selbst oder zufällig, aus dem Chaos oder dem Nichts sein. All das verliehe keine Selbstzwecklichkeit (die sich darum auch dem „wertfreien“ Blick reiner Wissenschaftlichkeit entzieht, während sie sich bereits in der ästhetischen Erfahrung zeigt, vollends dem sittlichen Bewusstsein). Selbständigkeit und Selbstwert gehen vielmehr einzig aus dem freien Ja gewährender Freiheit hervor.
Das unbedingte Ja zu einem unleugbar bedingt-begrenzten Wesen (wozu wir uns ebenso unbestreitbar klar verpflichtet erfahren) scheint mir letztlich nur durch die Berufung auf ein Ja zu verstehen, das seinerseits nicht von einem bedürftigen endlichen Wesen – oder auch einer Gemeinschaft solcher – ausgeht (selbst der Staat „gewährt“ die Menschenrechte nicht, er hat sie zu „gewährleisten“), wohinter vielmehr eine absolute Freiheits- und Personal-Wirklichkeit steht. Die aber wirkt als solche unbedürftig und ohne jegliche Not-wendigkeit, in „freiester Freigebigkeit“ (Duns Scotus). Anmerkung: Zur Erläuterung darf noch einmal auf anderwärts Ausgeführtes hingewiesen werden: Der Mensch ist Person, Frankfurt/M. – 1986, bes. Kap. 1, und: Leben als Mit-Sein, Frankfurt/M. 1990, Kap. 6, bes. 112ff.
Sind nun Sein und Seiendes derart Gabe, dann bestimmt sich ihr „Wert“ nicht von ihrem begrenzten und stets graduellen Was her, sondern aus dem Dass ihres Gegebenseins. Dasein und Gewolltsein sind nicht Eigenschaften, sondern Bestimmung (M. Luther) „ab extra“ – die aber nun dem so Gewollten innerlich zukommt: er ist gewollt. Das läßt sich nicht empirisch eruieren noch quantifizieren, aber doch, wie vorgeführt, erfahren und auch diskursiv verteidigen.
Damit haben wir für den Stand des Seienden überhaupt und eigens auf das im Gewissen gemeinte Geschöpf eine neue Perspektive gewonnen. Was und vor allem: wen der Schöpfer ohne Bedingung = bedingungslos und unbedingt gemeint hat, Anmerkung: „Vor aller Leistung, trotz aller Schuld.“ K. Kliesch, Spuren des Geistes, in: Bibel und Leben 28 (1989) 317-332. dem können Mit-Geschöpfe nicht aufgrund von Zulassungs-Bedingungen sein Daseins-Recht bestreiten.
Deshalb dürfen nicht Menschen sich ein Letzt-Urteil über den Wert von Menschen und Menschenleben anmaßen – so sehr wir ständig genötigt sind, zu werten und unserer Wertung gemäß Vorzugs-Entscheidungen zu treffen. Damit verbietet sich die Zerstörung „lebensunwerten Lebens“.
Grenzen sind so aber auch weniger radikalen Eingriffen beim (geborenen oder ungeborenen) Kind – sowie bei Patienten, nicht zuletzt beim Sterbenden gesteckt. Dort nämlich, wo sie an einer Person nicht ihrer selbst, sondern „eines andern wegen“ geschehen. Anmerkung: Gewiß wird ein Kind nicht bloß seinetwegen gewollt. Strengen Sinnes kann es von den Eltern überhaupt nicht rein als es selber und um seiner selbst willen gewollt, sondern in seiner Einzigkeit nur angenommen werden; denn sie kennen sein Selbst vorher nicht. Dennoch hat man zu fragen, wann aus dem legitimen Eigeninteresse von Eltern wie der Gemeinschaft eine „Versklavung“ bereits des Ungeborenen wird. Geschähe z.B. nicht schon die Geschlechtswahl „eines anderen wegen“? Behandelte man nicht schon hier das Kind eher wie ein Produkt, das die Bedürfnisse und Wünsche seiner Zielgruppe zu treffen hat, um an- = abgenommen zu werden? (Hier wären Tests an Gruppen von Kranken gut zu erörtern; erst recht hätte die Diskussion um den „Hirntod“ und die Regelungen zur Organexplantation hier ihren Ort. Anmerkung: Vgl. Zeitschr. f. mediz. Ethik 42 (1996) H. 2. Schließlich sogar – obwohl es auf den ersten Blick paradox scheint – auch die um das Recht auf den „eigenen Tod“: darf über den Menschen doch nicht bloß keine Gemeinschaft, sondern auch er selbst nicht einfach verfügen. Anmerkung: J. Sp., Recht auf den Tod?, in: Zeitschr. f. mediz. Ethik 42 (1996) 57-61.)

Aber damit genug der Prinzipien. In ihrem Licht sind nun konkrete Fragen, Probleme, Forderungen zu erörtern.

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Theo Mönch-Tegeder im “Handruper Forum”

Haben uns die Medien im Griff?

Zum Referenten:
Theo Mönch-Tegeder
Leitender Politik-Redakteur der Neuen Osnabrücker Zeitung

Vortrag im Rahmen des „9. Handruper Forums“

(Zu diesem Abend existieren nur mehr Manuskripttexte)

Begrüßung durch P. Dr. H. Wilmer SCJ, Schulleiter

Sehr geehrte Eltern!
Lieber Schülerinnen und Schüler!
Besonders begrüße ich hier die ehemaligen Schülerinnen und Schüler. Schön, dass Sie wieder in Ihre alte Schule zurückgekommen sind.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Herzlich heiße ich Sie alle heute Abend in der Aula des Gymnasiums Leoninum willkommen, insbesondere begrüße ich die Priester aus den Pfarrgemeinden des Einzugsgebietes. Ich begrüße die Vertreter der Kommunen und politischen Gemeinden aus dem Landkreis Emsland und aus dem Landkreis Osnabrück. Stellvertretend nenne ich unseren Ortsbürgermeister Herrn Josef Stockel. Ebenso begrüße ich die Vertreter der Presse.
Liebe Mitbrüder, liebe Gäste, sehr geehrte Damen und Herren!

Seit einigen Jahren ist das Handruper Forum eine feste Größe im Schulalltag des Gymnasiums Leoninum. Ziel ist es, Schülern, Eltern, Lehrern und Öffentlichkeit zu einer aktuellen und relevanten Thematik ins Gespräch zu bringen.
Für die diesjährige Herbstveranstaltung haben wir Herrn Theo Mönch-Tegeder als Referenten gewonnen. Herr Mönch-Tegeder ist Journalist und Leitender Politik-Redakteur der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. Seit vielen Jahren verfolgt er das aktuelle Politikgeschehen und die gesellschaftlichen und publizistischen Auswirkungen und Veränderungen aus erster Hand.
Herr Mönch-Tegeder, herzlich willkommen in Ihrer alten Schule!

Herr Mönch-Tegeder wird heute Abend zu dem Thema sprechen: „Haben die Medien uns im Griff? Anmerkungen zu einer problematischen Beziehung“.
Für Herrn Mönch-Tegeder ist der Besuch im Leoninum heute Abend eine Art „Heimspiel“, war er doch selbst Schüler dieser Schule. 1971 machte er hier sein Abitur, anschließend studierte er Germanistik, Geschichte und Publizistik. Von 1984 bis 1992 war er Wirtschaftsredakteur der Wochenzeitung „Rheinischer Merkur“, von 1988 bis 1997 Mitglied im Kuratorium der Stiftung Warentest in Berlin, von 1992 bis 1996 Leiter der Parlamentsredaktion des „Rheinischen Merkur“, von 1995 bis 1998 Mitglied der Studiengruppe „Gesamteuropäische Fragen“ bei der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik (DGAP). Seit 1996 arbeitet er als Leitender Politik-Redakteur bei der „Neuen Osnabrücker Zeitung“.

An dieser Stelle möchte ich allen danken, die für die Gestaltung dieses Abends gesorgt haben, ich danke allen, die diesen Raum hergerichtet haben.
Ein spezieller Dank gilt Herrn Oberstudienrat Paul Wöste. Seit vielen Jahren hat Herr Wöste das Handruper Forum aufgebaut, geleitet und zu seinem Erfolg verholfen. Auch für das heutige Handruper Forum hatte Herr Wöste die gesamte Organisation inne. Lieber Herr Wöste, herzlichen Dank für die Arbeit und das Engagement.

Uns allen wünsche ich einen lebendigen Abend. Herr Mönch-Tegeder, Sie haben das Wort.

Vortragsmanuskript Theo Mönch-Tegeder

Lieber Pater Wilmer,
sehr geehrter Pater Strieker, meine Damen und Herren!

Hier heute vor Ihnen sprechen zu dürfen, hat für mich eine besondere Bedeutung. Das letzte Mal hatte ich vor knapp 30 Jahren, im Mai 1971, die Gelegenheit, in Handrup eine Rede zu halten – damals als Sprecher der Abiturienten bei unserer Entlassungsfeier. Dass ich hierher zurück kommen kann, um meine Gedanken vor Ihnen auszubreiten und mit Ihnen zu diskutieren, erfüllt mich mit großer Freude, ich danke darum ganz herzlich für die Einladung.

Vieles, was ich hier sehe, ist neu. Handrup hat sich wirklich herausgeputzt und seine Chance genutzt. Wir waren damals der letzte Jahrgang, den Pater Recker als Direktor zum Abitur führte, Pater Dr. Meyer-Schene war bereits im Haus und bereitete tatkräftig – ich sage einmal – das „neue Handrup“ vor, den Schulverbund und die Anerkennung als Regelschule für diesen Raum Spelle, Freren, Lengerich und darüber hinaus.

Ich kann nur sagen: Mein Kompliment, das Experiment ist gelungen! Handrup genießt einen hervorragenden Ruf. Da meine Kinder wiederum kirchliche Gymnasien besucht haben bzw. noch besuchen – zunächst das Gymnasium Nonnenwerth im Rhein bei Bonn, jetzt die Angelaschule in Osnabrück – weiß ich, dass Handrup den Vergleich nicht zu scheuen braucht.

Vieles zeugt von Dynamik – die Gebäude, die in der Zeitspanne seit meinem Abgang entstanden sind, die schmucken Außenanlagen, nicht zuletzt aber auch das Wagnis der Pilgerreise nach Santiago de Compostela im vergangenen Sommer.

Diese Dynamik, die Bereitschaft Neues zu wagen, kommt hier sinnenfälliger zum Ausdruck als an den meisten vergleichbaren Schulen. Ich denke, dies muss man als großen Pluspunkt bewerten. Denn die Aufgeschlossenheit dem Neuen Gegenüber ist mit das Wichtigste, das Sie den Schülern für ihren weiteren Lebensweg vermitteln können, sofern sie einhergeht mit einem soliden Wissensfundament und einer Werteorientierung als dem Kompass, der durch alle Wagnisse hindurchführt.

Handrup kommt langsam in das Alter, in dem sich Traditionen entwickeln. Dies ist meines Erachtens in dem Kontinuum der rund 80 Jahre ein gemeinsamer Nenner. Und Tradition im wohlverstandenen Sinne bedeutet ja nicht, den erkalteten Herd zu bewahren, sondern das Feuer weiter zu tragen.

Doch trotz all des Neuen ist mir auch vieles absolut vertraut, so als ob ich erst gestern die Schule verlassen hätte. Ich hatte das Vergnügen, bereits im Spätsommer einmal gemeinsam mit meiner Frau und meinen beiden jüngsten Kindern von Pater Wilmer durch das Kloster und die Schule geführt zu werden.

Das war eine Sinnenreise – nicht zuletzt hat die Nase meinem Gedächtnis wieder auf die Sprünge geholfen. Die Kapelle, der lange Gang von der Kirche zu unseren früheren Klassenräumen, der Speisesaal, die Spülküche, der Internatstrakt – sie alle haben ihre jeweils eigenen Gerüche bewahrt, und sobald ich die Luft einsog, tauchten die vielen Geschichten wieder auf, die so lange im Langzeitgedächtnis abgespeichert waren.

Vertraut sind mir natürlich auch noch manche Gesichter und Namen. Pater Strieker kam damals als Jungpriester nach Handrup. Ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen an ein sehr eindrucksvolles Wochenende in dem Heuerhaus, das die Schule seinerzeit als Freizeitheim in der Nähe von Ankum betrieb. An die stundenlange Diskussion mit Pater Strieker, die sich bis tief in die Nacht hineinzog und an die heilige Messe, die wir danach gemeinsam am nächsten Morgen feierten.

Auch Pater Walhorn kam damals als junger Präfekt zu uns. Pater Kunz war mein erster Klassen- und für viele Jahre mein Lateinlehrer. Pater Moormann, den ich eigentlich nur unter dem Namen „Pater Ökonom“ kenne, ist überhaupt schuld, das ich nach Handrup kam. Er hatte auf einer seiner Werbetouren durch die Schulen der Umgebung zunächst meinen Bruder angelockt, dem ich dann im Jahr darauf folgte. Bei Josef Meisner hatte ich zwar nie Unterricht, aber als Lehrer, der sich politisch engagierte, hat er uns ein Vorbild gegeben, es doch auch zu versuchen.

Ich könnte den ganzen Abend so weiter erzählen. Doch Sie sind nicht hierher gekommen, um meine nostalgischen Schwärmereien zu erleiden. Das Handruper Forum hat sich einen Namen gemacht, weil es sich mit wichtigen Zukunftsfragen auseinandersetzt. Im vorigen Jahr sprach Hans Gerd Pöttering zu den großen europapolitischen Fragen, und ich war beeindruckt, als ich las, dass auch der unvergessene Ignatz Bubis bereits hier auf diesem Podium stand. Sein Appell zu engagierter Toleranz ist in dieser Zeit so aktuell wie je.

In diese Prominenz der Namen kann und will ich mich nicht einreihen. Nichtsdestoweniger umreißt auch das Thema dieses Abends in zugespitzter Form eine der ganz wichtigen Zukunftsfragen, die mit dem Eintritt ins 21. Jahrhundert vor uns steht. Wir erleben eine neue technologische Revolution, und das Wesen dieser Umwälzungen basiert auf den Möglichkeiten des schnellen, preiswerten Informationsaustausches, der Verfügbarkeit des Wissens dieser Welt, kurz: wir treten ein in das Zeitalter der Kommunikation.

Jeder, der im zurückliegenden halben Jahr die Weltausstellung in Hannover besuchte, hat einen kleinen Eindruck davon erhalten, wie in Zukunft die Medien unser Leben bestimmen und verändern werden. Ja. Ich glaube, die Expo ist auch noch auf andere Weise zum Symbol für die gewaltigen Veränderungen geworden. Die neuen Möglichkeiten der Informationsverbreitung machen solche Mammutveranstaltungen wie die Expo mehr und mehr überflüssig. Nicht nur, dass vieles, was in Hannover zu erleben war, auch nur eine mehr oder weniger mediale Darstellung des jeweiligen Themas war. Wir erhalten auch fortlaufend so viel Neuigkeiten ins Haus geliefert, dass eine Weltausstellung zunehmend Probleme bekommt, ihre Position als Marktplatz der neuesten Erkenntnisse, Erfindungen und Welttrends zu behaupten.

Bei unserem Thema geht es um die Frage, wie wir diese Revolution des Informationszeitalters gestalten können und müssen, damit sie uns den größtmöglichen Nutzen bringt und zugleich erkennbare Schäden und Nachteile so weit wie möglich vermieden werden.

Die Erfahrungen mit der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts stehen uns noch vor Augen. Eine der schlimmsten negativen Folgen, den Kommunismus, haben wir soeben erst überwunden. Oder wiederholen sich in der informationstechnologischen Revolution die Prozesse, die wir aus der kommunistischen Revolution und auch aus der industriellen Revolution bereits kennen: dass nämlich die Revolution ihre Kinder frisst. Oder dass wir zumindest wie Goethes Zauberlehrling die Geister, die wir riefen, nicht mehr beherrschen?

Dies ist derzeit ein Megathema. Es hat wohl noch nie so viele Medienkongresse gegeben wie derzeit, die alle irgendwie um diese Frage kreisen.

Ich war sehr verwirrt, als ich vor einem Jahr zum Mediensonntag an einer großen, von der Kirche veranstalteten Diskussion zu genau diesem Thema „Haben uns die Medien im Griff?“ teilnehmen durfte. Eingeladen war außer mir noch der Chefredakteur des Kirchenbote, Bernhard Remmers, und wir hatten uns so abgestimmt, dass wir ein Streitgespräch führen wollten _ der eine sagt und begründet: Ja, die Medien haben uns im Griff. Dieser Part sollte mir zufallen. Der andere, Bernhard Remmers, wollte die Gegenposition einnehmen. Doch dann malte der Leiter der Veranstaltung, ein weithin anerkannter Pädagoge, in seinem Eingangsreferat ein derart pessimistisches Bild voll von Medienskepsis, dass ich mich spontan entschloss, trotz aller Absprachen auch dagegen zu halten.

Ich war geradezu verwirrt darüber, dass von einem wirklich klar und nüchtern denkenden Mensch eine Sicht vermittelt wurde, das Sie und ich dem Fernsehen, dem Rundfunk und den Zeitungen mehr oder weniger hilflos ausgeliefert seien. Ein wenig erinnerte es mich daran daran, dass noch im Jahr 1832 der damalige Papst Gregor XVI. in seiner Enzyklika „Mirari vos“ eine wütende Abrechnung mit sämtlichen politischen und geistigen Freiheitsforderungen vorlegte, die sich aus dieser und den folgenden technischen Entwicklungen und den Erkenntnissen der Aufklärung herleiteten. Er sprach vom „Wahnwitz“ der Denk- und Redefreiheit. „Hierzu“, so der Papst, „gehört auch jene schändliche, nicht genug zu verabscheuende Freiheit der Presse, die einige zu fordern wagen.“

Kürzlich wohnte ich einem Vortrag von Renate Köcher, der Geschäftsführerin des Instituts für Demoskopie in Allensbach, bei, die auf neue sozialwissenschaftliche Daten hinwies, die in diesem Zusammenhang wichtig sind und von einem ähnlichen Pessimismus geprägt waren. Wenn gefragt wird, wer derzeit die gesellschaftliche und politische Richtung bestimmt, stehen in der Rangfolge der Antworten an erster Stelle die Wirtschaft, die Konzerne, die Bosse. An zweiter Stelle werden die Medien genannt, erst an dritter Stelle – und zwar mit großem Abstand – die Parteien und die Politiker. Stellt sich hier vielleicht die Pyramide der Macht, das Fundament unserer Demokratie, auf den Kopf?

Gleichzeitig offenbart sich eine große Unzufriedenheit _ eine Stimmung, die sich gewissermaßen von der Politik auf die Medien überträgt: die machen mit uns, was sie wollen. Denen ist nicht zu trauen. Man kann ihnen nicht glauben. Nun ist diese Einstellung so alt wie die Massenmedien selbst. Immerhin gehört der Satz „Der lügt wie gedruckt“ zu unserem Sprichwörterschatz. Was immerhin zeigt, dass die Frage, um die es uns heute geht, das Spannungsverhältnis seit jeher beschreibt.

Es kommen aber neue Vorwürfe hinzu: Vor allem der, dass die Medien ihre Rolle als vierte Macht im Staate überziehen. So muss man wohl die Klage von Thomas Goppel, des Generalsekretärs der CSU verstehen, der kürzlich sagte: „Wir werden manipuliert wie nie zuvor“. Journalisten, so sein Vorwurf, schürten nicht nur Konflikte, sondern steuerten durch die Themenauswahl auch die Wahrnehmung und machten somit selbst Politik. Ähnliches ist aus dem Mund von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse und sogar _ natürlich mit der gebotenen diplomatischen Zurückhaltung eines Staatsoberhaupts _ von Bundespräsident Johannes Rau zu vernehmen.

Dazu passt dann auch auf der anderen Seite eine neue Marketingstrategie vor allem der großen Publikumsmedien, die sich explizit „agenda setting“ nennt – also „Bestimmen der Tagesordnung“. Udo Röbel, der Chefredakteur der „Bild“-Zeitung bekennt ganz freimütig und stolz: „Ich muss jeden Tag die Tagesordnung für die Leser festlegen“. Und dabei spiele die Politik inzwischen kaum noch eine Rolle, sie werde von Themen wie „Big Brother“ übertroffen.

Und noch aus einer dritten Quelle speist sich die Unzufriedenheit: Inzwischen erleben wir ein Überangebot an Medien. Wer über einen Kabelanschluss verfügt oder eine Satellitenschüssel auf dem Dach hat, kann aus mehr als zwanzig Fernsehprogrammen auswählen, hinzu kommen Hunderte von Rundfunkprogrammen. In den Kiosken buhlen Tausende von Zeitungen, Zeitschriften und Magazinen um unsere Gunst. Unübersehbar ist das Angebot an CDs und Videokassetten. Wir kommunizieren per E-Mail und Telefon zu absolut erschwinglichen Preisen. Ich erlebe an meinen Kindern, wie sie Kontakte in alle Welt aufbauen. Das Wissen der Welt steht uns in Minutenschnelle zur Verfügung.

Alles zusammen genommen leben wir bereits jetzt in einem Schlaraffenland der Information, Kommunikation und Unterhaltung. Aber hier trifft der hämische Satz zu, dass das Gegenteil von „gut“ nicht etwa „schlecht“ heiße, sondern gut gemeint. Das Märchen vom Schlaraffenland erzählt uns ja bereits, wie es weitergeht. Die Gesellschaft leidet angesichts des Überangebots unter Übersättigung, sie sind unfähig zur Auswahl und konsumiert stattdessen einfach wahllos.

Ich war lange Jahre als journalistischer Sprecher im Kuratorium der Stiftung Warentest tätig. Das Kuratorium ist dort so etwas wie der Aufsichtsrat, der für die inhaltlichen Fragen zuständig ist. Sofort nach dem Fall der Mauer wurde die Stiftung auch in Ostberlin und der ehemaligen DDR sehr aktiv. Es gab Hunderte und Tausende von Beispielen dafür, wie die Menschen der neuen Länder von dem Warenangebot, das auf sie einstürmte, überwältig wurden – im wahrsten Sinne. Harmlos ist ja noch die Geschichte von demjenigen, der nun im Kaufhaus des Westens ein Glas Senf erstehen wollte und mit einem Schlag vor einer Wand mit Hunderten verschiedenen Geschmacksrichtungen steht. Schlimmer ist, dass den Menschen Waren, Versicherungen, Dienstleistungen angedreht wurden, in denen Preis und Leistung in keinem Verhältnis stand. Die Schuldnerberatungsstellen haben uns damals wirklich Geschichten erzählt, die einem die Zornesröte ins Gesicht trieben, bei denen man sich aber andersherum auch manches Mal fragte: Wie kann man nur so dumm sein? Die Menschen wussten es nicht besser. Sie waren auf die neue Situation nicht vorbereitet.

Ähnlich ergeht es uns derzeit mit dem Medienangebot. Wir werden überrollt von der Informations- und Unterhaltungsflut und drohen darin zu ertrinken. Wir wissen nicht, wie wir den Kopf über Wasser halten sollen. Wir erfahren immer mehr, aber wissen wir darum auch mehr? Wer hat es eigentlich zu verantworten, dass wir mit Informations- und Unterhaltungsmüll geradezu vollgestopft werden?

Die Tatsache, dass sich viele dem Überangebot hingeben, wird als der stärkste Beweis dafür genommen, dass uns die Medien in den Griff nehmen wollen. Denn die Zeit, die wir für die Mediennutzung aufwenden, wird immer länger, und raubt die Aufmerksamkeit von Dingen, die gewiss wichtiger wären: Mitwirkung in Vereinen etwa, soziale Zuwendung, aber auch die ganz persönliche Weiterbildung.

Es ist ja auch nicht so, als ob man keine Manipulationsabsichten erkennen könnte. Regelmäßig werden bestimmte Kampagnen gestartet, wird Hysterie erzeugt, die dann genau so schnell wieder abflacht, weil es an der Zeit ist, eine neue Sau durch’s Dorf zu jagen.

Ja, die Medien sind stark, stärker als jemals zuvor. Man sieht es schon daran, dass sie zur Schlüsselbranche aufgestiegen sind, die das Wachstumstempo und die Entwicklung der Volkswirtschaft maßgeblich bestimmen – so wie zuvor die Auto- oder die Chemieindustrie.

Und doch muss vor dieser Argumentationslinie ein Stoppschild aufgestellt werden, denn sie führt in die Irre. Die Behauptung ist falsch, dass die Medien uns im Griff haben, dass wir der Macht der Medien ausgeliefert wären. Ich behaupte, es ist eher umgekehrt: Die Konsumenten haben die Medien im Griff. Das macht die Sache freilich nicht leichter, und darum ist die Unterzeile des Vortragstitels heute Abend in jedem Fall richtig: Anmerkungen zu einer problematischen Beziehung. Denn Probleme und Schwachstellen gibt es mehr als genug.

Warum wehre ich mich so entschieden gegen den Vorwurf, dass die Medien die Menschen im Griff haben? Seien wir doch bitte nicht so geschichtsblind. Den Zustand, dass die Medien die Menschen im Griff hatten, konnten wir lange genug aus nächster Nähe beobachten – nämlich in der DDR wie in allen anderen sozialistischen und totalitären Staaten. Hier hatten – in einigen Ländern wie Kuba und China muss man sagen: haben – Zeitungen, Fernsehen und Rundfunk in der Tat nur die eine Aufgabe und das eine Ziel: die Menschen zu manipulieren, die Wahrheit zugunsten der Ideologie zu unterdrücken.

Es ist nicht nur, aber auch das Verdienst der freiheitlichen Medien, dass in den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang die Sehnsucht nach Freiheit den Sieg über die Unterdrückung und die Bevormundung davontragen konnte. Nicht ohne Grund versuchen autoritäre Regimes wie die Mullahs in Iran Parabolantennen zu verbieten, weil sie wissen, dass sie die Herrschaft über die Menschen verlieren, wenn ihnen die Kontrolle über die Medien entgleitet.

Ich erinnere mich gut an einen Termin aus meiner Bonner Zeit, bei dem der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher eine hochrangige chinesische Delegation empfing. Drängend redete er auf seine Gäste ein, die Öffnungspolitik voranzutreiben – mit dem Argument, dass mit dem Fortschreiten der neuen Informationstechnologien die Abschottung ohnehin nicht mehr aufrecht zu erhalten sei. Es gehe nicht mehr darum, die Öffnung zu verhindern, sondern nur noch darum, sie zu steuern. Nun versucht die chinesische Regierung, das Internet zu überwachen – ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Und es ist gut, dass es zum Scheitern verurteilt ist.

Was wir bei uns auf dem Medienmarkt erleben, ist ein beinharter Wettbewerb. Und dieser ist ein Wesensmerkmal der Freiheit und der Demokratie. Das sollten wir niemals vergessen. Wir können auswählen, was wir lesen, hören, sehen wollen, wie wir uns unterhalten lassen und uns informieren wollen. Der Zustand, den wir jetzt beklagen, ist das Ergebnis einer Politik, die gerade darauf ausgerichtet war, die Freiheit durch eine Vielfalt der Information zu sichern und auszubauen.

Lassen Sie uns einen ganz kurzen Blick in die Vergangenheit werfen. Es ja sind stets treibende Kräfte, Wille und Absichten erforderlich, um solche Entwicklungen anzustoßen, und es ist wichtig, ihnen nachzuspüren. Bei der Einführung des privaten Hörfunks und Fernsehens trafen sich politische und unternehmerische Interessen. Die Medienkonzerne und die werbungstreibende Industrie hatten einerseits das gewaltige neue Marktpotential im Blick, das sich ihnen da bot. Die damalige christlich-liberale Bundesregierung unter Helmut Kohl war dringend daran interessiert, ein Gegengewicht zu den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten zu etablieren, die ihr zu links waren.

Wie sich die Debatte doch ähnelt und immer wiederholt: Schon bei der Gründung des ZDF stand die Absicht Pate, das politische Spektrum durch Wettbewerb besser auszutarieren. Bei der Einführung des Privatfunks lautete das Hauptargument wiederum, der „Rotfunk“ manipuliere die Wähler, darum müsse durch ein kommerziell orientiertes Angebot die Meinungsvielfalt im elektronischen Bereich wieder hergestellt werden.

Und nun kommt auch noch das schier unerschöpfliche Internet-Potential hinzu, das mit einem Schlag und voller Wucht in unsere Häuser drängt. Auch dahinter steckt selbstverständlich wiederum ein Wille: Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs verlor das World Wide Web der US-Armee zumindest teilweise seine Exklusiv-Funktion, jedenfalls war es überdimensioniert.

Es basierte auf einer grundlegend anderen Idee als das Telefonnetz, das mit festen Relaisstationen arbeitet. Durch Computerleistung wurde sichergestellt, dass eine Information im Falle eines Angriffs auf die Netzinfrastruktur dennoch seinen Weg von A nach B findet, wenn auch nur irgendeine Verbindung besteht. Die Information sucht sich ihren Weg. Das heißt: Wenn ich eine Mitteilung von Handrup nach Lengerich schicken will und die direkte Leitung unterbrochen ist, läuft die Nachricht im Zweifel rund um die Erde, von Nord nach Süd und zurück, sogar noch durch das Weltall, aber sie wird alles tun, um ihr Ziel zu erreichen.

Dieses System ist so genial, dass es geradezu nach weiterer Nutzung drängte. Es überspringt praktisch alle Barrieren, die der Kommunikation bis dahin im Wege standen. Es ist geradezu darauf angelegt, politische oder geografischen Grenzen zu ignorieren. Zum anderen bietet die neue Technologie so viel Speicher- und Verarbeitungskapazität, dass die Verfügbarkeit des Wissens ebenfalls praktisch unbegrenzt ist. Ich meine schon, dass dieser Erfindung eine ähnliche Bedeutung zukommen wird wie der Erfindung des Buchdrucks.

Ist es nicht ein absolut positives Zeichen, dass das Ende des Kalten Krieges zugleich ein Kommunikationsnetz hervorbrachte, das die Welt enger zusammen spannt als jemals zuvor? Merkmal des Kalten Krieges war die Trennung, die Welt war zerschnitten. Und nun gebiert der Zusammenfall dieser Weltordnung zugleich ein Mittel, nicht nur dieses Trennende aufzuheben, sondern die Vorstellung vom globalen Dorf Wirklichkeit werden zu lassen. Bei allem schädlichen Nebenwirkungen und Missbrauchsmöglichkeiten: Es muss doch festgehalten werden, dass der leitende Wille, der hinter der Gestaltung der Medienlandschaft, von humanen, demokratischen, freiheitlichen Werten getragen wird.

Dennoch bleibt als Tatsache bestehen: Der Wettbewerb führt zu jener Vielzahl an Angeboten, die uns oftmals über den Kopf zu wachsen scheint. Schauen wir uns die Situation einmal genauer an: Das Bestreben der Macher besteht in der Regel nicht darin, ihre Kunden zu indoktrinieren und manipulieren, sondern es ist viel einfacher gestrickt: Sie wollen ihren Kunden genau das geben, was diese von ihnen erwarten. Sie sind auf der Jagd nach Abnehmern ihrer Ware.

Was wir erleben, ist, dass der Wettbewerb zu einer bisher ungekannten Ausdifferenzierung führt. Der Vorteil ist: Anstatt Einheitsbrei konsumieren zu müssen, kann jeder alles nach seinem individuellen Geschmack aussuchen. Das gilt auch für den Medienmarkt. Wir haben so gute Fernseh- und Rundfunkangebote wie nie zuvor. Ich erinnere an die Spartenkanäle für Kultur und Politik, Arte und Phoenix. Sie sind Ergebnis der Ausdifferenzierung. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten bieten, obwohl sie nach ihrem Auftrag nur die Grundversorgung sicherzustellen haben, nicht nur ein oder zwei, sondern bis zu sechs Rundfunkprogramme an, für jeden Geschmack etwas, und dazu ein sehr weitgehend aufgefächertes Fernsehangebot.

Auch die Zeitungslandschaft verändert sich ähnlich. Schauen Sie nur einmal in die Kioske an größeren Bahnhöfen oder in Flughäfen. Sie finden ein maßgeschneidertes Angebot für jedes Interesse, jeden Geschmack, jedes Niveau. Sobald sich eine Marktlücke öffnet, wird sie auch schon besetzt. Und viele – alte wie neue – Produkte bleiben bei der Marktauslese immer wieder auf der Strecke.

Ich weiß aus eigener leidvoller Erfahrung aus meiner Tätigkeit bei der Wochenzeitung „Rheinischer Merkur“, wie schwierig es ist, dort überhaupt einen Auslegeplatz zu erobern. Es wird im wahrsten Sinne des Wortes um jeden Millimeter gekämpft. Und Ausgabe für Ausgabe neu entscheiden die Umsatzzahlen, wer sich wo präsentieren darf – und ob überhaupt.

Erlauben Sie mir einen Blick auf unsere Region und die Zeitung, für die ich tätig bin. Von der sogenannten Monopolstellung, die sie einmal genoss, ist nicht viel übrig geblieben, und damit ist der oft gehegte Argwohn, hier werde infiltriert, weitgehend obsolet geworden. In der Meinungsbildung gibt es kein Monopol. Für den überregionalen Teil traf der Monopolvorwurf ohnehin niemals zu.

Wir konkurrieren nicht nur mit Funk und Fernsehen, sondern auch mit den überregionalen und benachbarten regionalen Tageszeitungen. Und Sie können mir glauben: Die Auflage von „FAZ“ über „Frankfurter Rundschau“ bis zu „Bild“ in unserem Verbreitungsgebiet ist nicht gering. Wir müssen Ihnen eine Zeitung liefern, die mit diesen Publikationen mithalten kann.

Im Lokalen gelten etwas andere Bedingungen: Hier hat die Zeitung eine ausgesprochen starke Stellung, schlicht deswegen, weil ein Wettbewerb mehrerer Lokalzeitungen angesichts der dünnen Besiedlung des Raumes und der Begrenztheit des Werbemarktes nicht zu führen wäre. Darum muss hier das Prinzip der inneren Vielfalt gelten.

Das gebietet sich für die Redaktion schon aus dem wichtigsten Grund, den man sich denken kann, der Sicherung der eigenen Existenz. Gemeinsames Ziel der Redaktion wie der Verlagsleitung muss es sein, einen hundertprozentigen Marktanteil im Verbreitungsgebiet zu erreichen. Dies ist aber gewiss nicht möglich, wenn ich zugleich versuche, mein Publikum zu indoktrinieren, sondern nur, wenn ich mich bemühe, alle Strömungen gleichermaßen zu bedienen. Jeder muss sich in seiner Zeitung wiederfinden.

Dennoch gilt auch hier: Kaum jemand informiert sich nur aus einer Quelle. Es gibt lokalen Rundfunk, Gemeindeblätter, und auch die großen Sender wie der NDR dringen immer weiter in die regionale und sogar lokale Berichterstattung vor.

Ich sage immer wieder: Unser Ziel ist nicht, unsere Leser zu beeinflussen, gar zu manipulieren, sondern dazu beizutragen, dass sie ihre Rechte und Pflichten als mündige Bürger wahrzunehmen. Unsere Kommentare sollen zum Nachdenken anregen – und das bedeutet dann ja auch: zum Widerspruch anregen. Wichtig ist, dem Leser zu helfen, eine klare Position zu beziehen – einerlei, welche es am Ende sein mag.

Die britische „Times“ ist einmal mit einer Werbekampagne Kampagne berühmt geworden, die eigentlich das Ideal der meisten Journalisten auf den Punkt bringt. Die Plakate auf Bahnhöfen und Flughäfen zeigten Strichzeichnungen, die markante politische und gesellschaftliche Ereignisse darstellten. Unter den Plakaten waren Kästen mit Buntstiften angebracht. Und über allem ragte der sinngemäße Slogan: Wir liefern Ihnen eine möglichst präzise Beschreibung der Wirklichkeit. Das Einfärben müssen Sie schon selbst besorgen.

Und ebenso wichtig ist unser aller Ziel: Leser, Hörer, Zuschauer zu halten und möglichst neue hinzu zu gewinnen. Die Quoten- und Auflagenstatistiken werden verfolgt wie die Fieberkurve eines Kranken. Sobald es irgendwo Einbrüche gibt, muss darauf reagiert werden. Darum ist nicht die erste Frage, welche Zeitung oder welches Rundfunk- oder Hörfunkprogramm wir Journalisten gerne machen würden, sondern welche Zeitung wir machen müssen, damit Sie sie uns abkaufen. Die Medien sind ihren Kunden zu Willen.

Grundsätzlich lässt sich darum auch überhaupt nicht verhindern, dass die Ausdifferenzierung nicht nur nach oben – also in Richtung Qualitätsverbesserung – verläuft, sondern sich ebenso in Richtung Niveaulosigkeit, Emotionalisierung, Befriedigung der Sensationslust verläuft.

„Neugier als Laster und Tugend“ heißt einer der grundlegenden, schon etwas älteren kommunikationswissenschaftlichen Aufsätze. Diese Ambivalenz werden wie niemals abschütteln können, müssen uns aber bemühen, sie immer wieder neu auszutarieren. Die Journalisten als Sachwalter der Neugier haben es stets mit beiden Seiten dieser einen Medaille zu tun. Wir sind nicht nur dazu da, Ihnen den allerneuesten Erkenntnisgewinn zu liefern, sondern auch den Stoff für das ganz alltägliche Gespräch, den Tratsch. Ich werde darauf später noch zu sprechen kommen.

Lassen sie mich aber zunächst die Frage „Haben uns die Medien im Griff“ noch von einer anderen Seite her aufgreifen. Politisch sind die Journalisten und die Medien freier und unabhängiger als sie jemals zuvor waren, sie haben sich emanzipiert. Die Zeiten der parteiengebundenen Presse sind vorbei, die Einflussnahme der Politik auf die Medien schwindet. Die großen Zeitungen lassen sich zwar nach ihrer Grundströmung einordnen, nicht aber mehr für die eine oder andere Partei einspannen. Und gerade dies würde ich nach all den heißen Debatten der sechziger, siebziger und achtziger Jahre und all den Verdächtigungen, denen die Medien seinerzeit _ zu Recht oder zu Unrecht _ ausgesetzt waren, als riesigen Fortschritt bezeichnen

Die „Welt“ kritisiert die CDU absolut selbstbewusst, wenn sie dieses für notwendig erachtet, und schont die Partei keineswegs, nur weil ihr eine gewisse Nähe dorthin nachgesagt wird. Umgekehrt ist die linke „Frankfurter Rundschau“ eine der schärfsten Kritiker dieser rotgrünen Koalition und dabei alles andere als zimperlich. Uns würden die Leser einen Ton, wie er dort manchmal angeschlagen wird, übel nehmen. Auch das Fernsehen konnte sich dank der neuen Programmvielfalt ein ganzes Stück weit von der politischen Einflussnahme befreien.

Unbestritten ist es so, dass über das Fernsehen Wahlen gewonnen oder verloren werden. Elisabeth Noelle-Neumannn hat die Funktionsweisen mit dem wichtigen Modell der „Schweigespirale“ sehr genau herausgearbeitet und beschrieben. Dennoch ist es auch wiederum falsch anzunehmen, die Präferenzen der Medienleute würden sich direkt in Wähler-Mehrheiten niederschlagen, die Fernsehleute könnten sich also den nächsten Kanzler praktisch aussuchen. Die 16 Kanzlerjahre Helmut Kohls belegen genau das Gegenteil. Er war nie ein Freund der Medien und die Medien mochten ihn nicht sonderlich. Und doch hat er fünf Wahlen nacheinander gewonnen.

Dass die Politik nicht mit den Medien zufrieden ist, hängt gewiss auch mit der Politik selbst zusammen. Natürlich ist der Ton härter geworden. Der Wettbewerb wird ja nicht nur um die Leser geführt, sondern auch um die Nachrichten, mit denen wir unsere Leser beeindrucken wollen, um ihnen zu beweisen, dass es richtig ist, unser Produkt zu kaufen. Daher wird die Politik jetzt deutlich stärker von den Medien kontrolliert. Es ist kein Zufall, dass die Aufklärung der jüngsten Skandale sehr stark von den Medien vorangetrieben wurde. Und dass es dabei auch zu Übertreibungen und Fehlinformationen kommt, ist ebenfalls unbestritten.

Aber niemand wird behaupten, dass die Skandale Medieninszenierungen sind. Dieses Thema allein würde eine ganzen Abend füllen. Denn hier werden auch sehr stark unter dem Deckmantel der Anonymität Rivalitäten zwischen und noch mehr innerhalb der Parteien über die Medien ausgetragen. Nicht, dass die Rivalitäten generell stärker geworden sind. Sie werden nur stärker auf der offenen Bühne ausgetragen. Und im Zweifel trifft dann die Verdammnis – wie ich es schon im griechisch-Unterricht bei Herrn Hörnschemeyer gelernt habe – den Boten, der die schlechte Nachricht überbringt, aber nicht denjenigen, der für die schlechte Nachricht verantwortlich ist.

Diese Wächterfunktion der Medien ist gegenwärtig Gegenstand heißer Debatten innerhalb unserer Zunft. Der überwiegende Teil der Kollegen, die sich zu Wort melden wie auch der Politikwissenschaftler ist der Auffassung, dass die Aufmerksamkeit der Medien die Selbstreinigung der CDU wenn nicht erst ermöglicht, so doch erheblich beschleunigt hat. Es gibt aber auch zahlreiche selbstkritische Kommentare, die dem Eindruck, den manche Politiker zu verbreiten suchen, nämlich sie seien uns praktisch wie Freiwild ausgeliefert, vollständig widersprechen.

Zum einen hat sich beim Parteispendenskandal erwiesen, wie schmal die personelle Basis des investigativen Journalismus in Deutschland ist. Die Kollegen, die sich wirklich ernsthaft um die Aufklärung einer Affäre wie der bei der CDU kümmern können, lassen sich an zwei Händen auflisten. Es sind lediglich die großen Tageszeitungen und die Magazine wie „Spiegel“ und „Focus“, die diese Aufgabe in ihrer vollen Dimension wirtschaftlich stemmen können.

Wenn Sie so etwas betreiben wollen, müssen sie nicht nur die personellen Ressourcen dafür vorhalten _ und diese Kollegen sind schon recht teuer _, viel stärker schlägt das presserechtliche Risiko zu Buche, in Prozesse verwickelt zu werden mit unkalkulierbarem Ausgang. Praktisch muss den entspechenden Kollegen ein mindestens ebenso starker iuristischer Apparat an die Seite gestellt werden.

So gibt es die nicht unbegründete Meinung _ auch ganz seriöser und konservativer _ also der Union nahestehender Politologen, Kommunikationswissenschaftler und Sozialwissenschaftler, die als Resümee aus der Affäre ziehen, es sei von den Medien nicht zu viel, sondern eher zu wenig aufgeklärt worden. Die Hauptarbeit habe die CDU unter Wolfgang Schäuble und Angela Merkelselbst geleistet.

Und selbstkritisch müssen wir Journalisten uns eingestehen, dass es trotz mancher Indizien uns nicht früher gelungen ist, dem System der Schwarzgeld- und Anderkonten auf die Spur zu kommen. Erst als Helmut Kohl die Machtinstrumente entzogen waren, gelang es, in diesen abgeschotteten Bereich einzudringen. Ängstlich stellen wir uns alle miteinander die Frage: Könnte es sein, dass wir gegenüber der Schröder-Regierung noch einmal so versagen?

Es zeigt auch, wie sehr wir doch über feingesponnene Drähte von den Schaltstellen der Politik abhängen. Es wird Gunst gewährt und entzogen. Oft steht ein großer bürokratischer Apparat journalistischen Einzelkämpfern gegenüber. Der Eindruck der Masse, der bei dreieinhalb tausend in Berlin akkreditierten Journalisten entsteht, täuscht insofern. Hier handelt es sich ja durchweg nicht um Teams, sondern um Kollegen, die mehr oder weniger einzeln für ihre jeweiligen Auftraggeber arbeiten.

Und vor allem fehlt uns oft genug die Ausdauer für eine intensive Langfrist-Beobachtung. Nun, da das öffentliche Interesse an der CDU-Affäre nachlässt, lässt auch die Beobachtungs-Intensität der Medien nach. Das hat zur Folge, dass durchaus nachträglich noch politische und juristische Legenden aufgebaut werden könnten, ohne dass wir es bemerken. Dieser Spotlihght-Journalismus macht doch recht kurzsichtig und gibt stets nur ein sehr enges Blickfeld frei.

All dies sind kritische Fragen, die schon aufkommen, wenn wir uns das hohe Niveau der Medienwirklichkeit anscheuen. Zum Wettbewerb gehört aber auch – und das darf nicht verschwiegen werden _ eine Ausdifferenzierung nach unten. Ein Teil der Medien wird immer niveauloser. Diese Niveau-Absenkung ist eines der größten Probleme der Medienwirklichkeit. Hier versagt oft genug das Berufsethos, weil die Anbieter von „big brother“, Gewalt und pornografischen Darstellungen einzig und allein auf die Quoten schauen und nicht auf die Auswirkungen, die von ihrem schmutzigen Geschäft ausgehen.

Die Liberalität wird zur Libertinage. Der Wettbewerb artet aus und wird darum in Zukunft wieder stärker gezügelt werden müssen. Es ist ja gerade das Kennzeichen der Sozialen Marktwirtschaft, dass sie dem Markt dort Grenzen setzt, wo er sich gegen die Menschen und die Gemeinschaft selbst richtet. Ich bin sicher, dass wir früher oder später eine medienpolitische Debatte in diesem Sinne bekommen.

Wir brauchen aber nicht einmal so tief absinken und uns über die Schmuddelsender zu erregen. Insgesamt besteht in den Medien die Neigung zur Emotionalisierung, Dramatisierung, Zuspitzung, Übertreibung und damit zur Verzerrung der Wirklichkeit. Dies Teil des Kampfes um jeden Leser, jeden Hörer, jeden Zuschauer. Wir kennen das aus der Markenartikelwerbung, etwa beim Bier oder bei Zigaretten.

Wenn sich Produkte beinahe gar nicht unterscheiden, sie aber dennoch als einzigartig dargestellt werden müssen, um sie von der Konkurrenz abzuheben, bedient man sich der emotionalen Aufladung. Bei Becks-Bier spürt man dann die Weite und das Abenteuer des Meeres auf einem alten Segelschiff, bei Jever die friesisch-herbe Landschaft, bei Königs-Pilsener fühlt man sich wie ein König. Und doch ist alles nur Bier. Medien, die ebenfalls alle mehr oder weniger dasselbe zu verkaufen haben, bedienen sich des gleichen Instruments. Da wird ein Mord zur Blutorgie oder Franzi von Almsiek als Franzi von Speck verhöhnt, weil sie die Erwartungen auf der Olympiade nicht erfüllt. Und hier wird es gefährlich.

Eine andere Methode ist die Exklusiv-Stories zu generieren. Es gibt Zeitungen, die täglich mindestens eine Geschichte im Blatt stehen haben wollen, die andere nicht haben. Dies ist gar nicht so leicht, weil der Medienmarkt absolut dicht besetzt ist. Wir selber mischen mit unseren Exklusiv-Interviews in diesem Geschäft mit, und ich weiß, wovon ich rede. Es ist leicht in dieser geschwätzigen Welt, Interview-Partner zu finden, aber schwer, solche zu finden, die etwas zu sagen haben, das möglichst wiederum seinen Niederschlag in den anderen Medien findet.

Ich nehme für uns in Anspruch, absolut sauber und zuverlässig zu arbeiten. Aber es gibt genügend Beispiele dafür, dass Nachrichten in die Welt gesetzt werden nach dem Motto: Wenn es nicht stimmt, kann der Betroffene es ja dementieren, dann ist es wiederum eine Nachricht. Oder diese unseriöse Art des „Borderline“-Journalismus, wo erfundene Geschichten und Interviews als wahr verkauft werden sollen, nach der Devise: Nichts ist wahrer als die Dichtung. Hier finden viele Verfehlungen statt.

Es gibt aber auch die Verzerrung der Wirklichkeit in einer anderen Richtung, nämlich der Verharmlosung. Auch dies wird unter uns ununterbrochen heiß diskutiert: Was können wir unseren Lesern, Hörern, Zuschauern noch zumuten? Die Grausamkeit und Perversion in den Kriegen unserer Tage ist unvorstellbar. Dürfen wir alle Bilddokumente, alle Reportagen bringen oder kommen wir dabei schon in die Gefahr, niedere Instinkte zu befriedigen?

Ein simples Beispiel: Während der Aufstände in Indonesien kam es teilweise zu blutigen Gemetzeln. Da zeigte das öffentlich-rechtliche Fernsehen siegestrunkene Milizionäre, die mit abgehackten Köpfen und den blutenden Herzen, die sie ihren massakrierten Opfern herausgeschnitten hatten, im Triumphzug durch die Straßen fuhren. Die Bilder liefen auch über die Agenturdienste. Können wir so etwas bringen? Wir in unserer Redaktion waren geradezu entsetzt über diese Art der Berichterstattung und haben sie zum Anlass für eine Umfrage unter den Rundfunk- und Fernsehräten genommen _ also den von den relevanten gesellschaftlichen Gruppen bestellten Kontrolleuren unserer Medien. Diejenigen, die Anstoß an den Bildern nahmen, waren in einer verschwindend geringen Minderheit.

Ein anderes Beispiel: Gottseidank sind wir in Deutschland noch davon verschont geblieben, aber immerhin wäre es denkbar, dass auch hier Menschen oder Menschengruppen an den öffentlichen Pranger gestellt und zur Verfolgung freigegeben werden, wie es in England und Belgien gegenüber Leuten geschah, die im Verdacht der Pädophilie standen.

Was kann getan werden, um diese Auswüchse in den Griff zu bekommen?

An erster Stelle steht die Selbstkontrolle, und ich denke, sie funktioniert weitgehend. Sie verhindert zwar nicht, dass immer wieder neue Fehler vorkommen, aber sie sorgt dafür, dass die Fehler benannt und häufiger auch geächtet werden. Die Medien kritisieren sich selbst recht stark. Es ist keineswegs so, dass dort keine Krähe der anderen ein Auge aushackt. Wir haben einen Presserat, an den sich jeder wenden kann. Und er wird nicht gerade selten angerufen. Der Presserat kann zwar keine Strafen und Sanktionen verhängen, aber seine Mahnungen haben doch erhebliches Gewicht. Das muss auch auf die Sparten ausgedehnt werden, die der Grauzone des Infotainment zuzuordnen sind.

Wir haben auch ein recht ausgewogenes Presserecht, das den Individualschutz ebenso garantiert wie die Freiheit der Berichterstattung. Im Bereich von Privatfunk und -fernsehen gibt es leider die Tendenz, die Grenzen der Geschmacklosigkeit und der ethischen Tabus immer weiter nach außen zu verschieben. Hier, meine ich, müssten die Landesmedienanstalten weiter gestärkt werden. Dieser Kampf darf nicht nur juristisch, er muss gesellschaftlich und politisch geführt werden. Wir wissen ja, dass das Spiel zwischen manchen Privatsendern und den Landesmedienanstalten stark dem Wettlauf zwischen Hase und Igel gleicht.

Daher müssen zweitens die Anbieter selbst stärker in die Mithaftung für das genommen werden, was sie anrichten. So wie die Zigarettenfirmen verpflichtet sind, deutlich auf ihre Packungen zu schreiben, dass Rauchen der Gesundheit schadet, müssen auch die Gefahren bestimmter Medieninhalte angezeigt werden, wenn sie denn schon nicht zu verbieten sind in einer freiheitlichen Medienlandschaft. Das Prinzip der Nachhaltigkeit muss auch hier Platz finden.

Alles, was nachhaltig die Menschenwürde verletzt, muss zurückgedrängt werden. Für mich ist – um bei diesem Beispiel zu bleiben – die angestrebte Selbstverpflichtung der Zigarettenindustrie modellhaft, von sich aus die Initiative zu ergreifen, die Jugendliche vor dem Konsum ihrer Produkte bewahrt. Sender, die Schund anbieten, müssen viel stärker zur Verantwortung gezogen werden. Dies wird kaum auf dem Gesetzeswege gelingen.

Das dritte ist die Berufsausbildung. Man muss _ glaube ich _ anerkennen, dass sich die Ausbildungsqualität und das Anforderungsprofil, das an Journalisten gestellt wird, erheblich verbessert hat. Derzeit haben wir aber auch das Problem – und das betrifft wiederum insbesondere die elektronischen Medien _, dass angesichts des Booms ein Mangel herrscht an qualifiziertem Nachwuchs. Da werden viele Mitarbeiter mit Schmalspurausbildung beschäftigt; teilweise werden die Kollegen, insbesondere die sogenannten „freien Mitarbeiter“ – auch „ausgebeutet“ und lassen sich schon aus Gründen der Existenzsicherung zu fragwürdigen Praktiken hinreißen.

An vierter und keineswegs letzter Stelle steht die Medienerziehung. Von frühester Kindheit an werden die Menschen mittlerweile mit der Medienwelt konfrontiert. Sie müssen wissen, was sie davon erwarten können und was nicht. Wir erleben sehr häufig die Illusion, dass die Darstellung für die Wirklichkeit genommen wird. Die täglichen Soap Operas, die Talkshows, das Schlagerangebot – all das nimmt Einfluss auf das Bewusstsein und ist doch letzten Endes nichts anderes als ein Konsumprodukt wie eine Tafel Schokolade.

Ja, ich sehe eine Gefahr, dass die Medien uns in den Griff nehmen – und zwar hier, wo sich unerkenntlich Kommerz und Inhalt vermählen. Wenn große Konzerne wie Bertelsmann die Fernsehanstalten, Zeitschriften und Zeitungen vor allem dazu benutzen, den eigenen Umsatz zu steigern. Hier besteht auch eine große Gefahr für die Unabhängigkeit der Redaktionen. Nehmen wir ein simples Beispiel: Wenn unter einer Buchbesprechung der Link angegeben wird, wie der rezensierte Titel leicht per Internet zu bestellen ist: Wird da nicht schon die Schere im Kopf betätig, vor der wir Journalisten uns so sehr fürchten?

Das andere ist, dass viele Medien jeder Zeitgeistströmung nachjagen in der Notwendigkeit, ihren Abnehmern immer wieder Neues bieten zu müssen. Sicherlich besteht die journalistische Aufgabe darin, seine Abnehmer mit den neuesten Nachrichten zu versorgen. Doch er hat auch die Aufgabe des Gewichtens und Bewertens. Und die kommt oftmals zu kurz, ja: Um der Verkaufe willen bekommt jede neue Strömung den Touch des Positiven, Guten.

Trendscouts sind in aller Welt unterwegs, um den jeweils letzten Schrei zu finden. Dies führt zu einer Beliebigkeit, zur Unfähigkeit, Sinn von Unsinn, Gutes von Schlechtem zu unterscheiden. Ja, es führt zu einer perspektivischen Verzerrung: Schlechtes erhält ein positives Image. Darüber macht sich aber das Medien im Bestreben, dem Leser, Hörer, Zuschauer zu bieten, was er haben will, keine Gedanken. Auch hierfür brauchen wir eine verstärkte Medienerziehung, eine Verbraucher-Aufklärung im weitesten Sinne. Die Wirkungsforschung der Medien muss in diesem Sinne noch verstärkt werden. Und ich würde mir eine ähnliche Qualitätsinstanz für Medienprodukte wünschen wie es sie für Waren und Dienstleistungen mit der Stiftung Warentest gibt.

Lassen Sie mich meine These: Nicht die Medien haben uns im Griff, sondern die Medien sind ihren Nutzern zu Willen _ und zwar zu stark zu Willen _ noch von einer letzten Perspektive aus beleuchten, die sozusagen die Unzufriedenheit der Medien mit Ihnen, unserem Publikum, ins Auge fasst. Ja, die Medien müssen die Gefahr im Blick haben, dass wir unseren Verfassungsauftrag, an der Mündigkeit und Urteilsfähigkeit der Bürger mitzuwirken, vernachlässigen aus Sorge, unsere Leser zu überfordern.

Wir Journalisten genießen ja nicht deswegen den besonderen Schutz des Grundgesetzes, um unserer Eitelkeit durch Selbstdarstellung zu befriedigen, ebenso wenig wie die Verleger und Konzernmanager darin ein Privileg für besonders lukrative Geschäfte sehen dürfen. Sondern die Freiheiten, die wir genießen dienen dem Zweck, dass die Demokratie funktioniert. Hier sehe ich einige „blinde Flecken“.

Das Rezeptionsverhalten macht uns zunehmend Probleme. Wir müssen Ihnen natürlich eine Zeitung _ oder das Fernsehen ein Fernsehprogramm _ liefern, das Ihren Lese, Seh- und Hörgewohnheiten entspricht. Eine Zeitung, die nicht gelesen wird, ist keine Zeitung, sondern nur ein bedrucktes Blatt Papier. Doch es gelingt uns mit vielen wichtigen Themen nicht mehr, sie in angemessener Weise zu transportieren, denn so komplizierte Fragen wie die Europapolitik, über die Hans-Gerd Pöttering vor Ihnen gesprochen hat, lassen sich oft nicht in 80 Zeilen oder 90 Sekunden darstellen.

So kommt eine Debatte über so wichtige Zukunftsfragen wie die Erweiterung der Gemeinschaft und ihre innere Reformen gar nicht wirklich in Gang. Die Bürger haben einfach abgeschaltet. Als Politiker redet man oft genug gegen eine Wand. Die Medien setzen das Thema ab, weil sich damit _ wie es so schön heißt _ kein Hund hinter dem Ofen hervorlocken lässt. Das gilt auch für die Fragen der Bio- und Gentechnologie, die in anderen Ländern weit intensiver diskutiert werden. Es muss schon ein amerikanischer Darwinist kommen, der schon eine vorgeburtliche Selektion in lebenswert und nichtlebenswert propagiert, um eine schwache Debatte in Gang zu bringen. Doch selbst die fiel binnen kurzem wieder zusammen.

Ich will jetzt nicht einem Ende der Vergangenheitsdebatte das Wort reden. Doch wenn ich mir die Proportionen anschaue, die die Aufarbeitung des Nationalsozialismus einnimmt in Relation zu Fragen der Gestaltung des 21. Jahrhunderts, dann wird mir offen gestanden ein wenig bange. Man muss gar nicht diesen ideologisch belasteten Vergleich anstellen: Wenn wir um die Zukunft der Berufsausbildung, um die Verbesserung der schulischen Qualität, um die Reform der Hochschulen genau so ringen würden wie um die Rentenreform, dann wäre mir wohler.

Ja, wir Medienleute müssen uns auch wohl den Vorwurf gefallen lassen, dass wir dazu beitragen, die Bürger zu entwöhnen. Der Happen-Journalismus führt dazu, dass die intensive argumentative Auseinandersetzung leidet. Es kann nicht mehr zu Ende gedacht werden. Brüche in der Argumentation werden oftmals nicht einmal mehr wahr genommen, weil alles wie in einem Patchwork neben einander steht. Das Schlagwort ist wichtiger als die Substanz. Doch haben wir auch festgestellt, dass die Leser, Zuhörer, Zuschauer abschalten, wenn man sie mit längeren Gedankenketten quält. Der Spruch: Du kannst über alles reden, nur nicht über zehn Minuten, ist ja für uns schon längst überholt. Wir wie auch die Politiker sollen die kompliziertesten Dinge dieser Welt in wenigen Zeilen auf den Punkt bringen. Das ist oft nicht möglich, und darum fallen bestimmte Themen mehr und mehr unter den Tisch, weil sie „nicht vermittelbar“ sind.

Und in dieser Situation gibt es den Ruf nach einer verstärkten „direkten Demokratie“. So viel Sympathie ich für diese Bestrebungen habe _ zumal nach der friedlichen Revolution, mit der sich die Menschen in der DDR ihre Freiheit erkämpft haben, so große Bedenken habe ich doch, ob die Wahlbürger willens und in der Lage sind, über kompliziertere Vorgänge – wie etwa der EU-Erweiterung – begründet abzustimmen.

Die „bilnden Flecken“ betreffen zum Beispiel mehr und mehr auch die Berichterstattung über die Kirchen. Man kann immer weniger voraussetzen, was man eigentlich voraussetzen müsste. Dieses Dilemma habe ich zuletzt im Bezug auf die Erklärung „Dominus Jesus“ verspürt, also die Erklärung der Glaubenskongregation über das Verhältnis der Religionen zueinander. Man müsste so viel erläutern _ bis hinunter zum „kleinen Katechismus“ _, dass man das Publikum damit wiederum abstoßen würde. Und diese Tendenz wird immer schwieriger, weil das religiöse Basiswissen in dramatischer Weise abschmilzt. Das wird zwangsläufig zur Folge haben, das diese Themen in der Berichterstattung immer weniger vorkommen und wir als Medien auf „handgreifliche“ Themen, zumeist soziale Themen ausweichen. Doch dies ist ja nur ein Teil und dabei eigentlich auch nicht der wesentliche Teil der Kirchen-Wirklichkeit. Noelle-Neumanns „Schweigespirale“ setzt sich hier in einer ganz anderen und neuen Dimension, als sie es beschrieben hat, in Gang.

Ja, es wird immer weniger verstanden, dass Politik harte Arbeit ist, wenn sie in der Form des Infotainments verkauft wird. Jeder Politiker muss immer lächeln und frisch aussehen, als ob er gerade der Dusche entsprungen wäre, Diskussionsveranstaltungen brauchen einen Fun-Factor, damit die Bürger ihnen folgen. Guido Westerwelle kriecht in den „Big-Brother-Container“, um über den Rechtsextremismus zu diskutieren, und wundert sich, dass seine Mitdiskutanten sich lediglich an dem mitgebrachten Rotwein interessiert sind. Dies hat eine Entwertung der Politik zur Folge Dass die Bürger – zu Unrecht – die Politiker für überbezahlt halten, muss auch vor diesem Hintergrund gesehen werden.

Deutschland als Exportland Nummer eins ist von der Weltpolitik und Weltwirtschaft abhängig wie kein anderes Land. Und doch nimmt das Interesse an derartigen Informationen ab. Wir nehmen die Welt in einer Art Autismus, einer provinziellen Globalität wahr. Nach diesem Prinzip funktionieren die Traumschiff-Soap-operas im Fernsehen. Das Interesse an Reiseseiten, also an touristischen Erlebnis-Erläuterungen nimmt zu, das Interesse an den Ländern selbst, ihrer Kultur, ihren Eigenheiten oder gar ihren Problemen nimmt ab. Interesse bedeutet ja „Dazwischen sein“, sich in etwas hineinbegeben. Das typische Rezipienten-Verhalten aber ist ein anderes: Konsum. Wir konsumieren fremde Länder. Je mehr Genuss, desto besser. Das hat zur Folge, dass außenpolitische Berichterstattung in unseren Medien erheblich zurückgedrängt wird. Ich halte diese Entwicklung für bedenklich.

Deutlich wird dies immer wieder auch bei der Katasprophen-Berichterstattung. Die Spendenbereitschaft der Deutschen hängt davon ab, dass sie zuvor mit den entsprechenden Elendsbildern gefüttert wird. Sobald aber die Scheinwerfer abgeschaltet sind, erlischt auch die Bereitschaft zur Hilfe.

Meine Damen und Herren,

ich hoffe nur, ich habe nicht zuviel geklagt und nicht zu schwarz gemalt trotz meiner entschiedenen Behauptung, dass die Medien Sie und uns nicht im Griff haben und diese Gefahr auch nicht so leicht besteht, solange es diese Vielfalt gibt, die manchem von uns wiederum zum Problem wird, aber prinzipiell doch äußerst positiv ist. Ich sprach eingangs davon, dass die Medien zur Schlüsselbranche aufsteigen. Gerade diese Branchen neigen zur Oligopolisierung. Hier sehe ich langfristig eine gewisse Gefahr. Derzeit aber ist die Branche sehr stark mittelständisch geprägt, und das ist nur gut.

In der Summe bin ich davon überzeugt, dass Deutschland über ein Medienangebot verfügt, das den höchsten Maßstäben in historischer Sicht wie auch im weltweiten Vergleich standhält. Machen Sie sich selbst und dann Ihren Schülern und Kindern immer wieder klar, welche Macht sie als Verbraucher haben. Dadurch, dass Sie eine Zeitung kaufen, ein Programm abschalten oder umschalten, bestimmen Sie Tag für Tag über die Qualität der Medien mit.

Sie machen sich _so glaube ich _keine Vorstellung davon, wie stark auch kleine Abweichungen bereits registriert werden. Hinzu kommt, dass Sie als Verbraucher sich durchaus äußern können. Leserbriefe, Anrufe in den Redaktionen, die Benutzung der Sprechzeiten, die beinahe überall angeboten werden, werden sehr sorgfältig registriert und ausgewertet und dienen sehr stark als Instrument der Angebotskontrolle.

Nutzen Sie die Medien, aber nutzen Sie sie kritisch. Das Wort stammt ja vom griechischen „krinein“, was „scheiden, unterscheiden“ bedeutet. Und das steht ja schon bei Paulus: „Prüfet alles und behaltet das Gute“. Dies ist genau die richtige Maxime.

Und da wir hier in einer Schule mit einem hohen Anspruch sind: Schrecken Sie Ihre Schüler und Kinder bitte nicht ab, wenn sie erwägen einen Medienberuf zu ergreifen. Im Gegenteil: Ermuntern Sie sie. Denn erstens ist dies eine wachsende Sparte des Arbeitsmarktes. Die Perspektiven sind hier im Vergleich zu anderen Berufsfeldern gewiss nicht schlecht.

Zum anderen ist dies der beste Weg, um eine Medienlandschaft sichern zu helfen, die Ihren und unseren Wünschen entspricht. In der Menschen Verantwortung tragen, die dem Leitbild dieser Schule entsprechen: Offen, neugierig, aber mit einem Wertekompass in der Hand, der sie davon abhält, gleich in jeden Irrweg hineinzulaufen. Der sie zugleich befähigt, wenn sie sich verlaufen haben, sich zu korrigieren. Solche jungen Leute werden immer stärker gesucht.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

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Prof. Dr. Hans-Gert Pöttering im “Handruper Forum”

Europa – Vision und Wirklichkeit

Zum Referenten:
Hans-Gert Pöttering,
Vorsitzender der Fraktion der Europäischen Volksunion

Vortrag im Rahmen des „8. Handruper Forums“

(Zu diesem Abend existieren nur mehr Manuskripttexte und Transkriptionen von Bandmitschnitten.)

Begrüßung durch P. Dr. H. Wilmer SCJ, Schulleiter

Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr geehrte Eltern,
liebe Schülerinnen und Schüler,
verehrte Kolleginnen und Kollegen,
liebe Mitbrüder!

Seit einigen Jahren ist das „Handruper Forum“ eine feste Größe im Schulalltag des Gymnasiums Leoninum. Ziel ist es, Schüler, Eltern, Lehrer und Öffentlichkeit zu einer aktuellen und relevanten Thematik ins Gespräch zu bringen.

Für die diesjährige Herbstveranstaltung haben wir ein politisch-gesellschaftliches Thema gewählt und für heute Abend Herrn Prof. Dr. Hans Gert Pöttering gewinnen können, der seit vielen Jahren maßgeblich an der Gestaltung eines modernen Europas beteiligt ist und seit einigen Monaten das Amt des Vorsitzenden der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europaparlament bekleidet.

Herr Prof. Dr. Pöttering, noch vor einigen Tagen waren Sie in einer Privataudienz beim Heiligen Vater, Papst Johannes Paul II., in Rom, um unter anderem die Möglichkeiten für den christlich-islamischen Dialog in Europa zu erörtern. Aus dem Vatikan also nun nach Handrup, wir sind froh und stolz, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind, und ich heiße Sie hiermit sehr herzlich willkommen.

Ebenfalls begrüße ich als Vertreter des Landkreises Emsland Herrn Landrat Meiners und den Ersten Kreisrat Herrn Winter sehr herzlich. An dieser Stelle möchte ich Ihnen, Herr Meiners, und Ihnen, Herr Winter, für die langjährige, kontinuierliche und großzügige Unterstützung unserer Schule durch den Landkreis Emsland sehr herzlich danken.

Als Vertreter des Niedersächsischen Landtages begrüße ich Herrn Rolfes, und als Vertreter der Bezirksregierung Weser-Ems heiße ich Herrn Lanfermann, den leitenden Regierungschuldirektor, herzlich willkommen. Ebenfalls gegrüße ich die Samtgemeindebürgermeister und Samtgemeindedirektoren aus dem Einzugsbereich unserer Schule. In diesem Zusammenhang heiße ich auch die Bürgermeister der Samtgemeinde Lengerich herzlich willkommen. Stellvertretend für sie begrüße ich unseren Bürgermeister aus Handrup, Herrn Josef Stockel.

Herzlich begrüße ich auch den Rektor des Herz-Jesu-Klosters, Pater Johannes Strieker, die Pastöre aus den umliegenden Pfarreien, sowie die Mitbrüder sehr herzlich.

Willkommen heiße ich auch alle Eltern, insbesondere möchte ich hier nennen den Elternratsvorsitzenden unserer Schule, Herrn Landwehr, alle Schülerinnen und Schüler, Kolleginnen und Kollegen sowie die Vertreter der Presse.
An dieser Stelle möchte ich einem Kollegen sehr herzlich danken, der sich nicht nur im Vorfeld mit großem Einsatz für ein regelmäßiges Zustandekommen des Handruper Forums engagiert hat, sondern der das Handruper Forum überhaupt ins Leben gerufen hat, nämlich Herrn OStR Paul Wöste. Herzlichen Dank für Ihre Mühe!

Herr Prof. Pöttering, von Ihrem Vortrag mit dem Thema „Europa – Vision und Wirklichkeit“ erhoffen wir uns Einblicke in die konkrete Arbeit an einem sich vereinigenden Europa, das Aufzeigen von Perspektiven und Chancen, welche ein neues Europa bietet, aber auch die Offenlegung der Schwierigkeiten und Hemmnisse bei der Umsetzung.

Uns allen wünsche ich einen lebendigen Abend. Herr Prof. Pöttering, Sie haben das Wort.

Vortrag Prof. Dr. Hans-Gert Pöttering
(Wortgetreue Abschrift nach Audioaufnahme – Korrekturen und Glättungen wurden nicht vorgenommen.)

Lieber Herr Pater Dr. Wilmer, Herr Landrat Herr Josef Meiners, die Damen und Herren, Bürgermeister und Damen und Herren der Räte, meine sehr verehrten Damen und Herren!

Für mich ist es eine große Freude, heute Abend hier sein zu dürfen, und insbesondere hier sein zu dürfen, nachdem ich vor wenigen Monaten noch hier war, und als ich vor wenigen Monaten hier war, ich glaube es war im Mai, sagte mir Herr Pater Dr. Wilmer, der Schulleiter, ja, Sie waren schon mal hier vor vielen Jahren. Natürlich erinnerte ich mich gut daran, dass ich hier schon war, es muss 1980 gewesen sein, also kurz nach meiner Wahl ins Europäische Parlament 1979, und der Pater Dr. Wilmer sagte: „Ja, damals war ich noch Schüler.“ Ich sagte: „Na, das finde ich ja toll, was aus Ihnen geworden ist. Sie waren damals Schüler, jetzt sind Sie hier Schulleiter, und ich bin immer noch Europa-Abgeordneter.“ Das war vor wenigen Monaten, und ich freue mich sehr, dass ich heute hier sein kann. Morgen früh müsste ich eigentlich um 10.00 Uhr in Berlin sein, wegen einer besonderen dringlichen Sitzung des Präsidiums meiner Partei, aber das hätte erfordert, dass ich hier heute Abend hätte absagen müssen, doch ich habe gesagt, man muss Wort halten, deswegen bin ich heute Abend bei Ihnen in Handrup.

Hans-Gert Pöttering
Prof. Dr. Hans-Gert Pöttering

Und da die Mitgliedschaft im Präsidium meiner Partei sich aus meiner Aufgabe im Europäischen Parlament ergibt, habe ich gedacht, muss ich nicht Morgen unbedingt dort dabei sein, aber morgen Nachmittag, wenn die Bundestagsfraktion meiner Partei da tagt, da wird das Thema „Europa“ behandelt, kann ich dann dort unsere Überzeugungen darstellen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch zweiunddreißig Tage trennen uns vom Jahr 2000, und dieses gibt uns Anlass, zurück zu blicken auf das zu Ende gehende Jahrhundert und den Blick zu richten in die Zukunft. Wenn wir den Blick richten auf dieses nun zu Ende gehende Jahrhundert, dann müssen wir sagen, dass dieses Jahrhundert in seiner ersten Hälfte ein Jahrhundert des Schreckens, des Leidens und der Not war, wie es diese Welt kaum jemals gekannt hat. Aber auf der anderen Seite war es zumindest im westlichen Teil Europas, in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts, dieses eine Zeit der Hoffnung, der Demokratie und der Feiheit. Und in diesen Tagen, in diesen Monaten und in den Wochen und Jahren vor uns, werden die Weichen gestellt für die Zukunft Europas im 21sten Jahrhundert. Und überlegen wir einmal, wenn wir 15 Jahre zurück gehen würden, von jetzt von 1999 in das Jahr 1984, und es hätte damals jemand gesagt, wir erfüllen Europa und der Welt einen Wunsch, und wenn wir es wollen, dann fällt der Eiserne Vorhang, Berlin wird wieder geeint, die Mauer verschwindet und Europa wächst wieder zusammen. Wenn uns dieses jemand hätte anbieten können, ich glaube, wir wären bereit gewesen, jeden zu denkbaren Preis, auch finanziellen Preis, zu zahlen.
Deswegen wird es in den nächsten Monaten und Jahren darum gehen, wie es uns gelingt, diesen „Kontinent Europa“ wieder zusammen zu führen und vor allen Dingen, diesen „Kontinent Europa“ eine Zukunft in Frieden und in Freiheit zu ermöglichen.

Und dann muss man sich fragen, wie soll das gelingen, wie kann das gelingen? Und hier müssen wir einen Blick richten in die Geschichte. Nur kurz, aber wir müssen den Blick richten in die Geschichte, damit wir aus den Erfahrungen der Geschichte die richtigen Konsequenzen ziehen. Wir alle wissen, dass wir im vorigen Jahr in Osnabrück und in Münster uns erinnert haben an den Westfälischen Frieden vor 350 Jahren. Der „Westfälische Friede“ von Osnabrück und Münster -oder- Münster und Osnabrück- war der Versuch, dieser europäischen Staatenordnung einen dauerhaften Frieden zu geben.
Und wir wissen, dass dieses nicht gelang.
Um nur einige ganz wenige Stationen anzumerken: Der 7-jährige Krieg, zwischen Preußen und Österreich und anderen beteiligen Ländern in Europa von 1756 – 1763 war eine solche Station. Oder nehmen wir auch den Krieg, um nur einige Beispiele zu sagen, 1870/71 zwischen Frankreich und Deutschland. Und andere Kriege! Immer war es das gleiche Spiel, die Auseinandersetzung zwischen den Europäern, und man hat immer wieder versucht, durch Bündnisse durch Allianzen durch Koalitionen, zumindest für eine gewisse Zeit, Frieden und Gleichgewicht zwischen den Ländern Europas herbei zu führen. Aber wir haben gesehen, dass dieses immer wieder in sich zusammenbrach. Und erinnern wir uns an das Jahr 1806, als nämlich Napoleon fast alle Europäer besiegt hatte, wo Preußen darniederlag nach der Schlacht von Jena und Auerstett. Und wir wissen, dass es damals in Europa 5 Länder, 5 Staaten gab, die dominierten: Frankreich, Russland, England, Preußen und Österreich. Und Goloman, dieser große deutsche Historiker, hatte ein Psychogramm der damaligen 5 Großmächte: England, Frankreich, Österreich, Russland und Preußen gekenntzeichnet, und das war die Methode, wie man immer versucht hat, in Europa für einige Jahrzehnte den Frieden zu schaffen. Goloman sagt zwar in einem längeren Zitat, aber ich finde es wirklich sehr bemerkenswert, er sagt: „ Zwischen allen diesen Mächten, also England, Frankreich, Österreich, Preußen und Russland war Feindschaft, offener oder latenter Krieg, ein negatives Verhältnis, welches das politische Spiel beherrschte. Die Feindschaft zwischen Frankreich und England war eine Alles-Überschattende. Eben darum gab es immer wieder wage Kontaktaufnahmen zwischen ihnen, verursacht durch die Vorstellung, dass, wenn sie sich einigten, der Friede ewig und die Welt ihr Besitz sein würde. Es war Feindschaft zwischen Frankreich und Österreich, eine alte, klassische Renaissancefeindschaft, aber zweimal schon hatten sie im vergangenen Jahrhundert immer wieder versucht, hier ein Ende zu machen, um gemeinsam dem Kontinent das Gesetz vorzuschreiben, im 7-jährigen Krieg und 1797. Es war Feindschaft zwischen Preußen und Österreich, deutsche und europäische Feindschaft, der Gedanke hörte aber nicht auf in den Köpfen deutscher Patrioten zu fühlen, dass eine Vereinigung dieser beiden Mächte, also eine Vereinigung aller Deutschen, stärker sein würde als das gesamte übrige Europa. Auch zwischen Frankreich und Preußen war Feindschaft, die Allianz dieser beiden Fortschrittsstaaten aber eine Lieblingsidee der Französischen Revolution. Ähnlich war Feindschaft zwischen Frankreich und Russland. Und die Idee war, dass eine Vereinigung dieser beiden Mächte nicht Europa allein, sondern Afrika und Asien beherrschen und das Britische Imperium brechen könnte.
Meine Damen und Herren, das war über Jahrhunderte das Spiel der Europäischen Mächte.
Gleichgewicht, Allianzen, die sich immer wieder änderten und schließlich brach alles in sich zusammen, und der Kriege zwischen den europäischen Nationen begann von neuem. Und wir kennen das fürchterliche alles menschlich übersteigende Ergebnis des II. Weltkrieges, 55 Millionen Tote, 35 Millionen Verwundete, 3 Millionen Vermisste in Europa, in der Welt und allein über 12 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene alleine in Deutschland sind das furchtbare Ergebnis dieses II. Weltkrieges. Und meine Damen und Herren, wenn es aus der Geschichte eine neue Erfahrung geben sollte, eine neue Konsequenz, dann musste man einen neuen Weg gehen, eine neue Methode suchen. Und deswegen war es ganz wichtig, dass dieser neue Versuch für eine neue Ordnung Europas aus Frankreich kam, aus Frankreich, das gerade für die Beziehung mit Deutschland und für die Zukunft Europas grundlegend ist. Und es war der 1. Ehrenbürger Europas, „Jean Monnet“, der eine große Idee hatte und sagte. „Notwendig ist eine Vereinigung der Interessen der europäischen Völker und nicht einfach die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts dieser Interessen.
Das Gleichgewicht, die Aufrechterhaltung der Interessen der europäischen Völker, das Gleichgewicht dieser Interessen, das war die alte Methode. Die neue Methode war und die neue Methode ist, Vereinigung der Interessen der europäischen Völker. Und hier hatte es in der Vergangenheit bereits Versuche gegeben, in den 20er Jahren durch Aristrit Brion, der von einem europäischen Bundesstaat sprach, aber dieser europäische Bundesstaat sollte die Souveränität der Staaten unangetastet lassen, das waren natürlich schön gemeinte Worte, die aber für die praktische Politik keine Konsequenzen hatten. Und hier war es nun wieder Jean Monnet, der Ratgeber von Robert Schumann war, jenem französischen Außenminister, der auf dem Grenzgebiet von Deutschland und Frankreich, nämlich aus Lotringen kam, er ist in Lotringen geboren, in Luxemburg, aber er war Franzose, der am 9. Mai 1950, also in wenigen Monaten, in einem guten halben Jahr, also vor 50 Jahren einen revolutionären Plan vorlegte. Der Ideengeber war Jean Monnet, nämlich das Arsenal für Krieg und Waffen, nämlich Kohle und Stahl in Europa zu Vergemeinschaften. Das war genau diese Methode, von der Jean Monnet sprach, die Vereinigung der Interessen der europäischen Völker, und so entstand 1952 aufgrund dieses Vorschlages am 9. Mai 1950 die europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Also die Vergemeinschaftung dessen, was immer wieder zum Krieg geführt hatte. Und Jean Monnet hatte auch gesagt, dass die Einstimmigkeit zeigt, dass man nicht überstimmt werden kann. Dieses Prinzip der Einstimmigkeit, das da zum Veto führt, wenn man nicht überstimmt werden kann, gleichsam für ein Naturgesetz immer in der neueren europäischen Geschichte gehalten wurde, sowohl im Völkerbund wie heute in den vereinten Nationen. Und wenn man heute auf das Prinzip der Einstimmigkeit festgelegt ist, dann führt dieses sehr oft zur Handlungsunfähigkeit. Um Ihnen ein neueres Beispiel zu sagen, als Milosevic, der Diktator unserer Zeit, die Menschen aus dem Kosovo vertreiben wollte und die vereinten Nationen blockiert waren, sich nicht einigen konnten, weil es dort die Mehrheitsentscheidung nicht gibt, da war die Weltgemeinschaft nicht handlungsfähig, und die NATO hat dann die Dinge in die Hand genommen, weil die UNO blockiert war. Das ist ein Beispiel dafür, dass die Einstimmigkeit nicht funktionieren kann. Und deswegen ist es so wichtig, dass wir in der heutigen Europäischen Union, die Europäische Gemeinschaft, die dann entstand, das Prinzip der Mehrheitsentscheidung durchgeführt haben, was ganz noch nicht verwirklicht ist, aber auf gutem Wege ist. Und diese Vergemeinschaftung von Kohle und Stahl war eine Idee für die Robert Schumann und Jean Monnet andere gewannen, Konrad Adenauer, Alcide de Gassberi und viele andere in Europa. Und es heißt dann in dieser Erklärung zum 09. Mai 1950, die den Namen Robert Schumanns trägt:
Durch die Zusammenlegung der Basisproduktion und die Einrichtung einer hohen Behörde, deren Entscheidung zu Frankreich, Deutschland und die sich anschließenden Länder verbindlich sind, werden die ersten konkreten Grundlagen einer Europäischen Föderation geschaffen, die unerlässlich ist für die Wahrung des Friedens.
So heißt es wörtlich in den Dokumenten. Und Jean Monnet verlangte, dass diese Passage unterstrichen wurde, weil sie gleichzeitig die Methode, die Mittel und das Ziel beschrieb, und die künftig nicht mehr voneinander zu trennen waren. Und das letzte Wort war das Hauptwort. „Frieden“. Und es erstand nicht nur die Hohe Behörde, sondern auch der Vorläufer des heutigen Europäischen Parlamentes und der Ministerrat. Und Robert Schumann und Jean Monnet waren der Überzeugung, dass man mutig sein müsse. Und in Frankreich 1950 solche Vorschläge zu machen, war außerordentlich mutig, weil nämlich die Rechtsextremisten und die Nationalisten, die Kommunisten gegen solche Pläne waren und Robert Schumann wegen seiner Nähe zu Deutschland, er hat ja in Deutschland auch studiert und sprach blendend deutsch, doch vielfach in Frankreich in der Nationalversammlung für seine Ideen gescholten wurde. Und Jean Monnet und Robert Schumann waren der Meinung, dass es starke Institutionen geben müsse in Europa, damit Europa durch seine Institution, so unzulänglich sie im Einzelfall auch sein mögen, handeln könne und Jean Monnet sagte: „Nichts ist möglich ohne die Menschen. Nichts dauerhaft ohne Institutionen.“ Und wenden wir uns jetzt den Menschen zu, Menschen in der Mitte unseres Kontinentes und in den Jahren der Überwindung und Teilung Deutschlands und Europas.

Meine Damen und Herren, es waren die Menschen in Polen, in Ungarn in den Baltischen Staaten, in vielen anderen Ländern der Tschetschenischen Republik der Slowakei, wie die Deutschen in der damaligen DDR, die immer die Fackel der Freiheit hoch gehalten haben. Und wir als Deutsche sollten niemals vergessen, dass Solidanos und die Unterstützung, die Solidanos vom Hl. Vater bekommen hat, entscheidend waren für einen Durchbruch in der Mitte Europas. Und ich möchte persönlich behaupten, dass ohne Solidanos die Arbeiterbewegung, auch getragen von christlichen Überzeugungen, nicht gegeben hätte, dass es ohne Solidanos die Einheit Deutschlands nicht gegeben hätte. Und man mag das Wirken und manche Einstellung des Hl. Vaters, Johannes Paul des II., durchaus kritisch begleiten, aber in seiner historischen Rolle als Unterstützer für das Polnische Volk, für die Menschen in Mittel- und Osteuropa und für die Überwindung des Kommunismus, hat dieser Papst Johannes Paul der II. eine historische Rolle, und ich hätte mir gewünscht, dass bei diesen Feierlichkeiten am 09. November jetzt vor einigen Wochen im Deutschen Bundestag daran erinnert worden wäre.
Meine Damen und Herren, wir stehen vor der großen Frage, wie gelingt es uns, die Länder Mitteleuropas einzugliedern in die Europäische Union? Das ist die Priorität der Prioritäten in den nächsten Jahren. Und stellen Sie sich einmal vor, dieses würde scheitern. Es würde uns nicht gelingen die Länder Mitteleuropas, also Estland, Lettland und Litauen, Polen, die Tschetschenische Republik, die Slowakei, Ungarn, Slowenin, Bulgarien, Rumänien, um diese Länder geht es im Moment, es würde uns nicht gelingen, sie zu integrieren in die Europäische Union. Sie könnten den Eindruck haben, die Europäer weisen uns ab von den Toren Europas. Es könnte eine Aversion entstehen gegen den westlichen Teil Europas, und aus der Aversion könnte Gegnerschaft und wieder Feindschaft werden, und wir würden möglicherweise die Tragödie der Europäischen Geschichte in die Gegenwart und in die Zukunft holen. Und wenn wir über den Beitritt der Länder Mitteleuropas, über deren Wunsch in die Europäische Union einzutreten, nachdenken, dann dürfen wir niemals vergessen, dass es die Menschen sind in diesen Ländern, die mit uns die Werte Europas teilen, die Würde des Menschen, die Menschenrechte, die Demokratie, die Freiheit und eine marktwirtschaftliche Ordnung. Und sie wollen in diese Europäische Union, weil sie für sich Sicherheit erstreben. Und denken Sie einmal an die drei Baltischen Staaten: Estland, Lettland und Litauen, an die Tragödie, die diese drei Länder in diesem Jahrhundert erlebt haben durch den verbrecherischen Pakt zwischen Hitler und Stalin, und die dann am Ende in Unfreiheit versanken im totalitären kommunistischen System.

Und wenn jetzt in diesen Tagen Russland, dass wesentlich ist für den Frieden im 21. Jahrhundert, und deswegen haben wir auch alles Interesse an einem handlungsfähigen demokratischen Russland, wenn in diesen Tagen Russland, Moskau, ein Volk zusammen- bombt in Tschetschenien, ist dann der Wunsch dieser drei baltischen Länder: Estland, Lettland und Litauen nach den Erfahrungen dieses Jahrhunderts nicht um so verständlicher, dass es sich unserer Werteordnung unserer Europäischen Union anschließen wollen?
Meine persönliche Antwort ist eindeutig: „Ja“, und wir müssen unserer Verantwortung gerecht werden. Aber, man darf nicht naiv sein, sondern der Prozess der Erweiterung der Europäischen Union, oder sagen wir besser, des Beitrittes dieser Länder in die Europäische Union wird stufenweise vor sich gehen müssen. Das Europäische Parlament war immer der Meinung, dass wir alle zehn Staaten einbinden müssen in den Verhandlungs- und Beitrittsprozess, damit niemand von diesen zehn Staaten sich ausgeschlossen fühlt. Und die Staats- und Regierungschefs haben 1997 auf einem Gipfel in Luxemburg wörtlich eine Formel des Europäischen Parlamentes, die aus unserer Fraktion kam, übernommen, dass der Verhandlungs- und Beitrittsprozess mit allen gleichzeitig beginnen soll, aber dass die konkreten Verhandlungen zunächst nur mit fünf Staaten beginnen soll, nämlich mit Estland, Polen, mit der Tschetschenischen Republik, mit Ungarn und Slowenin. Jetzt, im Dezember, in wenigen Tagen wird der Gipfel der Staats- und Regierungschefs in Helsinki mit ziemlicher Sicherheit entscheiden, die Verhandlungen zu beginnen mit Lettland, Litauen, der Slowakei, mit Bulgarien und Rumänien. Bulgarien und Rumänien sind mit Sicherheit die Länder, bei denen es am längsten dauern wird, und die Problematik ist, wenn man die Verhandlungen mit Lettland, Litauen beginnt und mit der Slowakei, aber man würde Bulgarien und Rumänien nicht berücksichtigen, dass diese Länder entmutigt würden, und die Reformdynamik würde in diesen Ländern beeinträchtigt werden. Deswegen wird die Entscheidung wohl so sein, dass sie alle in den Prozess aufgenommen werden, wobei die Intensität der Verhandlungen dann sehr unterschiedlich sein wird. Eine große Problematik, und darüber gibt es sehr unterschiedliche Meinungen, ist die Behandlung der Türkei. Meine persönliche Position und auch die der Mehrheit der EVP-Fraktion ist, dass eine Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union die Qualität der Europäischen Union sowohl politisch wie auch wirtschaftlich als auch kulturell sehr nachdrücklich verändern würde. Und deswegen ist die Mehrheit unserer Fraktion der Meinung, dass wir der Türkei jetzt nicht den Kandidatenstatus geben sollten, aber die Staats- und Regierungschefs werden voraussichtlich etwas anderes entscheiden. Wenn man der Türkei den Kandidatenstatus gibt, mit welchem Recht kann man ihm dann der Ukraine und auch Russland verweigern? Das sind Fragen, auf die es heute keine Antworten gibt. Und wir werden darauf bestehen müssen, ja, in den nächsten Jahren, und das wird ein ganz schwieriger Prozess, die Türkei, wenn sie diesen Status bekommt, ich habe meine Position deutlich gemacht, dass Voraussetzung jedes Annäherungsprozesses die Einhaltung der Menschenrechte ist, und dass man auch den Kurden ihre identitätswahrenden Rechte gibt, wovon die Türkei heute weit entfernt ist.
Meine Damen und Herren, die Mitgliedschaft der zehn Mitteleuropäischen Länder in der Europäischen Union und der Weg dahin ist eine gewaltige Herausforderung. In diesen zehn Ländern leben hundertsechsmillionen Menschen und die Wirtschaftsleistung dieser Länder entspricht dem Bruttosozialprodukt der Niederlande mit sechzehnmillionen Menschen. Daraus wird deutlich, welch gewaltige Aufgabe auf diese Länder, Reformaufgabe, auf diese Länder zu kommt, und wie wichtig es ist, dass sie auch die notwendige Solidarität der heutigen Europäischen Union bekommen, und dieses wird auch bedeuten, dass die Finanzströme der Europäischen Union, das, was über den Haushalt der Union finanziert wird, dann von den Südländern Europas verlagert wird auf die Mitte Europas. Aber meine Damen und Herren, befreien wir uns von der nicht richtigen Vorstellung als wenn wir, die Deutschen, immer nur zahlen dürfen. Wir haben alleine gegenwärtig im Verhältnis, wir die Bundesrepublik Deutschland im Verhältnis zu den Mitteleuropäischen Ländern und einigen Ländern im Umfeld dieser eben dieser Zehn genannten, ein Handelsbilanzüberschuss jährlich von dreizehnmilliarden Mark, also wir exportieren für dreizehnmilliarden Mark mehr in diese Länder als wir herein importieren. Zur Zeit sind wir die Nutznießer. Das, was über den Haushalt der Europäischen Union demnächst laufen wird, wird zur Stabilität auch in diesen Ländern beitragen. Und wir wissen aus den Erfahrungen mit Portugal und in Spanien, die Maschinen, die man braucht um Länder zu entwickeln oder auch die Infrastruktur, die geschaffen wird, wird zu einem großen Teil geliefert aus den Zentralregionen Europas und damit von der Bundesrepublik Deutschland. Also am Ende werden wir alle den Vorteil davon haben. Aber meine Damen und Herren, das ist der entscheidende Punkt. Der Wandel in Europa, in unserer Generation, den jeder sich erhofft hatte, aber die unsere Generation nicht erwartet hatte. Dieser Wandel in Europa ist auch ein Sieg unseres, und ich betone ausdrücklich, ein Sieg unseres christlichen Menschenbildes. Denn sowohl der Nationalsozialismus als auch der Kommunismus waren angetreten, einen menschenneuen Typus zu schaffen, eine Welt, in der es die Entpersönlichung gibt, wo das Individuum, der Einzelmensch, die Würde des Menschen nicht mehr galt. Und dieses ist überwunden worden durch den Niedergang sowohl in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts des Sozialsozialismus, als auch in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts des Kommunismus. Und es sind die Werte des Christentums und unseres christlichen Menschenbildes, die am Ende sich durchgesetzt haben. Und deswegen haben wir, glaube ich, allen Anlass, mit Zuversicht und Hoffnung und Optimismus der Zukunft entgegen zu sehen, aber wir müssen es natürlich richtig machen. Und die Voraussetzung für den Beitritt der Länder Mitteleuropas ist zunächst eine Reform der Europäischen Union.

Meine Damen und Herren, ich sprach eben davon, Jean Monnet hat vorgeschlagen vom Prinzip der Einstimmigkeit sich zu verabschieden. Und heute haben wir in der Europäischen Union den Ministerrat in der Gesetzgebung über den Binnenmarkt, also beim freien Austausch von Personen waren Dienstleistungen und Kapital in weiten Bereichen die Mehrheitsentscheidung im Ministerrat. Und in den meisten dieser Bereiche, etwa in 75 – 80 Prozent ist das Europäische Parlament gleichberechtigt in der Gesetzgebung. Es ist ein gewaltiger Fortschritt. Als das Parlament 1979 seine Arbeit begann, nach der ersten Direktwahl war die Macht des Parlamentes gleich null. Durch die verschiedenen Reformschritte in den achtziger Jahren, dann durch den Vertrag von Maastrich, und dann durch den Vertrag von Amsterdam hat dieses Europäische Parlament an Macht und Einfluss entscheidend zugenommen, so dass dreiviertel der Europäischen Gesetzgebung mit abhängig ist durch gleichberechtigte Mitwirkung des Europäischen Parlamentes. Die Erweiterung der Europäischen Union wird es nur geben, wenn das Europäische Parlament zustimmt. Internationale Verträge, die die Europäische Union abschließt, können, wenn sie finanzielle Auswirkungen haben, nur in Kraft treten, wenn das Europäische Parlament zustimmt. Der Haushalt der Union tritt nur in Kraft, wenn das Europäische Parlament sich verabschiedet. Sie sehen also, weite Bereiche, die der Zuständigkeit des Europäischen Parlamentes unterliegen. Aber wir haben Reformbedarf vor der Erweiterung der Europäischen Union. Und auf dem Gipfeltreffen in Amsterdam, was ja zum Vertrag von Amsterdam führte, hat es drei Bereiche gegeben in einer neuen Konferenz, die im kommenden Jahr beginnen wird und geregelt werden müssen. Das ist einmal die Zusammensetzung der Kommission, das ist die Neugewichtung der Stimmen im Ministerrat. Im Ministerrat gibt es, wie Sie wissen, viele kleine Länder, einige große Länder, und wenn die Stimmengewichtung so bleibt und viele kleine Länder beitreten, dann kann bei der Fortschreitung des Stimmengewichtes, wie es jetzt ist, der Fall eintreten, dass viele kleine Staaten mit der Minderheit der Bevölkerung die großen Staaten mit der weitaus überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung dominieren. Nehmen Sie das Beispiel, als wenn das Saarland und Bremen oder eine Fülle von Saarländern und Bremern am Ende im Bundesrat die großen Länder überstimmen könnte. Das heißt, es muss reformiert werden, und es muss, und das ist die Hauptaufgabe, die Mehrheitsentscheidung im Ministerrat für viele Bereiche noch eingeführt werden, wo sie heute noch nicht gilt. Und das ist ein wichtiges Erfordernis, weil eine Europäische Union mit zwanzig, fünfundzwanzig, vielleicht sogar dreißig Staaten nicht mehr politisch führen können, wenn sie in vielen Fragen an der Mehrheitsentscheidung festhalten. Deswegen ist unsere Forderung, dass wir die Mehrheitsentscheidung im Ministerrat dort einführen, wo sie heute noch nicht ist. Und man kann sich natürlich vorstellen und muss sich vorstellen, dass es Bereiche gibt, bei denen die Mehrheitsentscheidung nicht eingeführt wird, wo man sich einig sein muss zwischen den Regierungen, das ist denkbar bei gewissen Finanzfragen, auch gewissen Steuerfragen, aber darüber wird man sprechen müssen. Und nun hat es einen Bericht gegeben, den Romano Prodi, der neue Kommissionspräsident, in Auftrag gegeben hat bei den früheren belgischen Ministerpräsidenten Jean Luc de Hane, unseres früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker und des britischen Lord Simons. Und diese drei Persönlichkeiten haben, wie ich finde, einen genialen Vorschlag gemacht. Sie sagen, wir brauchen in der Europäischen Union einen grundlegenden Vertrag, also gleichsam so etwas wie eine Verfassung, obwohl man den Ausdruck Verfassung nicht verwendet, das würde in einigen Ländern Europas nicht gerne gehört. Und man braucht einen erweiterten Vertrag. Und dieser grundlegende Vertrag, der soll, wenn er geändert wird, geändert werden durch die Regierungen der Mitgliedsländer der Europäischen Union und die Nationalen Parlamente, muss also ratifiziert werden. Während es heute so ist, dass überhaupt der Vertrag, wenn er geändert wird, ratifiziert werden muss durch die Nationalen Parlamente. Und dieses soll beschränkt werden nur auf den grundlegenden Vertrag. Also die wesentlichen Elemente der Verfass-Zeit Europas soll niedergeschrieben werden. Und dann soll es einen erweiterten Vertrag geben, wo die nicht ganz so wichtigen Dinge stehen, die aber heute in dem Gesamtwerk des Vertrages sind, und wenn das heute geändert wird, muss das alles die Nationalen Parlamente durchlaufen. Und dieser zweite Teil, der sogenannte erweiterte Vertrag, soll geändert werden können durch die Entscheidung des Ministerrates und des Europäischen Parlamentes, was die Entscheidungsprozeduren sehr vereinfachen würde.

Meine Damen und Herren, ich weiß nicht, ob es dazu kommt, aber die Idee ist gut, und deswegen fordert das Europäische Parlament den Ministerrat auf, auch die Bundesregierung auf, dass in der Regierungskonferenz man sich nicht nur mit diesen drei eben genannten Bereichen beschäftigt, also Kommission- Ministerrat, Neugewichtung der Stimmen, Ausweitung der Mehrheitsentscheidung, sondern auch mit diesen grundlegenden Fragen. Vor allen Dingen wollen wir erreichen, dass der Ministerrat, der heute immer hinter verschlossenen Türen tagt, reformiert wird und wir den Ministerrat weiterentwickeln, zu etwas wie unseren Bundesrat in der Bundesrepublik Deutschland, bei dem ja die Gesetzesentscheidungen dann öffentlich verhandelt werden. Und hier brauchen wir Reformen. Was die Kommission angeht, so haben wir sicher in diesem Jahr sehr sorgfältig beobachtet, dass die Kommission am Ende zurückgetreten ist, um einen Misstrauensvotum des Europäischen Parlamentes zuvor zu kommen. Dieses war für Jack Santer, dem Präsidenten der Europäischen Kommission, sicher ein bedauernswerter Vorgang, denn Jack Santer ist ein ehrenwerter Mann. Aber wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, Mitglieder der Kommission zu entlassen wie ein Bundeskanzler einen Ministerpräsidenten Minister entlassen kann, dann wäre uns wahrscheinlich der Rücktritt der Kommission erspart geblieben. Und dieses zeigt, dass wir die Europäische Union auch bei der Kommission weiter reformieren. Und es war richtig, dass der neue Kommissionspräsident, Romano Prodi, ehe die Kommission bestätigt wurde durch das Europäische Parlament, dass er jedem designierten Mitglied der Kommission die Frage gestellt hat: „Würden Sie zurücktreten, wenn ich es von Ihnen auf Grund gewisser Vorkommnisse erwarte? Und jedes Mitglied der Kommission hat diese Frage bejaht. Und damit hat heute der Kommissionspräsident die Möglichkeit bei bestimmter Ahndung von Verhalten von Mitgliedern der Kommission, diese wie einen Nationalen Minister zu entlassen.

Aber das steht noch nicht in den Verträgen, und ich möchte Ihnen einmal berichten wie es war, ehe das Europäische Parlament seine Zustimmung zu dieser Kommission gegeben hat. Wir haben nicht das Recht, einzelne Minister oder Ministerkommissare, Artminister, nicht zu berufen, sondern wir können nur zu der Gesamtkommission als Europäisches Parlament ja oder nein sagen, so dass es am Ende immer eine Abwägung ist, ob man der gesamten Kommission die Zustimmung gibt. Und wir haben es uns dieses Jahr in unserer Kommission nicht leicht gemacht, Herr Prodi und seine Mannschaft haben uns Zugeständnisse gemacht, und Sie werden sehen, das ist eine Art verfassunggebender Prozess. Herr Prodi hat vor dem Abstimmungsvotum im Europäischen Parlament fünf Punkte, die auch aus unserer Fraktion kamen, und das Parlament insgesamt übernommen hat, fünf Punkte akzeptiert, einen Verhaltenscodex, der jetzt bindend ist für das Verhalten der Kommission gegenüber dem Europäischen Parlament.

1.) Die Kommission verpflichtet sich, dass, wenn immer das Parlament es verlangt, die Mitglieder der Kommission im Gesamtparlament und in den Ausschüssen des Parlamentes präsent ist.
(Auf nationaler Ebene ist das normalerweise eine Selbstverständlichkeit, überall nicht. Das gibt es auch mal im Deutschen Bundestag, dass die Mitglieder der Bundesregierung nicht in den Ausschüssen sind, aber in der Regel trifft das zu. Die Kommission hat sich also verpflichtet, immer präsent zu sein, wenn das Parlament es verlangt. In besonderen Fällen kann es natürlich mal eine Ausnahme von diesem Prinzip geben, z.B. entschuldigte sich vor einigen Tagen ein Kommissar, nämlich der für Agrarpolitik, Sie wissen wahrscheinlich wen ich meine, er könne nicht in den Ausschuss kommen in diesen Tagen, weil er für die Europäische Union in Seattle ist, wo die Welthandelsvereinbarungen jetzt beginnen, oder die Verhandlungen darüber jetzt beginnen. Es ist also ein guter Schritt, wenn dieses so mitgeteilt wird.

2.) Wenn das Parlament einem Mitglied der Kommission das Misstrauen ausspricht, hat es keine unmittelbaren Konsequenzen. Und Romano Prodi hat sich verpflichtet, dass, wenn das Parlament ein Mitglied der Kommission das Misstrauen ausspricht, dass dieses für Romano Prodi ein Anlass ist, sich sehr intensiv mit der Frage zu beschäftigen, sich mit dem Mitglied der Kommission zu befassen und an dieses Mitglied die Frage zu richten, ob es entlassen wird.

3.) Wir als Parlament haben nicht das Initiativrecht für die Gesetzgebung. Herr Prodi sagt, dieses Gesetzgebungsinitiativrecht liegt bei der Kommission. Und Herr Prodi hat zugestimmt, dass, wenn wir eine Gesetzesinitiative, auch eine Änderung eines Gesetzes, z. B. bei den FFH-Richtlinien, (Fauno, Flora, Habitat), das ist ein sehr konkreter Fall, der in nächsten Wochen und Monaten von uns zu behandeln sein wird, dass, wenn wir dieses verlangen, dass er dem im Wesentlichen entsprechen wird.

4.) Dass die Reformen in der Europäischen Kommission mit dem Europäischen Parlament eng abgestimmt werden.

5.) Dass die Regierungskonferenz der Länder der Europäischen Union, die nun anfangs 2000 beginnen wird, einen umfassenden Auftrag bekommt für die Reformen der Europäischen Union, wie ich es eben dargestellt habe.

Meine Damen und Herren, dieses sind wichtige Zugeständnisse, wichtige Vereinbarungen, die die Kommission mit dem Europäischen Parlament getroffen hat. Und wir haben diese Forderung noch einmal in einem Schließungstext am 15. September eingebaut, dieser Text wurde vom Europäischen Parlament verabschiedet, und dann hat Romano Prodi vor der Abstimmung über die Kommission noch einmal vor dem Europäischen Parlament sich zum Inhalt dieser Vereinbarung bekannt, so dass dieses im Verhältnis zur Kommission jetzt gleichsam geltendes Recht ist. Wir werden sehr darauf achten, dass dieses auch eingehalten wird. Wir wollen, besonders unsere Fraktion, dass die Europäische Union eine Demokratische Union ist, dass sie den parlamentarischen Grundsätzen entspricht, und vor allen Dingen, wenn diese Kommission, wie Herr Prodi es gesagt hat, eine Art Regierung ist, dass dann diese Regierung auch durch das Europäische Parlament kontrolliert wird, wie es auf nationaler Ebene auch geschieht.
Meine Damen und Herren, es muss in einigen Bereichen darüber hinaus wichtige Fortschritte in der Zukunft geben, und das ist die Außen-, die Verteidigungs- und Sicherheitspolitik.
Wenn Sie mir eine persönliche Bemerkung gestatten, ich war von 1984 – 1994 Vorsitzender des Unterausschusses Sicherheit und Abrüstung. Und als wir 1984 mit dieser Arbeit begannen, hat man uns belächelt, man hat gesagt, jetzt fangen diese Europaabgeordnete auch noch an, sich mit Außen-, Sicherheit- und Verteidigungspolitik zu befassen. Die EWG, wie man damals noch sagte, ist doch nur etwas für die Wirtschaft. Wir waren immer der Überzeugung, dass diese Europäische Union eine handlungsfähige, eine starke Europäische Union sein muss, damit sie sich auch in die Lage versetzen, die Menschenrechte und die Demokratie in Europa zu verteidigen und auch außerhalb der Grenzen der Europäischen Union, wenn es notwendig ist. Und dann hat es diese Entwicklung gegeben, bis hin zum Vertrag von Maastrich 1992, danach den Vertrag von Amsterdam, der am 1. Mai dieses Jahres in Kraft trat. Jetzt haben wir so etwas, zumindest auf dem Papier, wie eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Aber wir haben sie in der praktischen Wirklichkeit noch nicht, obwohl es sehr mutige Schritte auf diesem Wege gibt, schauen wir zurück auf die schreckliche Tragödie im ehemaligen Jugoslawien.

Alle fünfzehn Länder der Europäischen Union, ihre Parlamente und das Europäische Parlament haben in gleicher Weise dieses Vorgehen vom Milosevic nachdrücklich verurteilt, und es gibt dazu ein Dokument der Staats- und Regierungschefs von Berlin auf dem Gipfel im März dieses Jahres, wo man sich mit einer entschlossenen Sprache auch von Seiten der Länder der Europäischen Union darauf verständigt hat, entschlossen gegen Milosevic vorzugehen. Das war ein wichtiger Fortschritt, aber wir müssen auch sagen, meine Damen und Herren, dass 80 Prozent der Last, der Soldaten und des Materials die Amerikaner getragen haben. Das heißt, ohne Amerika wäre es nicht möglich gewesen, dass die Menschen in ihre Heimat zurück gekommen wären, das heißt, dass Milosevic dort besiegt worden wäre. Und deswegen ist es notwendig, dass wir, die Europäer, uns nun auch die Kapazitäten, die Möglichkeiten geben, dass wir, auch wenn die Amerikaner nicht handeln können, oder nicht handeln wollen, im neuen Jahrhundert, in den nächsten Jahrzehnten in unserem geografischen Umfeld, dass wir Europäer uns in die Lage versetzen, auch selbst handeln zu können. Dazu bedarf es des politischen Willens, aber dazu bedarf es auch der technischen Möglichkeiten, und das sind insbesondere die Transportkapazitäten, die wir heute nicht haben und auch die Nachrichteninformation über Satelliten, die wir Europäer heute in diesem Maße nicht haben, und wir sollten unsere Bemühung in diesem Bereich verstärken, aber nicht gegen Amerika, sondern immer in Partnerschaft und in Freundschaft mit unseren amerikanischen Verbündeten als Ergänzung zur NATO. Und dieses sollten wir auch mit den Amerikanern dann immer im Einzelnen sorgfältig abstimmen, wer handelt, ob wir zusammen handeln, oder die Amerikaner handeln, oder wir Europäer handeln, oder die NATO insgesamt wenn es um die Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten geht. Aber, meine Damen und Herren, dieses ist meine feste Überzeugung, wir werden die Solidarität in der Europäischen Union nur gewährleisten können in der Zukunft. Auch die finanzielle Solidarität, wenn wir solidarisch sind in der Verteidigung der uns verbindenden Werte, der Menschenwürde, der Menschenrechte, der Demokratie und der marktwirtschaftlichen Ordnung. Auch hier müssen die Europäer gemeinsam handeln.
Meine Damen und Herren, welches sind die großen außenpolitischen Herausforderungen der nächsten Jahre? Russland geht hoffentlich einen Weg in die Zukunft, der es ermöglicht, dass Russland ein stabiler Faktor wird auf dem Europäischen Kontinent. Und die Sicherheit auf unserem Europäischen Kontinent im 21. Jahrhundert wird davon abhängig sein, dass die Europäische Union stark und handlungsfähig ist und dass Russland sich stabil und demokratisch entwickelt. Eine Garantie dafür gibt es gegenwärtig nicht, aber es ist unser aller Interesse, dass Russland sich so entwickelt. Und wo wir es können, sollten wir Russland Hilfe zur Selbsthilfe geben. Aber Russland muss seinen Weg selber gehen und selber entscheiden. Ob Russland sich in Werten des Westens verpflichtet fühlt oder aber eher sich in eine Isolation zurückzieht und in Verhaltensweisen, wie sie unserer Wertegemeinschaft nicht entsprechen. Und das, was gegenwärtig in Tschetschenien geschieht ist nicht Ausdruck der Verbundenheit zu unserer Wertegemeinschaft. Wir können es nur nachdrücklich kritisieren. Die Beziehungen zu Ukraine sind von großer Bedeutung. Die Ukraine möchte auch Sicherheit haben, auch Sicherheit vor Russland. Deswegen müssen wir auch auf bilateraler partnerschaftlicher Ebene alles tun, um auch unseren, da wo es denn geht, Beitrag zur Stabilität der Ukraine zu leisten.
Von den Baltischen Staaten habe ich eben gesprochen, sie sollten möglichst, so rasch es geht, Mitglied der Europäischen Union werden, damit sie nicht wieder ihre Freiheiten verlieren und als sogenanntes nahes Ausland in die russische Einflussphäre eingebunden werden.
Ganz entscheidend sind unsere Beziehungen zu den Islamischen und Arabischen Staaten und Herr Pater Dr. Wilmer hat es je eben erwähnt, in Nordafrika und im Nahen Osten.

Wir Deutschen schauen häufig nur nach Osten, was ja ganz natürlich ist. Aber die Franzosen und die Spanier, die Griechen, die Italiener, die Portugiesen schauen auch nach Süden. Und Algier, die Hauptstadt Algeriens, liegt näher an Paris als Warschau an Paris liegt, und deswegen kann es für die Sicherheit Europas nicht unerheblich sein, welche Entwicklung die Mittelmeerstaaten nehmen als die Nordafrikanischen Länder und der Nahe Osten und der Islam insgesamt. Und Sie wissen, es gibt so Theorien, die von einem amerikanischen Wissenschaftler Samuel Hunting, der vom Clash der Zivilisations spricht, also den Zusammenprall der Zivilisation. Und wenn wir dieses annehmen, dass es zu einem solchen Zusammenprall der Zivilisation käme, dann ist dieses gleichsam eine „self-full-filling-profezi“, eine „Sich-Selbst-Erfüllende-Prophezeiung“, die dann dieses Unheil, das man doch abwenden will und abwenden muss, gleichsam heraufbeschwört. Und deswegen müssen wir alles in unseren Kräften tun, politisch und auch dort, wo es die religiöse Kraft gibt, dass wir mit den Ländern des Islams, der arabischen Welt, des nördlichen Afrika miteinander in Frieden leben und eine Partnerschaft entwickeln, eine Zusammenarbeit entwickeln, die unseren Kulturen, die ja reich sind, sowohl den Kulturen des Christentums und der Abendländischen Welt, Westeuropas, Europas eine Chance gibt, wie auch den Kulturen des islamischen Raumes. Alle haben ja eine Überzeugung vom Gott als den Gott, der diese Welt doch in seiner Verantwortung trägt. Auch das ist doch etwas Verbindendes zwischen Christen und Moslems. Wir sollten als Europäische Union -und auch die großen Kirchen- alles Erdenkliche tun, dass wir nicht zu einem solchen Zusammenprall der Kulturen kommen, sondern wir sollten den Dialog fördern. Und deswegen entwickelt die Europäische Union eine
Politik, die darauf ausgerichtet ist mit allen Mittelmeerstaaten, also auch am südlichen Rande des Mittelmeeres, in einer engen Kooperation politisch zu leben. Es ist angestrebt, bis zum Jahre 2010 eine Freihandelszone zu schaffen, die zum wirtschaftlichen Vorteil für alle ist.

Meine Damen und Herren, das sind einige der großen Herausforderungen. Wir müssen natürlich als Europäische Union immer bereit sein, auch die Defizite, die es bei uns in der Europäischen Union gibt, zu beseitigen. Da, wo es Misswirtschaft gibt. Und hier gibt es auch unterschiedliche Verhaltensweisen der Länder der Europäischen Union und unterschiedliche Einstellungen. Wir müssen diese begegnen, wo immer wir es können. Diese Europäische Union mit heute 370 Millionen Menschen ist wirtschaftlich ein Riese. In der Europäischen Union leben 110 Millionen Menschen mehr als in den Vereinigten Staaten von Amerika. Und über 200 Millionen Menschen mehr als in Russland. Und wenn die 10 Länder Mitteleuropas der Europäischen Union beitreten, dann sind in dieser Europäischen Union nahezu über 500 Millionen Menschen. Und deswegen muss sich diese Europäische Union sich so reformieren, dass sie am Ende nicht zu einer großen Freihandelszone sich verflüchtigt, sondern eine starke, eine handlungsfähige und demokratische Europäische Union ist. Und damit stellt sich abschließend die Frage, wie soll denn der Aufbau dieser Europäischen Union sein.

Es wäre eine Horrorvorstellung, auch für mich als engagierten Europäer, wenn wir eine Ordnung Europas bekämen, dass alles von Brüssel aus entschieden werden müsste. Sondern Brüssel und Straßburg dürfen nur für die Aufgaben verantwortlich sein, für die Mitgliedsstaaten, die Nationen Europas, die zu klein geworden sind. Und wir brauchen ein Verständnis von Europa, unserer verschiedenen auch politischen Identitäten, die der kommunalen Selbstverwaltung, hier in der Gesamtgemeinde Freren und da wo es möglich ist, hier natürlich Handrup, und im Landkreis Emsland, die Gestaltungsmöglichkeiten belässt.
Und nur wo der Landkreis Emsland, die Samtgemeinde Freren überfordert sind, da darf dann zunächst die höhere Ebene zuständig sein, das Land Niedersachsen die Bundesrepublik Deutschland oder die Europäische Union. Und so brauchen wir ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Handlungsebenen, von der komunalen Ebene über die regionale Ebene, bei uns würde man sagen: Bundesländerebene, die Nationen und die Europäische Union. Und darüber hinaus gibt es eine Verantwortung für die Welt.
Und meine Damen und Herren, viele sagen, die Nationen Europas seien überholt. Ich glaube dieses nicht, sondern der nationale Charakter der Handlungsbefugnisse der Nationen wird sich natürlich verändern. Aber die Nation als Ausdruck der Identität der Völker wird erhalten bleiben. Und wenn Sie an die Polen denken, so haben die Polen über ihre nationale Identität auch ihre konfessionelle Identität, also Katholiken, den Weg wiedergefunden zu Europa und zu den Werten Europas. Deswegen werden, wie ich auch finde, die Nationen weiter eine Rolle in Europa haben.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend dieses sagen:

In Europa wird viel gesprochen von Wirtschaft, von Geld, wir haben die gemeinsame Europäische Währung. Mag das Verhältnis mit dem Amerikanischen Dollar auch gegenwärtig ziemlich schwankend sein, zum Nachteil des Euro im Innern der Europäischen Union, ist der Euro stabil. Wir haben eine Stabilitätsgemeinschaft, und das Verhältnis zum Amerikanischen Dollar wird sich dann wieder ändern, wenn die Wirtschaften und die Regierungen, vor allen Dingen in Europa, die Kraft haben, zu wirklichen Reformen innerhalb der Europäischen Union und der Wirtschaftsordnung in diesen Ländern. Aber was Europa vor allen Dingen braucht, das ist eine Seele, dass wir uns auf die fundamentalen Werte Europas wieder besinnen. Und dazu haben wir allen Anlass nach dem Niedergang des Kommunismus. Nicht das Kollektiv, nicht der Mensch in einem Kollektiv, nicht die Masse setzen sich durch in Europa, in der Welt, sondern es ist unser christliches Menschenbild, die Würde des Einzelmenschen. Ich denke, das ist ein großer Wert, der sich durchgesetzt hat, und wir müssen diesen Wert jedes Einzelmenschen viel stärker in das Bewusstsein stellen. Und das Entscheidende ist, neben dieser Seele, neben diesem Wert, dass wir den Frieden in Europa garantieren können. Und das geht, und damit komme ich zu meinem Ausgangspunkt zurück, das geht mit dieser neuen Methode, von der eben die Rede war. Wenn im Ministerrat, wenn im Europäischen Parlament die Mehrheit entschieden wird, dann ist das mehr als nur ein demokratischer Mechanismus. In allen Jahrhunderten vor uns hat man viel Streit gehabt und am Ende zu den Waffen gegriffen, weil man es nicht akzeptierte, dass andere sich durchsetzten. Und heute entscheiden wir unsere Konflikte und unsere Interessenunterschiede in der Europäischen Union mit den Mitteln der politischen Abstimmung. Und diese politische Abstimmung wird zum Recht und damit zu Europäischen Gesetzen. Und damit hat die Politik, hat das Abstimmen im Europäischen Parlament im Ministerrat eine friedensstiftende Funktion. Das ist eigentlich das Entscheidende, was wir aus der Erfahrung, aus der Geschichte dieses Jahrhunderts und der Jahrhunderte vorher in Europa in die Zukunft ins 21. Jahrhundert gestaltend mitnehmen müssen. Aber, und damit komme ich zum Schluss, meine sehr verehrten Damen und Herren. Es gibt keine historische Zwangsläufigkeit. Das Bemühen um die Einigung Europas muss sich in unseren Tagen immer wieder erneut in der Zukunft bewähren. Und Europa fällt auch nicht wie eine reife Frucht vom Himmel, sondern in den vielen kleinen Entscheidungen auch im Europäischen Parlament. Auch dadurch, wie man mit den kleinen Ländern umgeht. Und ich sehe mit großer Sorge, wie einige größere Länder, da dieses keine parteiliche Veranstaltung ist, will ich das nicht näher darstellen, wie einige vermeintlich größere Länder auch mit den kleineren umgehen. Ja, man sagt, eine bestimmte Person, die nun mal die Präsidentschaft hat in der Europäischen Union, der Kanzler verhandelt mit den größeren Ländern, der Außenminister mit den kleineren Ländern. Dann ist das so eine Atmosphäre, die nicht diesen Spielregeln gerecht wird. Das heißt, wir müssen Europa in jedem täglichen Bemühen auf dem Weg nach vorne bringen. Und wir werden dieses Ziel, und davon bin ich überzeugt, meine Damen und Herren, dass wir seinem Anspruch, die Bewahrung des Friedens und der Schöpfung, die Geltung der Demokratischen Prinzipien, die Herrschaft des Rechts sowie die Unantastbarkeit der Würde des Menschen und seine unveräußerlichen Menschenrechte vereint erreichen, wenn wir selbst es wollen.
Dass uns dieses gemeinsam gelingen möge, ist mein aufrichtiger Wunsch, für Sie und für uns alle. Im Kern geht es dabei um den Frieden im 21. Jahrhundert.
Ich danke Ihnen sehr für Ihre Geduld.

Anschließende Diskussion
(Wiedergabe ebenfalls nach Bandmitschnitt)

P. Dr. Wilmer:

Herr Prof. Dr. Pöttering, Sie haben uns einen Einblick gegeben in Ihr tägliches Brot, Ihre tägliche Arbeit im Europaparlament als auch uns teilhaben lassen an einer Vision eines zukünftigen Europas. Sie sagten: „Europa brauche eine Seele“. Herzlichen Dank für den lebendigen und anschaulichen Vortrag.

Jetzt ist Gelegenheit zu einem Austausch, zu einer Diskussion. Herr Prof. Dr. Pöttering steht für Fragen aus dem Plenum zur Verfügung. Wir werden die Fragen sammeln und wie gesagt, er wird sie dann beantworten.

Zuhörer:

Sie haben Ihren Vortrag mit der neuen Idee begonnen, die diesem Ganzen vorausgeht, dass es ursprünglich vier, fünf Länder gegeben hat, die in wechselseitigen Allianzen versucht haben, Stabilität zu erreichen und nun in die Bündelung der Interessen hinein das auch erreicht haben. Und das führt eher in der Folge dazu, wie Sie sagten, was wir jetzt haben; Asien, Afrika, Amerika und eben Europa. Und insofern sehe ich die Frage gestellt, ob man nicht am Anfang des Kreises angelangt ist. Muss auch hier wieder eine Vereinheitlichung der Interessen angestrebt werden, um die Mühle fortzusetzen und ob sich damit das Ganze nicht überhebt. Wieweit bleibt dann noch die Subsidiavität erhalten. Hat der Nationalstaat tatsächlich noch Bestand neben der Einheit.

Prof. Dr. Pöttering:

Ja, das ist natürlich eine schwierige Frage, es darf nicht ein neuer Nationalismus entstehen auf der Ebene Europas. Also das heißt praktisch, den Nationalismus, den wir früher in den Einzelländern hatten, dass der jetzt auf die Ebene Europas transponiert wird, das muss verhindert werden. Aber ich sehe auch gute Chancen, das zu verhindern, weil die Europäische Union anders ist als diese fünf Staaten, die ja keine wirklichen demokratischen Staaten waren. Heute ist diese Europäische Union eine demokratische Union. Selbst wenn wir heute noch gewisse Demokratiedefizite auf der Ebene der Europäischen Union haben, aber das werden wir schrittweise durch das Arrangement des Europäischen Parlamentes korrigieren und hoffentlich auch korrigieren können, so dass ich auf der Grundlage der Demokratie in der Europäischen Union diese Gefahr eines Europäischen Nationalismus –wenn Sie das gemeint haben, so habe ich das herausgehört aus Ihrer Frage-, dass wir das verhindern können. Was wir brauchen in der Welt, weil Sie Afrika genannt haben, Afrika war ja in diesem Beispiel von Goloman als ein Beispiel, das man sich Afrika aneignen wollte, was ja dann auch geschehen ist durch die Franzosen, durch die Briten und zum Teil auch durch die Niederländer. Die Niederländer, unsere Nachbarn, waren ja eine Kolonialmacht. Ein bisschen haben wir auch noch getan, die Deutschen im vorigen Jahrhundert. Mit diesen Ländern brauchen wir Kooperation, brauchen wir Zusammenarbeit. Und die Europäische Union hat heute das sogenannte AKP-Abkommen, das ist ein Abkommen mit über 60 Staaten aus dem afrikanischen, karibischen und pazifischen Raum. Und da liegt unsere eigentliche Aufgabe, auch gegenüber Afrika, ein Kontinent, der eher auf der Schattenseite dieser Welt liegt, dass wir durch Kooperation ein Beitrag leisten für die Entwicklung auf diesem Kontinent. Und darum wird das auch gehen müssen bei der WTO, bei den Welthandelsvereinbarungen, und ich glaube, wir können eher noch als die Amerikaner, die da ein anderes Verhalten haben, können wir, die Europäer, auch Anwalt der Länder der Dritten Welt sein. Die Frage nach „Subsidiavität“, das ist eine ständige Frage. Ich habe mal, als ich in einer Veranstaltung in Lathen herausgefordert wurde durch einen Kreispolitiker, der Europa beschimpfte, gesagt: „Und was in Lathen erledigt werden kann, das darf der Landkreis Emsland nicht an sich reißen“. Da bekam ich natürlich einen Mordsapplaus, auch aus der Situation, ich will das aber nicht ironisieren. Es ist eine ständige Aufgabe darüber nachzudenken, was kann auf welcher Ebene gemacht werden. Es wird hier im Landkreis Emsland überlegt, was können die Gemeinden, was können die Städte machen, was muss notwendigerweise der Landkreis machen, wo muss die Kreisumlage sein. Darüber habe ich heute mit einigen Kreispolitikern im Landkreis Osnabrück diskutiert. Also, das geht immer in beide Richtungen. Wir haben hier ja einen Kreistagsabgeordneten hier aus Fürstenau. Als ich das sagte, war mir das gar nicht bewusst, dass wir einen Landkreisabgeordneten hier aus Osnabrück haben. Also, das ist eine ständige Frage „Wer macht was“? Und das ist auch in Amerika so. In Amerika gibt es eine ständige Diskussion „Was sollen die Staaten machen – und was soll die Regierung machen in Washington“? Und diese Diskussion wird es auch immer geben. Und je auch nach parteipolitischer Zugehörigkeit wird die Antwort auf diese Frage auch immer sehr unterschiedlich sein. Aber meine persönliche Position ist auf Grund der Subsidiavität, dass die Aufgaben, wo immer es möglich ist, möglichst nah bei den Menschen bewältigt sein müssen. Und das bedeutet eben für Europa, dass jedes Gesetz, jede Verordnung, jede Richtlinie, die verabschiedet wird, sich auch hinterfragen lassen muss, ob es notwendig ist und ob Europa sich dieses Anliegens annehmen muss.

Zuhörer:

Ist die Komplexität überhaupt noch zu bewältigen. Wenn man allein schon bedenkt, wie viele Sprachen allein schon gesprochen werden, wenn dann noch mehr Länder dazu kommen, man kann sich nicht mal einigen, ich sag‘ mal auf die französische und englische Sprache. Die Deutschen sagen, wir sind groß genug, es soll deutsch gesprochen werden. Aber ich mein‘, ich muss an Babylon denken. Dort, wo die Sprachenprobleme nicht erreicht wurden. Aber man kann es vergleichen, die ganze Steuerreform, die Steuerharmonisierung in den unterschiedlichen Ländern, es gibt völlig unterschiedliche Steuersysteme. Wie stellen Sie sich das vor?

Prof. Dr. Pöttering:

Ja, also zunächst darf ich Ihnen als Niederländer erst einmal ein tolles Kompliment machen wie die Niederländer, und Sie es ganz besonders, sich in Sprachen ausdrücken. Nicht nur in deutsch, dass Sie es 100% verstehen mit einem noch so einen sympathischen Akzent. Sondern die Niederländer sind wirklich diejenigen, das sage ich jetzt nicht, weil Sie jetzt Niederländer sind, sondern die Niederländer sind wirklich in Bezug auf die Sprachen die Besten in Europa.
Ihr früherer Außenminister Lünz hat mal gesagt: „Ja, das Ausland ist so groß, deswegen müssen wir uns als Holländer besonders bemühen“. Deswegen hatten Sie damals sogar zwei Außenminister für kurze Zeit. Also ich finde, dass Sie sagen „Babylon“, da ist natürlich was dran. Aber Sie haben in der Politik nicht die Entscheidung zwischen gut und schlecht, sondern Sie müssen mit der Situation umgehen, die Sie vorfinden. Und deswegen ist die Frage, wenn wir das Beispiel jetzt der Sprachen nehmen, kann das ein Anlass sein, die Sprachenfrage, dass wir jetzt die Länder Mitteleuropas nicht in die Europäische Union aufnehmen? Die Antwort muss ganz klar „Nein“ sein. Man muss versuchen, die praktischen Probleme zu lösen.
Das bedeutet, dass sicher nicht jedes Dokument in allen Sprachen, heute haben wir 11 Sprachen in den 15 Ländern der Europäischen Union, die offizielle Sprachen sind. Englisch gibt es ja auch in Irland, deswegen ist es da einmal weniger eine Sprache, dann Französisch in Belgien und Niederländisch, Flämisch dann auch in Belgien, so dass es einige Sprachen weniger sind. Aber es muss in Zukunft nicht jedes Dokument übersetzt werden. Es gibt jetzt auch mittlerweile Maschinen, die so Dokumente übersetzen. Aber ich habe es neulich einmal versucht. Der Text war so verunstaltet, da haben Sie mehr Mühe das zu korrigieren, als wenn Sie es sich übersetzen lassen. Vielleicht verbessert sich diese technische Apparatur noch. Aber es muss nicht alles übersetzt werden. Es gibt auch irgendwann Grenzen, wo Sie so viele Boxen für jede Sprache rein räumlich im Europäischen Parlament nicht mehr machen können. Man muss sich vielleicht überlegen, dass in einer Kabine mehrere Nationalitäten bedient werden. Aber worauf man schon bestehen muss, dass jeder Abgeordneter sich in jeder Sprache ausdrücken kann. Wir können für Politiker keine Sprachprüfung machen. Dann haben Sie anschließend nur noch Dolmetscher und solche Leute in den Parlamenten. Ich glaube, das geht nicht. Hier muss man Wege gehen, die doch einigermaßen dann auch das Recht des Abgeordneten zum Ausdruck bringen. Aber Sie haben recht. Großes Problem ist natürlich die Sprachenfrage. Aber was das Eigentliche ist, Sie sagen: ist das Ganze dann noch handhabbar? Es ist dann handhabbar, wenn sich alle zu gemeinsamen Spielregeln bekennen. Und diese Spielregel müssen sein, dass die Mehrheit entscheidet, im Europäischen Parlament und im Ministerrat. Deswegen sage ich, muss es in den meisten Fragen der Gesetzgebung die Mehrheitsentscheidung geben. Militäreinsätze können Sie nicht mit Mehrheit entscheiden. Nehmen wir mal an, es gibt wieder ein Beispiel im Kosovo, dann können Sie nicht mit Mehrheitsentscheidung sagen, Iren müssen sich jetzt beteiligen. Das kann man nicht machen. Aber ich möchte es auch nicht, dass die Iren es verhindern können. Das heißt, wer sich nicht beteiligen will, der soll es eben nicht machen. Aber die, die handeln wollen und handeln können, die sollen es tun. Dann auch im Namen der Europäischen Union. Da muss man dann normale Verfahren finden, die das dann ermöglichen. Aber nach dem wir jetzt viel vom Militär gesprochen hatten, und wenn ich das noch sagen darf. Das Wichtigste ist, Kriege zu verhindern. Und deswegen brauchen wir eine sogenannte vorsorgende Sicherheitspolitik, das heißt, wenn wir Krisen erkennen, dass sich daraus wirklich große Konflikte ergeben könnten,
dann müssen wir versuchen, durch politische, durch diplomatische und wirtschaftliche Maßnahmen einen militärischen Konflikt zu verhindern. Deswegen muss Europa eine Friedensverantwortung auch außen wahrnehmen, um möglichst zu erreichen, dass es gar nicht zum Einsatz von Waffen kommt, das ist immer die Ultima Ratio, das ist immer das letzte Mittel. Letzte Bemerkung dazu, weil Sie von Babylon sprechen, das ist so der negative Aspekt der ganzen Entwicklung. Wenn wir aber den positiven Aspekt nehmen, dass es in unserer Lebenszeit möglich war, dass die Menschen in der Mitte und im Osten Europas ihre Freiheit wieder bekommen haben und dass es jetzt doch eine große gestaltende Aufgabe ist, die Architektur Europas aufgrund des sich Durchsetzen der Demokratie und der Freiheit dieses zu gestalten, dann geben Sie der ganzen Entwicklung einen positiven Akzent, und ich finde, wir sollten doch die Dinge mit Zuversicht angehen, mit Optimismus. Das ist alles nicht leicht, was ist schon in diesem Leben leicht. Aber wir haben eine großartige Chance, dass wir es schaffen. Und wenn wir die Situation von vor 15, 20 Jahren hätten, mit der Mauer in Berlin, mit dem geteilten Europa, mit der Bedrohung durch die Nuklearwaffen. Ich glaube wenn wir das vergleichen mit der gegenwärtigen Situation, haben wir allen Anlass, für die Entwicklung sehr dankbar zu sein.

Zuhörer:

Herr Prof. Pöttering, Sie haben sich eindeutig gegen die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union ausgesprochen. Es ist ja ganz sicher, dass der Fundamentalismus eine große Gefahr darstellt für Europa Und zwar eine zunehmende Gefahr. Die Türkei ist ein sehr gemäßigter islamischer Staat Ist es nicht sehr wichtig, diesen gemäßigten Staat möglichst bald in die Europäische Union einzubinden. Hinzu kommt, dass die Amerikaner, und meiner Meinung nach, auch die Briten starken Druck auf uns ausüben, die Türkei möglichst bald in die Europäische Gemeinschaft aufzunehmen. Wie ist Ihre Meinung dazu?

Prof. Dr. Pöttering:

Ja, ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Bemerkung, weil sie deutlich macht, dass man dieses Problem von zwei Seiten sehen kann. Ich bin mit Ihnen absolut der Meinung, dass wir sehr gute, sowohl auf politischer wie auf wirtschaftlicher Ebene, Beziehungen zur Türkei brauchen. Und das die Türkei auch eine europäische Orientierung braucht. Aber ich teile nicht die Meinung, dass man …

(Neue Aufnahmen, anderes Band)

…und ich sage ausdrücklich nicht: ein religiöser Grund. Ich möchte es nicht auf die Frage Islam/Christentum reduzieren. Denn ein in dem Sinne „christliche Gesellschaft“ sind wir ja, leider, auch nicht in Westeuropa. Sondern es geht um die Lebensordnung, die kulturellen Zusammenhänge. Wenn in der Türkei beispielsweise das Kurdenproblem gar nicht als solches
von der offiziellen Staatsführung anerkannt wird, dann zeigt das, dass man ein unterschiedliches Denken hat im Bezug auf das kulturelle Denken in der Europäischen Union.
Die Europäische Union besteht darauf. Z.B. was den Beitritt der Slowakei angeht, was den Beitritt Rumäniens angeht, dass die Ungarn in der Slowakei in Rumänien ihre eigene Identität auch ein Stück leben können im Staatenverband der Slowakei und Rumänien. Denn wenn dieses nicht geschieht, dann kann es Konflikte geben, wenn die Slowakei und Ungarn der Europäischen Union beitreten, weil Ungarn als Staat sich verpflichtet fühlt, für die Ungarn in der Slowakei sich einzusetzen. Das heißt also, wenn da Minderheitenprobleme vorhanden sind, dann werden diese mit einem Beitritt in die Europäische Union hinein getragen. Und das ist mit der Kurdenfrage der Fall. Gegenwärtig gibt es kein wirklich fundamentales Verständnis bei der offiziellen Staatsführung in der Türkei für die Kurdenproblematik. Ich könnte Ihnen ein Beispiel nennen wie ich einmal einem alten Ehepaar aus Kurdistan geholfen habe. – Ich werde das nie vergessen. Ich will die ganze Geschichte nicht erzählen, wie man sie von dem Hof weggebombt hat, durch das türkische Militär, weil sie der PKK, die dort mit Maschinenpistolen gekommen sind und sich Lebensmittel erpresst haben. Weil man denen das gegeben hat, dann hat man diese Leute dann als Kollaborateure der PKK behandelt, und man hat den ganzen Hof kaputt gebombt und diese Leute von dem Hof, diese Familie ist dann durch Europa gewandert und landeten in der Ukraine. Und dann hat dann der Sohn, der in der Nähe meines Wohnortes wohnt, nämlich vor Bad Iburg, in Glandorf, sich an mich gewandt. Und dann habe ich denen dann helfen können, Und Heilig Abend ’93 saß da so ein etwa 80-jähriger Mann bei mir zu Hause auf dem Sofa. Ich hab‘ kein Wort mich mit ihm unterhalten können. Aber er hat mich umarmt, dass ich ihm geholfen hatte, dass er über die Ukraine schließlich zu seinem Sohn und seiner Schwiegertochter nach Glandorf kommen konnte. So, das war so ein Beispiel, an dem man sieht, wie unverhältnismäßig das Türkische Militär handelt. Und das ist jetzt ja die Tragik. Das Militär in der Türkei steht eigentlich an der Seite des Westens. Ist gegen eine fundamentalistische Gesellschaft im islamischen Sinne und verhält sich wieder auf der anderen Seite so unverhältnismäßig, dass es wieder für uns ein Problem ist. Das ist die eine Sache. Dann wissen wir, das heute die fundamentalen Menschenrechte in den Gefängnissen in der Türkei im Sinne der Wahrung der Menschenrechte nicht gewährleistet werden und viele andere Dinge. Deswegen, meine ich, ist heute nicht der Zeitpunkt der Türkei diesen Kandidatenstatus zu geben. Andere sehen das anders. Das ist auch bei mir in der Fraktion sehr unterschiedlich. Ganz unterschiedlich wird das behandelt. Sie haben ja auch von den Briten gesprochen. Auch der französische Staatspräsident Jaques Chirac sieht es so, dass man den Türken jetzt eine Chance geben sollte. Ich sage nicht „Nie“, es wird ja auch in Helsinki wahrscheinlich so sein, dass sie den Kandidatenstatus bekommen, dann ist das eine neue politische Lage, der man entsprechen muss, aber ich halte es gegenwärtig für zu weit gehend, der Türkei diesen Status zu geben. Denn wenn welchem Recht können wir ihn dann der Ukraine und Russland verweigern. Damit kommen wir zu der Frage Babylon zurück. Und dann wird alles noch schwieriger. Und was die USA angeht. Also ich bin ein wirklich guter Freund der USA. War immer von der NATO überzeugt. Und die USA sind unsere Partner. Aber die USA neigen auch dazu, den Europäern Vorschriften zu machen. Und das passt nicht in unsere Zeit, und das ist nicht die Gleichberechtigung. Und das ist nicht Partnerschaft. Und wenn wir den Amerikanern sagen würden, sie sollten die Türkei lieber heute als Morgen in die Europäische Union aufnehmen. Das sollten wir den Amerikanern mal sagen, welche Antwort gibt ihr, wenn wir euch empfehlen Mexiko zu einem 51. Staat der Vereinigten Staaten von Amerika zu machen. Ich glaube, die Amerikanische Regierung und alle Amerikaner würden sich ganz dagegen verwehren. Und deswegen brauchen wir in diesem Fall auch keine Belehrungen aus Washington. Sondern wir müssen unsere Entscheidungen selber treffen, nach freiem Wissen und Gewissen und das ist schon unter Europäern schwierig genug. Aber das ist unsere Entscheidung. Die kann uns auch keiner abnehmen. Letzte Bemerkung noch.
Wie sich die Fronten gewandelt haben. In der Mitte der 90-er Jahre ging es um die Zollunion mit der Türkei. Wir, unsere Fraktion, waren sehr dafür, die Zollunion abzuschließen und hatten genau das gleiche Argument und haben gesagt, dass wir die Zollunion abschließen müssen, die Türken wollen das auch in unserem Interesse, und damit widerstehen wir dem Fundamentalismus. Da war die Zollunion, der Vertrag gerade ratifiziert, das Europäische Parlament muss zustimmen, sonst läuft das nicht. Und dann dauert es ein paar Monate. Herr Erbacan, der damalige Vorsitzende der Islamischen Partei, war in der Regierung. Also geholfen hat es damals nicht entscheidend. Es bleibt abzuwarten, wie die Entwicklung in der Türkei sich vollzieht, wenn sie den Kandidatenstatus, was ich erwarte, in Helsinki jetzt bekommen. Hoffentlich geht es in die Richtung, die wir wünschen. Aber bis zu einem Beitritt wird noch sehr, sehr viel lange Zeit vergehen. Und das Europäische Parlament, das sage ich Ihnen für mich persönlich und für den größten Teil unserer Fraktion, wir werden darauf bestehen, ich meine, wir werden das wahrscheinlich gar nicht mehr erleben, solange kann man auch nicht Abgeordneter sein, bis das zur Entscheidung kommt -, aber das auch wirklich die Spielregeln, die eingehalten werden müssen für einen Beitritt, es gibt sogenannte Kopenhagener Kriterien, die Menschenrechte, Demokratie, vernünftiger Verwaltungsaufbau, rechtsstaatliche Ordnung, dass das Punkt für Punkt erfüllt sein muss, ehe man in unsere Wertegemeinschaft eintreten kann.

Zuhörer:

Ich möchte gerne das Stichwort „Türkei“ noch einmal aufnehmen. Und zwar im Zusammenhang mit dem Tempo der weiteren Expansion der Europäischen Gemeinschaft.
Ich befürchte, dass die Expansion zu schnell voran schreitet, weil, ich sehe, eine Europäische Union kommt auf uns zu, die in erster Linie durch Technokraten, Bürokraten bestimmt ist, die aber ihr Leben, ihre Seele erst durch die Menschheit bekommt. Als Beispiel für ein funktionierendes Nebeneinander möchte ich das Verhältnis zwischen Franzosen und Deutschen nennen. Es hat ja fast 50 Jahre gedauert, ehe aus Erbfeinden Nachbarn wurden, die heute problemlos, ohne den Schatten der Vergangenheit miteinander leben. Wenn wir andere Nachbarn nehmen, z.B. Österreich, z.B. Niederlande, sehr stark Finnland, da gibt es ja noch erhebliche Vorbehalte. Ich kann jetzt nicht beurteilen, worauf das zurückzuführen ist, was zu dieser Erblast geführt hat. Oder positiv gesprochen, wieso es mit Frankreich sehr viel besser gelaufen ist. Liegt es daran, dass dieses Verhältnis sehr lange durch die Politik begleitet worden ist, in dem man, ja auch mit einem finanziellen Aufwand für einen Jugendaustausch gesorgt hat, um auf diese Art und Weise zu einem besseren Verständnis zu kommen?. Das positive Verhältnis, das vermisse ich noch bei vielen Ländern, die jetzt schon Bestand der Europäischen Union sind, und ich befürchte, es wird noch schwieriger, wenn dann noch mehr Länder hinzu kommen, die noch weiter sind und vielleicht vom Charakter der Menschen noch weiter entfernt sind.

Prof. Dr. Pöttering:

Ja, das was Sie sagen, da ist viel Wahres dran, aber es ist auch viel dran, was nicht ganz, wenn Sie gestatten, so der Realität entspricht. Wir sind ja eine pluralistische Gesellschaft. Und wir haben ja gerade in Großbritannien, das Sie ja nannten, Sie sprachen von England, ja eine Medienlandschaft, die sehr auf Populismus ausgelegt ist. Und einige Zeitungen, die nicht mal im Besitz von Engländern sind, die in Skandalen und in eine immer größere Kritik auch gegenüber anderen sich darstellen. Das ist in einer pluralistischen Gesellschaft so, und man darf das nicht als „für das ganze Geld“ so hinnehmen. Es hat, als es am Anfang des Jahres eine massive Kritik gegeben hat an Deutschland in Großbritannien in der Presse, eine Umfrage bei der Bevölkerung gegeben, die war sehr viel positiver. Und das Erstaunliche, die Menschen sind ja heute viel schlauer und viel einsichtiger als vielfach angenommen wird. Und was nun Frankreich angeht, so muss man sagen, Frankreich war nun unser, wie man sagte, Erbfeind, dass heißt, unser Wunsch mit den Franzosen klar zu kommen, der war vorrangig und deswegen war es ja auch so wichtig, dass diese Initiativen damals auch aus Frankreich kamen, durch Jean Monnet und Robert Schumann. Und das ist ganz wichtig, dass es auch jetzt in Berlin -und das wir da nicht eine Anmaßung haben als Deutsche-, dass wir jetzt, das Deutschland und Frankreich weiter gut miteinander klar kommen. Und das ist auch eine Forderung, die man an die Regierung stellen muss. Das darf nicht nach Lust und Laune gehen, ob einem das passt oder nicht, sondern ein Bundeskanzler und ein französischer Staatspräsident, ein französischer Ministerpräsident haben die Pflicht, etwas für das deutsch-französische Verhältnis zu tun. Und es ist unverantwortlich -aber dann würde ich ja schon wieder parteipolitisch, wenn ich jetzt Details sage- wenn gewisse Leute sagen, ja, die Agrarpolitik Frankreichs interessiert mich nicht, in Deutschland wählen mich die Leute nicht. Das ist unverantwortlich, weil es die Interessen eines Landes außer acht lässt, wenn man die Interessen eines anderen Landes außer acht lässt, dann spüren die Menschen das. Und dann schafft das Gegnerschaften und deswegen ist es die Pflicht, dass Leute in Paris und in Berlin, dass sie aufeinander zugehen. Ja, und das war das Großartige, dass dieses in der Vergangenheit zwischen Helmut Schmidt und Giscar d´ Estaine, die haben sich prima verstanden, zwischen Konrad Adenauer und Charles de Gole, die haben sich prima verstanden und der Sozialist Franzoise Mitterand und Helmut Kohl, die haben sich besonders gut verstanden. Und so muss es auch sein. Und das eine Forderung, die man an die politischen Führungen haben muss. Es hat sich alles gut entwickelt, aber ich sage auch, nichts ist ewig von Bestand. Und ich vergesse nie, wie am 01. Mai 1998, es war ein Samstag, die einzige Sitzung, die wir als Europäisches Parlament samstags gehabt haben, in Brüssel, Freitags haben die Finanzminister getagt, Samstag morgens das Europäische Parlament und am Samstagnachmittag des 01. Mai kamen die Staats- und Regierungschefs zusammen. Es ging um die Währungsunion. Ich vergesse nie, wie der Führer der Rechtsextremisten aus Frankreich, Le Pen, im Europäischen Parlament, diese Leute schreien dann ja auch immer so, die Europäische Währungsunion bezeichnet hat als eine zweite große Niederlage, 1870, die Preußen haben die Franzosen besiegt. Und er bezeichnete die Europäische Währungsunion als eine weitere Niederlage Frankreichs. Und damit machen diese Leute Politik. Und bei uns haben auch Leute gesagt, das ist jetzt das deutsche Zugeständnis gegenüber den Franzosen. Aber wenn beide Extreme das so sagen, dann kann das ja wohl nicht stimmen. Aber das ist jetzt nur ein Beispiel, ich will da jetzt nicht noch einmal eine Diskussion anregen über die Währungsunion, das ist nicht mein Punkt. Sondern ich will nur sagen, dass man Emotionen immer wieder schüren kann. Und es nie etwas für ewig gültig ist. Wenn einmal Freundschaften da sind. Freundschaften können auch zerbrechen, man muss ständig sich darum mühen. Wenn Sie mir gestatten das zu sagen, in meiner Fraktion, ich bin ja ständig wandelnder Vermittlungsausschuss. Sie müssen ständig zusammenführen, aber Sie müssen auch führen, wenn Sie nur zusammenführen, dann reicht das nicht, also Sie müssen auch führen, aber Sie müssen so führen, dass sie niemanden verletzen. Sie können auch nicht immer „Ja“ sagen. Aber wenn Sie jemandem „Nein“ sagen in der Fraktion, und es kommt jemand zu Ihnen ins Arbeitszimmer, und ich sage immer, jeder kann mit dem Fraktionsvorsitzenden sprechen. Aber Sie können nicht immer „Ja“ sagen. Sie müssen natürlich so „Nein“ sagen, dass der Gesprächspartner das auch akzeptiert und auch akzeptieren kann, man muss es begründen, und man muss es freundschaftlich tun.
Aber ich möchte noch mal, wie Sie Frankreich erwähnt haben, ein Wort zu den Niederlanden sagen. Die Niederlande sind ja ebenso unsere Nachbarn. Und wenn heute Abend hier Niederländer sind, dann ist das doch eine tolle Sache, dass man sich über Europa austauscht. Und ich darf Ihnen sagen, dass auch innerhalb unserer Fraktion die Zusammenarbeit mit den niederländischen Kolleginnen und Kollegen besonders gut ist, und dass sogar eine belgische Kollegin mir vor einigen Tagen sagte: „Ja, für die Niederländer tust du immer alles und für uns, für die Belgier … .“ Aber das stimmt so nicht, der Eindruck war da. Ich finde es ja prima, dass wir hier jetzt über die Grenze auch mit den Niederlanden so enge Kontakte haben. Und hier, das Emsland ist weit weg von Berlin und Overeisel, und Groningen ist weit weg von Den Haag. Also unsere Grenzregion im nationalen Sinne müssen sich zu Binnenregionen entwickeln. Und das wir es jetzt hier und da mit den Niederländern schwer haben, das liegt auch an der Geschichte, die jeder kennt. Aber im Großen und Ganzen geht es doch im Verhältnis: Niederlande / Bundesrepublik Deutschland recht gut.
Wenn ich noch einen Blick abschließend nach Osten werfen darf, so ist mein Eindruck, dass wir zumindest im Westen Deutschlands in der alten Bundesrepublik ein besonderes herzliches Verhältnis entwickeln zu Polen. Wir sagen, zu Polen müssen die Beziehungen so werden wie sie zu Frankreich und den Niederlanden, besonders die zu Frankreich sind schon sind. Dann zeigt das auch die historische Dimension, und ich finde für uns Deutsche ist es ein riesen Geschenk am Ende dieses Jahrhunderts, dass wir erstmalig in unserer Geschichte überhaupt die Chance haben, mit all unseren Nachbarn in Partnerschaft, und vor allen Dingen friedlich und mit den Meisten sogar freundschaftlich, zusammenleben können. Ich finde, mit diesen Erfahrungen ist das am Ende dieses 21. Jahrhunderts ein riesen Geschenk. Aber nehmen wir nichts als garantiert hin. Alles muss wieder jeden Tag und jede Stunde erarbeitet werden. Und man darf nie in der Geschichte etwas für gegeben hinnehmen, sondern man muss immer wieder was dafür tun, damit es so bleibt wie es ist – oder vielleicht noch besser wird.

P. Dr. Wilmer:

Angesichts der Uhrzeit, es ist jetzt zwanzig Minuten vor zehn Uhr, schlage ich vor, dass wir hier einmal einen Schnitt machen in dieser lebendigen Diskussion. Nochmals,. Herr Prof. Dr. Hans-Gert Pöttering, herzlichen Dank für Ihr Kommen, herzlichen Dank für Ihren Vortrag und dafür, dass sie zur Verfügung standen in der Diskussion. Dankeschön!

Ihnen allen einen schönen Abend, kommen Sie gut nach Hause. Auf Wiedersehen!

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Andrea Schwarz im “Handruper Forum”

Der Weg ist das Ziel – Als Pilger nach Santiago de Compostela

Zur Referentin:
Andrea Schwarz
Schriftstellerin

Vortrag im Rahmen des „7. Handruper Forums“ vom 10. März 1999.

(Zu diesem Abend existieren nur mehr Manuskripttexte und Transkriptionen von Bandmitschnitten.)

Begrüßung durch P. Dr. H. Wilmer SCJ, Schulleiter

Sehr geehrte Eltern, liebe Schülerinnen und Schüler, verehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Schwestern, liebe Mitbrüder, meine sehr geehrten Damen und Herren!

Sie alle begrüße ich sehr herzlich hier zum Handruper Forum, heute abend speziell zum 6. Handruper Forum, das unter dem Thema steht: „Die Sehnsucht ist größer“. Von der Pilgerschaft nach Santiago de Compostela.

Wir sind froh und stolz darauf, die Schriftstellerin Frau Andrea Schwarz für dieses Forum gewonnen zu haben. Frau Schwarz, wie einige vielleicht wissen, stammt aus Wiesbaden, wohnt derzeit in Wahlheim, und das liegt zwischen Mainz und Mannheim. Im Internet befinden sich mittlerweile 19 Bücher, die sie veröffentlicht hat, Titel im Herder Verlag, einige sind Ihnen sicherlich bekannt, ich möchte nur mal einige nennen:

•Ich mag Gänseblümchen – Unaufdringliche Gedanken
•Bunter Faden Zärtlichkeit
•Der kleine Drache „Hab‘ mich lieb“, ein Märchen für große Leute
•Und alles lassen, weil er mich nicht lässt, Lebenskultur aus dem Evangelium, dieses Buch hat sie herausgegeben zusammen mit dem Benediktinermönch Anselm Grün, ein anderes Buch lautet:
•Wenn Chaos Ordnung ist, und dann ist im vergangenen Jahr herausgekommen:
•“Die Sehnsucht ist größer“, vom Weg nach Santiago de Compostela

Frau Schwarz ist diesen Weg 1997 zu Fuß gegangen und hat zu Fuß 560 km auf diesem Camino zurückgelegt. Zur Zeit ist ein Buch im Erscheinen begriffen, im Herder – Verlag, es wird Ende März herauskommen, mit dem Titel: Entschieden zur Lebendigkeit.

Wie gesagt, Frau Schwarz stammt aus Süddeutschland, aber sie mag das Emsland, sie hat hier schon
Urlaub gemacht, hat sie mir erzählt, und zwar in Großstavern, schwärmt davon, war drei Wochen dort. Persönlich kenne ich Frau Schwarz schon lange, nämlich seit Frühjahr 1987, kurz vor meiner Priesterweihe hat sie uns Seminaristen im Erzbistum Freiburg Tage gehalten zur Jugendarbeit. Sie war damals die Leiterin des Bundes der Katholischen Jugend im Bistum Freiburg und kam zusammen mit dem Pfarrer Irslinger ins Seminar mit dem Ziel, uns Kniffe, Techniken und Methoden an die Hand zu geben für die freie Jugendarbeit. Seither kennen wir uns sehr gut und sind gut befreundet, um so mehr freue ich mich, heute abend Frau Schwarz ganz herzlich hier begrüßen zu dürfen. „Frau Schwarz, herzlich willkommen, hier im Gymnasium Leoninum.“

Ich freue mich auf den Vortrag, auf die Erfahrungen, und Ihnen allen wünsche ich einen angenehmen und bereichernden Abend!

Dankeschön!

Vortrag Andrea Schwarz

Ja, schönen guten Abend auch meinerseits. Ich weiß zwar nicht, warum ein solches Schmunzeln durch den Raum ging, wenn man sagt, man macht drei Wochen Urlaub in Großstavern? Es ist ausgesprochen schön dort, und im Umkreis von 50-80 km kann man ganz schöne Sachen entdecken. Also, ich erinnere mich sehr sehr gern an den Urlaub zurück, und seit der Zeit bin ich dem Emsland verbunden, hab‘ sogar meinen 40. Geburtstag in Haselünne gefeiert. Ja, also soweit erst einmal meine Liebeserklärung zum Emsland.


Andrea Schwarz

Ich sag‘ nun mal ein bisschen was zu mir: Andrea Schwarz, ich bin 43 Jahre alt. Ich sag’s wegen der Haarfarbe dazu, die irritiert gelegentlich etwas. – Mir ist es bei einem Vortrag vor einiger Zeit passiert, dass ein Mann anschließend auf mich zukam und gesagt hat, es wäre ja sicherlich alles ganz interessant gewesen, was ich gesagt hätte, aber er hätte den ganzen Abend darüber nachdenken müssen, wie alt ich eigentlich sei, dass er gar nicht hätte zuhören können. Und seit der Zeit habe ich mir angewöhnt, das gleich vorneweg zu sagen, weil dann braucht man da nimmer drüber nachdenken. Ich bin in Wiesbaden geboren und aufgewachsen, Industriekaufmann gelernt, – zu meiner Zeit wirklich noch Kaufmann, die Zeiten sind noch gar nicht so lange her. Bin in der Zeit in die katholische Jugendarbeit reingeraten, damals in die KJG (Katholische Junge Gemeinde), war 4 Jahre lang ehrenamtliche Diözesanleiterin der KJG in der Diözese Limburg, hab‘ in der Zeit gemerkt, dass das mit der Industrie doch nicht so das Wahre für mich ist, habe gewechselt und Sozialpädagogik studiert in Frankfurt, bin dann ins Badische gegangen als Dekanatsjugendreferentin, BDJK-Diözesanleiterin, hab‘ da P. Wilmer unter anderem auch kennengelernt und bin seit 1988 freiberuflich tätig, mit so drei Standbeinen. Das eine ist die Aus- und Weiterbildung haupt- und ehrenamtlicher kirchlicher Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, da komm‘ ich gerade her, hab‘ gerade eineinhalb Tage die Tagung der Krankenhausseelsorger und -seelsorgerinnen der Diözesen Osnabrück und Hamburg im LWH in Lingen geleitet und fahr‘ morgen nach Georgsmarienhütte ins Haus Ohrbeck, ein offenes Tagesseminar. Das zweite Standbein ist die Beratungstätigkeit in Supervision und als Organisationsberaterin. Das dritte Standbein ist die Schriftstellerei. In Arbeit ist derzeit ein Buch, auf das ich mich selbst sehr freue, denn das schreib‘ ich mit meinem Pfarrer zusammen, mit dem schönen Titel: „Mit Handy, Jeans und Stundenbuch“. Bei dem Titel haben wir gedacht, es muss für jeden ein Begriff dabei sein, mit dem er nicht ganz soviel anfangen kann. Das funktioniert auch ganz gut. – Kürzlich habe ich mit Pastoralreferenten gearbeitet und dann sagt eine: „Wie war der Titel? Mit Handy, Jeans und was?“ Auch gedacht, na ja, gut! Seit Herbst ’97 studiere ich Theologie, in Frankfurt, St. Georgen, letztes Jahr habe ich gerade 8 Wochen Crashkurs Latein hinter mich gebracht, es scheint irgendwie immer um alternative Urlaubsgestaltung im Moment zu gehen, und das aller aller Neueste, worüber ich mich sehr freue, ich hab‘ mit einem Freund, der Priester ist, zusammen am 01. 02. mit einer halben Stelle in zwei Pfarrgemeinden in Viernheim angefangen. Viernheim ist der äußerste Südzipfel der Diözese Mainz und liegt östlich von Mannheim, und mir tut es sehr gut, nach diesen Jahren des Unterwegsseins von Osnabrück bis St. Gallen, mich jetzt in zwei Gemeinden, viertgrößte Seelsorgeeinheit der Diözese Mainz, als pastorale Mitarbeiterin, zu verorten, um dort Heimat zu bekommen. Ja, soweit mal zu mir.

Zum heutigen Abend: der wird in zwei Teilen ablaufen. Ich möchte gern im ersten Teil zehn Sprachbilder aufzeigen von meinem Weg nach Santiago de Compostela, zehn Sprachbilder, zehn Erfahrungsbilder, die übertragbar sind in Ihren ganz persönlichen Alltag. Was ich nicht möchte, ist ein langweiliger Vortrag, im Sinne von: am dritten Tag hab‘ ich da übernachtet, und am fünften Tag waren es da 28 km. Das vergisst man sowieso, das interessiert auch keinen Menschen. Aber was für Erfahrungen macht man denn auf einem solchen Weg?

Und im zweiten Teil möchte ich ein paar ausgewählte Dias zeigen, um einfach auch einen Eindruck zu vermitteln, wie ist es denn da, wenn man unterwegs ist.

So, vielleicht noch ein bisschen was vorne weg zum Thema „Pilgern“. Pilgern ist ein Wort, was ein bisschen als Wort aus der Mode gekommen ist. Aber ich glaube, dass das eigentlich nur das Wort ist, was nicht mehr so oft benutzt wird. Die Menschen pilgern wie eh und je, nur die Pilgerziele haben sich verändert. Menschen brechen auf, machen sich auf die Suche nach dem Sinn ihres Lebens oder nach dem, was sie meinen, was Sinn ihres Lebens sein könnte. Für die einen mag es die Urlaubswochen im Süden sein, in die nach sinnentleerten Arbeitswochen alles mögliche hineinprojeziert wird, für andere ist es Beziehung oder Ehe. Für andere mag es die Fahrt nach Hamburg zum Musical sein, die auch eine Art moderner Pilgerfahrt darstellt oder der Urlaub an der Türkischen Küste. Immer wieder aber hat Pilgern etwas mit Unterwegssein zu tun, mit aufbrechen, sich auf den Weg machen. Aus meiner Sicht hat ein solches sich auf den Weg machen auch immer etwas mit Gott zu tun, mit der Sehnsucht nach einem Sinn, der unsere Wirklichkeit übersteigt, auch wenn es immer wieder manche geben mag, die das für sich so nicht akzeptieren und nicht annehmen wollen. Diese Sehnsucht hat dazu geführt, dass immer wieder Pilgerwege entstanden sind. Pilgerwege, die von vielen Menschen gegangen wurden, weil die Erfahrung gezeigt hat, dass man auf diesem Weg etwas erleben kann, dass man auf diesem Weg Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens bekommen kann. Da gab es einen Ort, ein Ziel, einen Namen, dem ein besonderer Ruf vorauseilte, der die Hoffnung weckte, der der Sehnsucht Raum gab. Und Menschen sind über Jahrhunderte hinweg diesem Ruf gefolgt, haben der Sehnsucht getraut und sind aufgebrochen. Ein Weg wird dann zum Weg, wenn die Menschen ihn gehen, ein unbegangener Weg verwuchert und gerät in Vergessenheit. Es gibt Wege, die Jahrhunderte und Jahrtausende alt sind, und wenn sie sich nicht irgendwie bewährt hätten, wären sie in Vergessenheit geraten, und dann gäbe es sie nicht mehr. Es gibt Orte und Wege, die alle Zeitströmungen überdauern und gerade dadurch zeigen, dass es eben nicht egal ist, wohin man geht und wo man sich aufhält.

Es gibt Wege, die eine Kraft in sich bergen, die sich unserem verstandesmäßigen Denken entzieht. Und so mag es auch nicht von ungefähr kommen, dass sich an solchen Wegen, an solchen Orten der Kraft immer auch wieder christliche Kirchen und Klöster angesiedelt haben, wo schon vorchristliche Kulturen solche Kräfte erspürt und verehrt haben.

Der Weg nach Santiago de Compostela ist solch ein Weg. Und es gibt Forscher, die sagen, dass der heutige Camino, wie er liebevoll in Spanien genannt wird, eigentlich ein vorchristlicher Initiationsweg ist, der bereits vor dem Christentum von Menschen gegangen wurde, und der später dann vom Christentum übernommen wurde.

Santiago der Compostela, im Nordwesten Spaniens gelegen, einer der drei berühmtesten Wallfahrts-orte des Mittelalters neben Jerusalem und Rom. Dort soll das legendäre Grab des Apostels Jakobus sein, und ich glaube, dass die Attraktivität dieses Ortes mit daher rührte, dass, wenn man zu Santiago noch 70 km dazu gelegt hat, und das war keine große Strecke mehr, wenn man möglicherweise schon von Aachen unterwegs war, dann war man am Finesterre, dort, wo man damals meinte, dass die Welt aufhört. In den letzten Jahren hat gerade der Weg nach Santiago de Compostela einen neuen Aufschwung bekommen. In diesem Jahr geht z.B. die Landvolkbewegung der Erzdiözese Freiburg mit 400 Leuten nach Santiago, macht ein großes Verbandsereignis aus diesem Weg. Und dieser Weg startet eigentlich von der eigenen Haustür. Im Mittelalter ging man von Zuhause los. Und je näher man dann sich Santiago näherte, um so mehr verdichteten sich die Wege, einfach weil es keine Alternativen mehr gab. Es schälten sich vier große Pilgerwege heraus, die über Vézelay, über Einsiedeln gingen, das Rheintal hinunter gingen, und vor den Pyrenäen verbinden sich drei dieser Wege. In Puente la Reina kommt der vierte Hauptpilgerweg dann dazu.

Ab Puente la Reina wird der Weg dann nur noch „El Camino“ genannt – liebevoll: „Der Weg“. Und wenn man in Spanien von „El Camino“ spricht, weiß jeder genau, was gemeint ist. Im Mittelalter ging man diesen Weg auch wieder zurück. Wenn man dort angekommen war, lag der Heimweg wieder vor einem, der geht heute in der Regel etwas rascher über Flugzeug, oder Eisenbahn, oder Bus. Ich denke, es war eine interessante Erfahrung, nach dem Ankommen am Ziel dann noch den Heimweg wieder unter die Füße zu nehmen. Ab St.-Jean Pied- de- Port, dem letzten Ort in Frankreich, sind es bis Santiago noch 760 km. Man kann diesen Weg zu Fuß gehen, mit dem Fahrrad machen, manche machen ihn mit dem Pferd, es gibt Alternativen mit dem Bus und zu Fuß, manche fliegen auch einfach hin. Aber jeder dieser Wege macht auch etwas mit den Menschen, die dort hingehen, dort hinfahren, dort hinlaufen.

Ich bin 1997 Ende Mai losgegangen, sechs Wochen, davon vier Wochen alleine, ab Leon kam eine Freundin dazu. 560 km unter die Füße, unter die Wanderschuhe genommen, einige statistische Zahlen: Ich hab‘ in der Zeit 10 kg abgenommen, 5 Tuben Mobilat verbraucht und sechs Tuben Fußcreme. Seit den Wochen schwöre ich auf Fußcreme. Ich habe immer gedacht, das wäre was für ältliche Damen. Aber ich kann sagen, ich bin ohne Blase die 560 km durchgekommen – ein Tip der Fußpflegerin, die ich vorher noch mal aufgesucht hab‘. Und alle, die jemals auf die Idee kommen sollten, diesen Weg zu Fuß unter die Füße zu nehmen, ich kann nur den ganz heißen Tip geben, Fußcreme ist eine der notwendigsten Sachen, die man wirklich mit auf diesen Weg nehmen sollte.

Es waren sicherlich sechs sehr intensive Wochen meines Lebens, wenn nicht sogar die intensivsten. Ich merke, dass ich heute fast zwei Jahre später noch immer an den Erfahrungen dran bin, die dieser Weg mir geschenkt hat und was dieser Weg auch mit mir gemacht hat. Erfahrungen des Weges: träumen, loslassen, aufbrechen, unterwegs sein, ankommen. Und es sind Wegerfahrungen, die durchaus auf das wirkliche Leben übertragbar sind. An diesen Wegerfahrungen möchte ich Sie heute abend ein wenig teilhaben lassen. Vielleicht kann noch ein Satz von Nietzsche, dem großen deutschen Philosophen zu Beginn stehen. Die Empfehlung von Nietzsche heißt:

So wenig als möglich sitzen, keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, indem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern.

Und religiös beendet er seine Überlegung und sagt: „Das Sitzfleisch ist die eigentliche Sünde wider den Hl. Geist.“. Ich glaube, dass Christsein immer die Einladung zum Aufbrechen, zum Unterwegs sein ist. Noch eine kleine Geschichte vorneweg, aber dann steige ich wirklich ein.

Richard Rohr, ein amerikanischer Franziskaner, sagt so schön: „Wenn man lange genug bei Gott ‚rumhängt‘, färbt der Typ auch irgendwie ab.“ Das ist eine Erfahrung, die ich gut nachvollziehen kann.
Meine Eltern sind jetzt über 50 Jahre verheiratet. Als ich so klein war hat der Vater den Kaffee schwarz und mit Zucker getrunken und die Mutter ohne Zucker, aber mit Milch. Inzwischen nehmen beide ein bisschen Milch und ein bisschen Zucker. Ich bin drei Tage in Österreich und brauche ein Vierteljahr, um mir das „Auf Wiederschauen“ wieder abzugewöhnen. Oder, kürzlich bei einem Kurs kam abends ein junger Mann kichernd vom Telefon zurück und ich sage: „Hei, was ist denn mit dir los?“ Sagt er: „Ich hab‘ grad‘ telefoniert, mit ’nem Freund, hab‘ ihm von diesem Kurs erzählt und zwischendrin unterbricht der mich und sagt: ‚Machst du grad‘ ’nen Kurs bei der Andrea Schwarz?‘ Ich sagte warum, wie kommst du denn da drauf? ‚Ja‘, sagte er, ‚weil du dauernd das Wort ‚Lust‘ gebrauchst.“ Wie doch die Sprache abfärben kann. Oder das verblüffendste Beispiel von Abfärben finde ich immer die oft erstaunliche Ähnlichkeit zwischen Hund und Hundebesitzer. Und, wenn das überhaupt nicht übereinstimmt, lohnt es sich, die Frage zu stellen, ob es möglicherweise ein Gast- oder ein Leihhund ist. Aber in der Regel ist es wirklich oft sehr erstaunlich. Und wenn man lange genug bei Gott rumhängt, dann färbt der Typ auch irgendwie ab. Wenn man bei einem Typ rumhängt, der von sich sagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“, dann ist das die Einladung zum Unterwegssein, wenn derjenige abfärbt, der „Weg“ ist, wenn derjenige abfärbt, der „Wahrheit“ ist, dann ist das die Einladung zur Authentizität, zum „Echtsein“. Und wenn derjenige abfärbt, der „Leben“ ist, dann ist das die Garantie für die Lebendigkeit. Und das, glaube ich, will eigentlich unser Glaube und das Christentum: Einladung zur Lebendigkeit sein.

1. Szene:

Ein bisschen ratlos sitze ich in meinem Wohnzimmer. Um mich herum T-Shirts, das kleine Stundenbuch, Socken, Fotoapparat, Tagebuch, Wanderführer, Sonnencremetuben, Metrofahrkarten und vieles andere mehr. Grad‘ hab‘ ich den Rucksack wieder ausgepackt. 15 kg, das ist eindeutig zuviel. Damit komme ich nie zu Fuß nach Santiago. Und dabei hatte ich doch schon bei der Erstellung der Packliste versucht, mich auf das Allernotwendigste zu beschränken. Aber es hilft alles nichts. Ich muss diesen kunterbunten Stapel noch mal gewichtsmäßig um ein Drittel reduzieren.

Nun werde ich in drei Tagen den Pilgerweg nach Santiago beginnen. Über die Pyrenäen, durch die Meseta, die Hochfläche zwischen Burgos und León. Und das geht nicht, mit 15 kg Gepäck auf dem Rücken. Grübelnd schaue ich mir das Durcheinander im Wohnzimmer an. Was brauch‘ ich für 6 Wochen Wanderung? Für mich ist das eine ganz neue Erfahrung. Ich bin zwar oft viel unterwegs, aber mit dem Auto. Da kommt es auf ein Paar Schuhe mehr oder weniger nicht an. Jetzt zählt jedes Gramm. Ganz interessant, ich habe wirklich mit der Küchenwaage dagesessen und hab‘ rausgekriegt, dass T-Shirts tatsächlich ganz unterschiedlich viel wiegen. Also es gibt 300 gr. T-Shirts, es gibt 400 gr. T-Shirts. Und wenn man nur 10 kg mitnehmen darf, dann lohnt es sich tatsächlich, diese Unterschiede nochmals ‚rauszukriegen. Oder das kleine Stundenbuch entspricht 2 T-Shirts. Ganz interessante Konstellationen, die sich damit so auftun. Jetzt zählt tatsächlich jedes Gramm. Soll ich die Elastikbinde nicht doch noch daheim lassen? Was mache ich mit den Plastikdosen? Brauch‘ ich die eigentlich wirklich? Plötzlich geht mir ein Licht auf. Bei der Erstellung der Packliste habe ich mich von der Frage leiten lassen, was könnte ich möglicherweise brauchen? Ich hab‘ mir alle möglichen Situationen vorgestellt, in die ich unterwegs kommen könnte und wollte mich für alle Fälle absichern. Und so tauchte plötzlich die Salbe gegen Zerrungen auf der Liste auf, und das Blasenpflaster, und das vierte T-Shirt, und der Notizblock, und, und, und… . Die richtige Frage aber müßte eigentlich heißen: Was brauch‘ ich jetzt wirklich? Und will ich wirklich ernsthaft eine Elastikbinde sechs Wochen quer durch Nordspanien mittragen, und sie im Endeffekt gar nicht brauchen?

Mit dieser neuen Frage lässt der Stapel sich plötzlich noch mal ganz neu sortieren. Und als die Waage dann 11 kg anzeigt bin ich zwar noch nicht ganz zufrieden, aber kann mir zumindest mal vorstellen, mich damit auf den Weg zu machen. Kleiner Hinweis, man kann in Nordspanien übrigens alles kaufen, es ein durchaus sehr kultiviertes Land. Sie brauchen nicht daran denken, alles mögliche mitzunehmen, es gibt Apotheken, alles vorhanden, also von daher gehen Sie ruhig, falls Sie eines Tages mal losgehen, mit wenig Gepäck los. Was notwendig ist und was sich unterwegs als notwendig erweist, kriegt man dort. Aber ich bin ein bisschen nachdenklich geworden. Könnte es sein, dass ich auch in meinem Alltagsleben manchmal zuviel Gepäck mitschleppe? Weil ich meine, mich für alle Eventualitäten absichern zu müssen? Könnte es sein, dass die Frage, was könnte ich möglicherweise brauchen, dazu führt, dass sich Dinge um mich herum so anhäufen, dass deren Gewicht mich fast erdrückt? Könnte es sein, dass das, was mich absichern will, mich zugleich in meiner Bewegungsfreiheit einschränkt? Dass ich vor lauter Nachdenken über den möglichen Fall des Falles gar nicht mehr zum Loslaufen komme? Die Frage, was brauche ich jetzt wirklich, statt, was könnte ich evtl. brauchen, könnte mir vielleicht auch in meinem Leben helfen, die Dinge neu zu sortieren und Schwerpunkte zu setzen.

Der Weg hat mir seine erste Lektion schon erteilt, noch bevor ich los gelaufen bin.

2. Szene:

Mitternacht in St.-Jean-Pied-de-Port. Die Kirchturmuhr schlägt. Ich hab‘ mir den Pullover übergezogen und sitze mit meinem Pilgertagebuch auf der Steinbank vor dem Refugio, der kleinen Herberge in St. Jean. Aus dem Schlafsaal kommt ein herzhaftes Schnarchen. An Schlaf ist überhaupt nicht zu denken. Zum Glück ist direkt neben der Bank eine Straßenlaterne, so dass ich genug Licht zum Schreiben habe. Es war ein sehr spannender Abend für mich, dadurch, dass ich in der Regel bei Seminaren in der Leitung bin, habe ich in den letzten Jahren immer nur Einzelzimmer gehabt, und ich hab‘ gar nicht mehr gewußt, wie laut es sein kann, mit anderen Menschen zusammen in einem Zimmer zu schlafen. Und an dem Abend habe ich wirklich ein faszinierendes Schnarchduett erlebt, wir waren zwar nur zu fünft, aber zwei davon waren überzeugte Schnarcher, die sich erstens abgewechselt haben und dann wirklich mal eine viertel Stunde im Duett geschnarcht haben, der eine von unten links schnarchend gerufen: „Ur!“ Von oben rechts kam dann immer die entsprechende Antwort: „Ar!“

Das waren ganz nette Menschen, ich konnte ihnen nicht bös‘ sein, aber an schlafen war wirklich nicht zu denken. An dem Abend habe ich die These aufgestellt, dass wahrscheinlich der Ohropax-Verbrauch entlang des Caminos erheblich höher ist als sonst im Durchschnitt Spaniens. Aber es sind nette Menschen, die auf dem Weg sind, aber wie gesagt, manchmal ein bisschen laut nachts.

Ja, jetzt bin ich also auf dem Weg nach Santiago. Fast kann ich es selbst noch nicht glauben. Ich weiß gar nicht, wodurch sich dieser Traum eines Tages in mein Herz eingenistet hat. Aber, kann man das von Träumen so genau sagen? Santiago wurde zur Chiffre für: Irgendwann mache ich das mal.

Vor zwei Jahren aber wurde aus dem Traum plötzlich ein konkretes Vorhaben. Ich war 40 Jahre alt geworden, wie gesagt in Haselünne, hatte mich entschieden, noch einmal zu studieren, eine neue Lebensphase zeichnete sich ab. Ein Übergang war angesagt. Und plötzlich war mir klar, wenn der Weg nach Santiago überhaupt in meinem Leben einen Sinn, einen Ort hat, dann zu diesem Zeitpunkt.

Ich hab‘ im Kalender seitdem sieben Wochen freigehalten, erfolgreich gegen alle Terminanfragen verteidigt, las mich in die entsprechende Literatur ein, erkundigte mich bei anderen, die den Weg schon gegangen waren, kaufte Schlafsack und Rucksack und lief im Schwarzwald schon mal probe. Auch Träume wollen vorbereitet und organisiert sein. Aber trotz aller Vorbereitungen, es war irgendwie immer noch unwirklich. Und jetzt sitz ich also hier in St-Jean vor dem Refugio und komme zum ersten Mal nach der Zeit des Packens und des Vorbereitens ein bisschen zur Besinnung. Ja, ich bin hier, und morgen geht es in die Pyrenäen. Ich bin auf dem Weg. Fast kann ich es selbst noch nicht glauben. Und ganz ehrlich gesagt, ich hab‘ auch ein bisschen Angst. Manchmal kann man schon ein wenig erschrecken, wenn Träume plötzlich wahr werden., Wünsche sich erfüllen. Plötzlich wird es konkret, und vielleicht wird es ganz anders als ich es mir erträumt habe? Vielleicht bleibt die Wirklichkeit hinter meinem Traum zurück, und ich bin nur enttäuscht. Und selbst, wenn sich alles so erfüllt, wie ich es mir erträumt habe, werde ich anschließend doch einen Traum weniger haben. Manchmal ist es gar nicht so einfach, wenn Träume wahr werden. Und mir fällt in diesem Moment der Satz eines Freundes ein. „Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünscht und warum du betest. Es könnte in Erfüllung gehen.“ Man sollte auch vorsichtig sein, um Leben in Fülle zu leben. Man könnte es kriegen, anschließend. Das ist was wirklich Großes, was ich mir vorgenommen habe, und ich zweifle ein wenig an mir selbst. Siebenhundertachtzig Kilometer zu Fuß, wie soll das denn gehen?

Das schaff‘ ich doch nie! Aber da kommt mir plötzlich Beppo, der Straßenkehrer aus der schönen Geschichte von Michael Ende, „Momo“, in den Sinn. Er hat eine unübersehbar lange Straße vor sich, die er fegen soll und fast lähmt ihn das. Wenn ich mir die siebenhundertachtzig Kilometer vor Augen halte, dann trau‘ ich mich gar nicht erst loszugehen, so groß ist das Projekt. Beppo schaut aber immer nur auf das Nächste, was zu tun ist. Also: Schritt, Atemzug, Besenstrich. Das aber beharrlich. Das hieße für mich, meine Schritte zwar auf Santiago ausrichten, aber für morgen nur Roncesvalles, den Zielort meiner ersten Etappe, in den Blick nehmen. Mich tröstet dieser Gedanke ein wenig, und er macht mir auch Mut, mich von der Größe einer Aufgabe oder Herausforderung nicht lähmen zu lassen, sondern das Ziel vor Augen, beharrlich Schritt für Schritt gehen. Ich glaube auch, ohne diese Caminoerfahrung würde ich jetzt auch nicht mit dieser Beharrlichkeit Theologie studieren. Das Ende ist nicht absehbar. Aber Schritt für Schritt, Schein für Schein, wenn man beharrlich genug ist, wird man eines Tages vielleicht auch das Diplom haben.

Ich spitze die Ohren Richtung Refugio. Tatsächlich, es ist ruhig geworden. Das ist die Chance, wohlig müde kuschele ich mich in meinen Schlafsack, und kurz vor dem Einschlafen denke ich nochmal, ich bin auf dem Weg. Schritt, Atemzug, Besenstrich, und ich freu‘ mich d’rauf.

3. Szene:

Der Finger des Arztes zeigt ziemlich unbarmherzig auf die Zeile in dem viersprachigen Patientenführer: „Diesen Verband dürfen Sie nicht abnehmen!“ Bei diesem Verband handelt es sich um eine dicke Elastikbinde um mein Knie, die das Gehen schlichtweg unmöglich macht. An ein Weitergehen ist überhaupt nicht zu denken. Den Traum Santiago de Compostela kann ich mir erst mal abschminken. Es hilft nichts. Draußen vor dem Gesundheitszentrum steigen mir doch die Tränen hoch. Da hatte ich so lange geplant und mich vorbereitet und jetzt das. Der Abstieg von den Pyrenäen hatte wohl die Bänder in einem Kniegelenk überanstrengt. Auf ebener Strecke ging es ja noch mit dem Gehen, aber jeder Auf- und Abstieg tat höllisch weh. So war mir also nichts anderes übrig geblieben, als in Pamplona den Arzt aufzusuchen, und der hatte mir jetzt also die Rote Karte gezeigt. Aus der Traum. In der Beziehung hatten es die Pilger im Mittelalter einfacher. Die konnten einfach eine Woche lang irgendwo bleiben und ihre Verletzung auskurieren. Wenn ich eine Woche nicht gehen darf, dann ist klar, ich kann nicht die gesamte Strecke nach Santiago zu Fuß machen. Die Zeit sitzt mir im Nacken, die Verpflichtungen zu Hause. Mit meinem lädierten Knie ziehe ich nach Puente la Reina um. Pamplona ist mir zu laut, und in Puente habe ich jetzt viel Zeit zum Nachdenken.

Ich hadere ein bisschen mit meinem Schicksal, aber es hilft ja alles nichts. So ist es nun einmal. Ein erster Gedanke, der mir in diesen Tagen kommt: Der Körper holt sich das, was er braucht. Ich bin aus dem absoluten Stress aufgebrochen, habe sogar vorher schon zwei Kilogramm abgenommen. Der Körper braucht Ruhe, die Seele will nachkommen, und beides ist in diesen erzwungenen Tagen der Ruhe möglich. Ich schlafe und schreibe viel, und ich spüre, dass ich mich auf einmal ganz neu öffnen kann für das, was dieser Weg mir sein will. Ob das so möglich gewesen wäre, wenn ich einfach hätte durchlaufen können? In diesen Tagen wird mir aber noch einmal etwas ganz anderes wichtig. In meiner Tätigkeit habe ich es oft mit Menschen zu tun, die verletzt oder verwundet sind. Wie aber kann ich mich mit ihnen auf einen Weg hin zur Heilung machen, wenn ich selbst nicht weiß, was Gebrochenheit heißt, was Verletzung bedeuten kann. Ich erlebe im wahrsten Sinne des Wortes hautnah, was es heißt, gelähmt zu sein, nicht gehen zu können, in der Bewegung und im Wollen eingeschränkt zu sein. Helfer, die nicht um ihre eigenen Verwundungen wissen, können nicht heilen. Sie können von oben herab Ratschläge erteilen, aber das hilft nicht. Verwundete brauchen Menschen, die mit ihnen gehen, die an ihren eigenen Verwundungen leiden, die wissen, wie sich das anfühlt, wenn es weh tut.

Ich glaube, dass diese Woche mit der Verletzung die Woche war, die mich ganz neu aufgeschlossen hat für die Erfahrungen, die mir der Weg schenken wollte. Und es kann gut sein, dass ich in dieser Woche lernen sollte, dass es zwar ein Ziel gibt, aber man durchaus unterschiedliche Wege dorthin gehen kann. Die Umstände verschwören sich gegen mich, und es klappt nicht, ich komme an eigene Grenzen. Es könnte wichtig sein, dann auch im Alltag das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, aber gegebenenfalls einen anderen Weg zu gehen. Unterwegs bleiben, auf das Ziel hin ausgerichtet – die Frage nach dem konkreten Weg ist dann erst die zweite Frage. Es war eine wichtige Woche für mich, eine Woche in der ich mich mit dem Überlandbus Burgos annähere. Und ich glaube, dass ohne diese Woche, ohne diese Verletzung der Weg anders gelaufen wäre.

4. Szene:

In Burgos mache ich mich langsam und behutsam wieder zu Fuß auf den Weg. Und es tut mir gut. Ich bin anders auf dem Weg. Nichts ist mehr selbstverständlich. Ich bin dankbar für das, was möglich wird. Und nach den Tagen des Alleinseins und des Auf-mich-Gewiesenseins, weil man dann auch aus der Pilgergemeinschaft irgendwie ‚rausfällt, freue ich mich neu an den Weggefährten, an den Mitpilgern und Mitpilgerinnnen, die unterwegs sind. Es gibt nette Kombinationen, nette Weggeschichten. Man unterhält sich fünf Minuten lang mit einem anderen auf englisch, um dann festzustellen, dass wir beide aus Deutschland kommen. Der Camino insgesamt ist viersprachig: Deutsch, Englisch, Spanisch, Französisch. Ein wildes „Gedolmetsche“, ich hab‘ in den Wochen meine Sprachenkenntnisse wieder aufgefrischt und ausgesprochen viel gelernt, was die Flexibilität bei den Sprachen angeht.

Ich hab‘ unterwegs Menschen aus siebzehn Nationen getroffen, von Brasilien bis Finnland, und zu meiner eigenen Überraschung, viel Ältere. Zu der Jahreszeit, wo ich unterwegs war, vor allen im Juni, sind wenig Jüngere unterwegs, sondern viele Anfang sechzig Jahre, die die Zeit der Pensionierung nutzen und sagen, jetzt habe ich endlich Zeit und Raum, diesen Weg zu gehen. Ich gehörte eher zum jüngeren Durchschnitt, der unterwegs war. Die Beziehung zwischen den Menschen auf dem Weg gestalten sich interessant, es gibt den Caminotelegraph, wie man so schön auf dem Camino sagt, man weiß, wer vor einem ist, wer schneller geht und gibt denen, die schneller laufen, Grüße an diejenigen mit. Denjenigen, die hinter einem sind, weil sie durch eine Verletzung pausieren mußten, hinterlässt man Grüße in Gästebüchern, man erzählt sich in den Refugios abends die Geschichten: „Hast du auch die verrückte französische Malerin gesehen, die mit Staffelei und 20 Kilogramm Gepäck die Pyrenäen überquert hat?“ Oder: „Habt ihr schon den französischen Pilger mit dem Hund getroffen, der unterwegs ist?“ Und eine der schönsten Geschichten gab’s von Maria und Piet. Maria, eine Amerikanerin, die sich ein Vierteljahr Sabbatzeit genommen hat, Piet ein Holländer, der in Holland losgelaufen ist. Unterwegs trafen sich die beiden, fanden irgendwie Gefallen aneinander, sind drei Tage miteinander gegangen. Dann fiel ihnen irgendwann wieder ein, dass sie ja eigentlich alleine gehen wollten. So trennten sie sich. Maria blieb ein Tag an dem Ort, Piet ging die nächste normale Tagesetappe. Am Abend haben sie dann gemerkt, eigentlich stimmt das jetzt auch nicht, ganz unabhängig voneinander. Daraufhin blieb Piet an dem Ort und pausierte, und Maria machte die doppelte Tagesetappe, um Piet wieder einzuholen. Und damit trafen sich die beiden wieder und sind den Rest des Weges zusammen nach Santiago gelaufen. Piet ist übrigens von Santiago auch wieder nach Holland zurückgelaufen. Er war ein und ein halbes Jahr unterwegs.

Die Solidarität der Gefährten auf dem Weg ist wichtig. Ich bin nicht allein, da sind andere, die mit mir gehen. Andere, die ich aber auch wieder ihren Weg gehen lassen muss. Unterwegs ist man, selbst wenn man in einer Gruppe ist, auch immer für sich.

Ich kann andere Menschen nicht festhalten. Am Abend kann es ein sehr schönes Fest sein mit der Gruppe, die sich im Refugio trifft, am nächsten Morgen verabschiedet man sich und weiß nicht, ob man sich am nächsten Abend im nächsten Refugio wiedertreffen wird. Kann sein, dass es einen rauskickt aus dem Weg, kann sein, dass die anderen ein Refugio weitergehen. Und ich glaube, dass dies auch eine ganze Menge mit Christsein im Alltag zu tun hat. Auch dort brauche ich die Gefährten, brauche ich die Gemeinschaft, mit denen ich unterwegs bin, die mich stärken in meinem Unterwegssein, die mir aber auch das ganz eigene Gehen nicht abnehmen können. Es sind Menschen, von denen ich manchmal weiß, die ich aber nicht unbedingt tagtäglich wiedertreffe. Aber das Wissen um solche Menschen tut mir gut. Weggefährten im Glauben.

5. Szene:

Carrion de los Condes. Ein bisschen skeptisch habe ich schon wohl geschaut, als ich am Morgen die deutsche Übersetzung nachlas, des Tagesevangeliumes. „Nehmt nichts mit auf dem Weg, keine Vorratstasche, kein zweites Hemd, kein Wanderstab. Steckt kein Gold und keine Kupfermünzen in eure Gürtel.“ Das Evangelium von der Aussendung der Jünger. Und prompt an dem Tag war mein Rucksack sicher vierzehn Kilogramm schwer. Vor mir liegen 18 Kilometer Einsamkeit. Eine Strecke durch die Meseta ohne Haus, ohne Dorf, ohne Baum. Und je nach Wetter braucht man für solche Strecken dann schon zwei Liter Wasser. Dazu den Proviant für tagsüber und abends. Das macht den Rucksack schwer. Und dann ein solches Evangelium.

Die Strecke durch die Meseta war eine sehr schöne Strecke, für mich eigentlich eine der schönsten Wegetappen. Da bin ich ein bisschen dem Bild von Siegfried Köder aufgesessen, was vielleicht manche von Ihnen kennen, die Meseta als eine braune Ebene. Das mag sein, wenn man im August oder September durch die Meseta geht. Im Mai und im Juni läuft man durch endlos weite wogende Getreidefelder, mit rotem Klatschmohn zwischendrin, man verliert sich in Wind und Weite und Unendlichkeit und Wolken. Mai, Juni ist eine wunderschöne Jahreszeit, um den Camino zu gehen, weil um die Zeit alles grün ist und im September eher schon ins bräunliche Abgeerntete hinübergeht.

Ich hab‘ mich an dem Tag in Wind und Weite verloren, bin alleine auf alten Römerstraßen unterwegs, gehe durch diese endlos grünen Getreidefelder, in denen der Wind spielt, selten ein Haus, ein Baum schon über Kilometer hinweg zu sehen, nur Wind, Weite und Wolken. Und ich lass mich hineinziehen in diese Weite, es geht mich und es weitet mich. Ich ahne darum, das ein solches Gehen, eine solche Weite auch süchtig machen kann. Es ist eine Weite, wie ich sie auch hier oben im Norden erlebe und entdecke, und wo ich merke: ja, wenn man in einer solchen Weite lebt, kann man eigentlich nicht „eng“ sein. Im Schwarzwald sagt man: je enger das Tal, desto enger der Kopf. Weil einfach die Perspektive sehr begrenzt ist. Und ich merke, dass mir eine solche Weite, wie hier, einfach gut tut. Sie macht mich wiederum weit. Ich genieße das Alleinsein auf dieser Strecke, jedes Gespräch würde nur ablenken vom Sein, vom sich Verbundenfühlen mit Wind, Wolken und dem Weg. Der Kirchturm der kleinen Friedhofskirche von Calzadilla sehe ich schon lange am Horizont, schließlich bin ich auf der kleinen Anhöhe, von der aus der Weg zweihundert Meter hinunter ins Dorf führt. Ich nehme den Rucksack und setze mich ‚drauf, bin müde, dreckig, verschwitzt, sehne mich nach einer Dusche und bleib‘ doch auf dieser Anhöhe, das heutige Ziel greifbar vor Augen. Ich bleibe so eine halbe Stunde sitzen. Ich kann den Wind und die Weite noch nicht verlassen. Ich kann noch nicht ankommen. Das ist eine dichte und intensive halbe Stunde dort oben auf dieser kleinen Anhöhe.

Die Schriftstelle von heute morgen hat mich den Tag über begleitet. „Nehmt nichts mit auf den Weg.“ Es ist ja eigentlich schon herb, die Jünger folgen Jesus, weil sie in seiner Nähe sein wollen, weil sie in ihm jemanden ahnen, der ihnen etwas geben kann, dass er ihnen guttut, dass er eine wichtige Lebensbotschaft für sie hat. Und er schickt sie weg, und sie lassen sich wegschicken. Und erschwerend dazu, ohne Absicherung, kein Geld, kein zweites Hemd, keine Vorratstasche. Nackt und bloß, angewiesen auf das, was andere ihnen geben, von dem sie leben können. Und noch nicht mal Erfolg wird prophezeit.
Jesus sagt deutlich, es wird Häuser geben, in denen ihr nicht aufgenommen werdet. Man ist fasziniert von einer Idee, von jemandem – und wird ganz unversehens zum Mitarbeiter. Man will bei jemandem bleiben und wird doch losgeschickt. Nachgehen wird zum Losgehen, und man läßt sich ‚drauf ein, ohne wenn und aber. Aber man riskiert sich, investiert sich für eine Idee, eine Ahnung, eine Sehnsucht.
Ich bin ein bisschen nachdenklich an diesem Abend in der kleinen Pilgerherberge und spüre den Erfahrungen dieses Tages nach, die so unterschiedlich so sein mögen und vielleicht ganz viel miteinander zu tun haben.

6. Szene:

Verdutzt stehe ich vor dem Maschendrahtzaun, der plötzlich quer über den kleinen Wanderpfad läuft und mir den Weg versperrt. Was soll das denn? Ich mache ein paar Schritte nach links, ein paar Schritte nach rechts, aber der Zaun ist offensichtlich neu und vollkommen intakt. Und selbst wenn ich irgendwie über diesen Zaun kommen würde, wüßte ich nicht, wie ich mich dann durch die Großbaustelle kämpfen soll, die vor mir liegt, der Baustelle der neuen nordspanischen Autobahn. Ich fluche ein bisschen vor mich hin. Ich scheine mich eindeutig verlaufen zu haben und das gerade an dem Morgen, wo mir das Gehen so schwer fällt. Im Moment geht aber auch alles schief. Gestern abend war die Pilgerherberge in Sahagún wegen Fiesta geschlossen. Ich verstand nicht genug spanisch, um den Zettel an der Tür lesen zu können, Hotelbetten waren auch keine mehr frei. Und so bin ich in meinem Ärger zum nächsten Refugio weitergelaufen. Für gestern abend hatte ich den Anruf mit einer Freundin vereinbart, die ab Leon dazu kommen will, um miteinander die letzten Sachen zu klären. Nachdem ich in dem kleinen Ort ein öffentliches Telefon gefunden hab‘, funktioniert es natürlich nicht. Und das nächste Telefon ist fünf Kilometer entfernt. Und jetzt, am Morgen, wo mir das Gehen so schwer gefallen ist, hab‘ ich mich auch noch verlaufen. Es ist genauso wie zu Hause, immer gehen gleich drei Sachen schief, aber es hilft alles nichts, ich muss wieder zurück. Ich hätte in .Calzada del Coto.übernachtet. Von dort aus kann man entweder auf dem alten Pilgerweg, den alten Römerstraßen, weiter nach Santiago gehen, oder man wechselt auf die neue Pilgertrasse. Mit Mitteln der europäischen Gemeinschaft hat man in Spanien neben dem alten Camino eine Art Pilgerautobahn angelegt, direkt neben einem breiten großen Feldweg, alle zehn Meter gesäumt von einer Platane, die um’s Überleben kämpft, strikt geradeaus, entsprechend langweilig. Und die Spanier sind ein bisschen stolz auf diesen neuen Weg. Und deswegen ist der neue Weg markiert und der alte und dessen Markierungen verfallen ein bisschen. Ich wollte an dem Morgen diese Pilgerautobahn vermeiden und hatte mich deshalb für den alten Weg entschieden. Und an irgendeiner Kreuzung muss ich mich wohl entsprechend verlaufen haben, wegen mangelnder Markierung. Im übrigen, der Camino ist hervorragend durchmarkiert, aber jeder verläuft sich irgendwann mal auf dieser Strecke in einem Zustand mentaler Verwirrung. Einem Freund ist es passiert, der tauchte auf einmal in einem Dorf auf und wurde von den Dorfbewohnern begrüßt: „Ach, das ist ja schön, dass mal wieder ein Pilger hier ist. Der letzte war vor einem Jahr da.“ Damit war eindeutig, dass er nicht mehr auf dem offiziellen Pilgerweg war. Wie gesagt, jedem passiert es irgendwann mal, irgendwo verläuft man sich.

Es hilft nichts, ich muss zwei Kilometer zurück. Dort habe ich eine Brücke über die Autobahn gesehen, und dann werde ich doch notgedrungen auf die neue Pilgertrasse wechseln müssen. Für weitere Experimente habe ich heute morgen keine Kraft mehr. Und als ich nach eineinhalb Stunden mühsamen Gehens gerade wieder einen Kilometer von dem Refugio entfernt bin, wo ich letzte Nacht geschlafen habe, ist meine Stimmung ziemlich auf dem Nullpunkt. Ich habe keine Kraft mehr, weder körperlich noch mental. An der ersten Bank entlang der Pilgertrasse mache ich eine Zigarettenpause und frag‘ mich leicht verzweifelt, wie um alles in der Welt ich in dem Zustand die dreizehn Kilometer schaffen soll, die vor mir liegen. In dem Moment kommt ein junger Mann den Pilgerweg entlang, bittet mich um eine Zigarette und setzt sich zu mir. Wir beide fangen ein nettes Gespräch miteinander an. Ich sage zu ihm, er sei der erste Pilger, den ich treffe, mit Regenschirm. Er sagte nein, es wäre noch ein zweiter mit Regenschirm unterwegs. Aber ich wäre dafür die erste Pilgerin mit Reiseaschenbecher; denn ich hasse es, Zigarettenkippen auf dem Boden liegen zu lassen. Und nach kurzer Zeit fiel die Entscheidung, wir gehen ein Stück miteinander. Wir entdecken Gemeinsamkeiten, fangen an über das Leben und die Lebendigkeit nachzudenken, und Martin erweist sich als meine Rettung an diesem Tag. Und unsere Gespräche sind wohl für Martin die Rettung, der sich aus einer ziemlich ungeklärten Situation daheim zu einer Denkpause auf den Camino zurückgezogen hat.

Wir tun uns beide gegenseitig gut. Wir werden uns wichtig. In den Gesprächen und Gesten öffnet sich noch Verschlossenes. Wir bleiben drei Tage miteinander auf dem Weg. Und ich bin mir sicher, ohne diese Begegnung wäre mein und sein weiterer Weg nach Santiago anders verlaufen. Als wir uns dort später wieder treffen, staunen wir immer noch, wie sich diese Begegnung gefügt hat, zu seinem und meinem Besten. Einig sind wir uns beide darüber, dass die Software des lieben Gottes die eindeutig bessere ist. Planen kann man solch eine Begegnung nicht, die ist geschenkt. Und ob wir uns begegnet wären, wenn nicht dieser Maschendraht gewesen wäre, weiß ich auch nicht. Es mag sich ein bisschen simpel anhören, aber nach meinen Erfahrungen in diesen Tagen, auf dem Weg nach Santiago werde ich zunehmend sicherer: Manchmal benutzt Gott sogar Maschendrahtzäune, um uns gut zu tun.

7. Szene:

Aufstieg zum Cruz de Ferro. Der Aufstieg fällt uns beiden relativ leicht. Seit Leon ist Christiane dabei, eine Freundin aus Würzburg. Die Sonne scheint – das war nicht immer so, das war einer meiner größten Irrtümer, Nordspanien mit Sonne zu verbinden. Den Sommeranfang hab‘ ich erlebt bei 6 Grad plus, bin jeden Morgen los mit Pullover, langärmeliger Bluse, Goretex-Jacke, Sonnenöl war in den ersten zwei Wochen das Überflüssigste, was ich mitgeschleppt habe. Das heißt, es war sehr angenehm zum Wandern, weil man nicht so arg ins Schwitzen kam, wie im Juli oder im August, aber dass es so frisch wäre, hat mich doch persönlich sehr erstaunt. Die kurzen Hosen hätte ich getrost zu Hause lassen können, die hab‘ ich wirklich überhaupt nicht gebraucht. Es ist eher so ein Klima wie in Irland, Küstenklima, immer mal wieder Regen, Sonne, schnellwechselnd, Wind, nicht allzu warm.

Andrea Schwarz: Veröffentlichungen

Am Tag der offenen Himmelstür, Herder 1998
Bunter Faden Zärtlichkeit, Herder 1986
Der gemietete Weihnachtsmann, Herder 1996
Ich bin Lust am Leben, Herder 1997
Ich bin verliebt ins Leben, Herder 1994
Ich mag Gänseblümchen, Herder 1997
Ich schick dir einen Sonnenstrahl, Herder 1997
Ich suche und finde das Leben in mir, Herder 1996
Kater sind eben so, Herder 1991
Der kleine Drache Hab-mich-lieb, Herder 1987
Mich zart berühren lassen von Dir, Herder 1996
Die Sehnsucht ist größer, Herder 1998
Und alles lassen, weil Er mich nicht läßt, Herder 1997
Vom Engel, der immer zu spät kam, Herder 1997
Wenn Chaos Ordnung ist, Herder 1997
Wenn ich meinem Dunkel traue, Herder 1998
Entschieden zur Lebendigkeit,Herder 1999

Die Straße zieht sich leicht den Berg hoch, wunderschöne Ausblicke begleiten uns, und auch den Rucksack bekomme ich nach vier Wochen unterwegssein besser hoch. An dem Tag begleitet mich der Psalm 84: „Wohl den Menschen, die sich zur Wallfahrt rüsten. Ziehen sie durch das trostlose Tal, wird es für sie zum Quellgrund und Frühregen hüllt es in Segen. Sie ziehen dahin mit wachsender Kraft.“ Ich habe bis dahin diesen Psalm immer mit einer wachsenden körperlichen Kraft assoziiert, und das trifft auch durchaus zu. Ich komme nicht mehr ganz so schnell aus der Puste, wenn es bergauf geht. Aber an dem Tag wird mir klar, dass auch eine seelische, eine innere Kraft in mir wächst. Es ist zum einen die Kraft der Erinnerungen, wenn ich die Pyrenäen gepackt habe, dann werde ich diesen Berg, der vor mir liegt, auch noch packen. Zum zweiten ist es eine Kraft, die aus der Entschiedenheit, der Zielgerichtetheit heraus kommt. Jede Entscheidung an einer Wegkreuzung, den gelben Pfeilen zu folgen, mich damit für eine Richtung zu entscheiden und zugleich gegen drei andere Richtungen, macht mich klarer, eindeutiger und auch identischer. Unentschiedenheit bringt nicht voran. Aber jeder Schritt, der mich entschieden in eine gewisse Richtung bringt, macht mich klarer und macht mich eindeutiger. Von daher kann man den Psalm, glaub‘, ich wirklich so übersetzen wie es Erich Zenger tut: „Wohl den Menschen, die Pilgerstraßen in ihrem Herzen tragen. Sie ziehen dahin von Kraft zu Kraft.“

Der Pilgerweg nach Santiago ist ein Weg, der helfen will, bestimmte menschliche Erfahrungen einzuüben. Es ist eine Art Lernfeld. Man kann das auch lernen, ohne nach Santiago gegangen zu sein. Aber wenn man nach Santiago geht, ist es ein bisschen leichter, das zu lernen, weil man das am eigenen Körper erlebt und spürt.

8. Szene

Noch 20,5 Kilometer bis Santiago, so hat es der Kilometerstein heute nachmittag angezeigt. Ich lese die Zahlen auf den Kilometersteinen mit durchaus gemischten Gefühlen. Irgendwie freue ich mich aufs Ankommen und habe zugleich Angst davor. Gut sechs Wochen bin ich jetzt zu Fuß und eine kleine Strecke mit dem Bus unterwegs gewesen, immer nach Westen, den gelben Pfeilen folgend, auf den Weg nach Santiago. Sechs Wochen bin ich mit dem ausgekommen, was ich auf dem Rücken trage. Sechs Wochen lang bin ich morgens irgendwo aufgebrochen, bin den Tag lang in Sonne und Regen in Wind und Weite gewandert, durch endlose Getreidefelder, über Bergpässe, an langweiligen Straßen entlang, durch kleine Dörfer und Städte, auf abenteuerlichen Schlammpfaden. Fünfhundert Kilometer zu Fuß liegen hinter mir, und morgen werde ich nun also in Santiago ankommen. Ich habe durchaus gemischte Gefühle. Mit dem Ankommen geht unwiderruflich etwas zu Ende, was so nicht wiederholbar ist. Selbst wenn ich den Camino noch mal gehen können, wird es dann anders sein. Und da ist ein bisschen Traurigkeit in mir, als mir das so bewusst wird, und gleichzeitig freue ich mich. Ich freue mich auf Santiago, auf zu Hause und darauf, mal wieder endlich einen anderen Pullover anziehen zu können, als nur den einen, den ich dabei habe. Ich freue mich d’rauf, mal wieder ganz alleine zu schlafen und nicht in einem riesengroßen Schlafsaal. Ich träume davon, mir in Santiago ein weiches, weißes, ganz sauberes und neues Sweatshirt zu kaufen. Am Monte del Gozo, den Berg, von dem man aus das erste Mal auf Santiago sieht, will sich bei mir die rechte Freude noch nicht so ganz einstellen, schließlich die Kathedrale. Und mit Christiane sitz ich eine halbe Stunde davor, und wir wollen beide noch nicht so richtig hinein. Schließlich entbieten wir unseren Ankommensgruß, wie es Millionen von Pilgern vor uns getan haben. Und ich lege die Hand in die Säule, die sich mir fast entgegen schmiegt. Dann gehen wir wieder. Noch ist Besichtigung nicht angesagt.

An diesem Tag laufe ich fast wie ein bisschen geistig verwirrt durch diese wunderschöne Stadt. Ich bin da und bin doch nicht da. Und erst am nächsten Tag löst sich die Spannung bei der Pilgermesse. Es ist das Fest „Maria Heimsuchung“, der Besuch Marias bei Elisabeth. Und zu Ehren dieses Festes wird das Rauchfass geschwungen. Und in dem Moment hält es mich nicht mehr auf der Kirchenbank, ich muss aufstehen und mir kommen die Tränen. Mir fällt das Lied ein, das ich so gern‘ singe: In deinen Toren werd ich stehen, du freie Stadt Jerusalem, in deinen Toren kann ich atmen, erklingt mein Lied. Jetzt und hier erahne ich etwas davon, was das bedeuten kann. Frieden zieht in mir ein, Gelassenheit, eine neue Gewissheit, was wirklich wichtig ist, und eine tiefe Freude. Und mir wird zunehmend klar: Nein, der Weg ist nicht das Ziel. Der Weg ist wichtig, aber er braucht das Ziel. Der Weg ist nicht schon in sich wertvoll, der Weg braucht das Ziel, damit ich ankommen kann, so schwer es manchmal auch sein mag. Ohne Ziel wird der Wanderer zum Vagabunden und zum Abenteurer, denn dann wird es beliebig, wohin er geht. Der Camino, der Weg von Santiago de Compostela, hat sein Ziel und kann damit zu einem Abbild von Lebensweg und Lebensziel werden.

An diesem Abend verabschieden wir Doris und David, ein älteres englisches Ehepaar, das wir oft auf dem Weg getroffen haben. Morgen werden sie nach Hause zurückfahren, und sie wissen nicht, ob sie in ihrem Leben noch einmal Santiago sehen werden. Auf dem jetzt menschenleeren Platz vor der Kathedrale, im warmen Abendlicht, setzt sich David im Schneidersitz vor die Kathedrale und nimmt leise für sich Abschied. Vom kleinen Platz in der Nähe tönt leise Saxophonmusik eines Straßenmusikanten: „Should auld acquaintance be forgot“ – Nehmt Abschied, Brüder, ungewiss ist alle Wiederkehr. Jedes Ankommen bedeutet neues Aufbrechen. Trotz Pullover bekomme ich ein bisschen Gänsehaut in diesem Moment, ich muss schlucken und ahne darum, dass möglicherweise mit der Ankunft in Santiago der Weg überhaupt erst beginnt.

9. Szene

Hinter mir liegt eine lange Zugfahrt, und ich bin ein bisschen übernächtigt. Es war ein seltsames Gefühl, mit dem Zug durch die nordspanische Landschaft zu fahren, die ich sechs Wochen lang durchwandert habe. In der Meseta haben wir einige Pilger gesehen. Ich hab‘ die Autobahnbrücke entdeckt, bei der ich Martin getroffen habe, im Reiseführer habe ich die Etappen noch mal nachgelesen. Es ist unwirklich, wieder in Deutschland zu sein, es ist unwirklich, nach sechs Wochen Pilgern wieder in den Alltag zu kommen.

Maria, die Amerikanerin, die mit uns bis Straßburg zurückfährt, fragt uns ein bisschen ratlos, nachdem sie ein Vierteljahr unterwegs war: „Wie macht man das, nicht mehr zu pilgern? Was macht man eigentlich, wenn man morgens nicht mehr aufbricht, den Rucksack packt, irgendwo losgeht, Quartier sucht, sich was zu Essen organisiert, was macht man dann?“

Als mich Manfred am Bahnhof in Worms abholt, wir mit dem Auto durch die Stadt fahren, bin ich richtig erschrocken: „Das ist aber schnell!“ Manfred schaut mich überrascht an und sagt: „Ich fahr‘ grad 30!“ Und als er mich verabschiedet, sagt er: „Denke bitte dran, in Deutschland gibt es eine Mindestgeschwindigkeit auf Autobahnen.“ Ich hab‘ mich, glaub‘ ich, nie so deutlich an Geschwindigkeitsbegrenzungen gehalten wie die ersten sechs Tage, nachdem ich vom Camino zurück war.

Am Abend sitz‘ ich in meiner Wohnung, und mir ist schon wieder nach Weinen zumute. Die Freunde haben sich in meiner Abwesenheit zu liebevoll um die Wohnung gekümmert und mich hier so liebevoll empfangen. Aber die Wohnung scheint mir viel zu groß zu sein und ein Schlafzimmer ganz für mich alleine? Fast weiß ich schon nicht mehr, was das ist! Und als ich vor meinem Kleiderschrank stehe, erschrecke ich. Soviel Klamotten? Wie soll ich mich da nur entscheiden, was ich anziehen soll? Sechs Wochen lang war das einzige Kriterium, was ist das Kleidungsstück, was am wenigsten dreckig ist. Ich blättere im Tagebuch herum. Auf dem CD-Player liegt eine der CD’s mit der galizischen Musik, die ich mir mitgebracht habe und die letzten Tage in Santiago oft gehört habe. Ich bin gespannt auf die Dias und freue mich auf den Gottesdienst morgen früh. Von dort bin ich von der Gemeinde losgeschickt worden mit dem Pilgersegen. Nach dem Gottesdienst werde ich die Muschel abnehmen, die ich sechseinhalb Wochen getragen habe. In mir ist viel Dankbarkeit für das Erlebte, und einen Moment lang denke ich: Nach dem Weg und dem Ankommen in Santiago fällt mir das Wiederheimkommen schwer. Ich bin grad froh bei dem Gedanken, dass, wenn ich eines Tages bei meinem himmlischen Vater angekommen bin, nicht wieder zurück muss in irgendeinen Alltag. Ich darf dann wirklich dort bleiben, wohin ich hingepilgert bin.
Was heißt Pilgern jetzt für mich? Mich festmachen in Gott und auf Grund dessen in Bewegung kommen, von Gott ausgehen, zugleich auf Gott zugehen, bei den Menschen sein. Und wenn ich auf mich schaue, stelle ich erstaunt fest, es hat sich was geändert: Ich bin weicher und stärker geworden, empfindsamer und toleranter, gelassener und geduldiger, Gott vertrauender und mit einem Blick für das wirklich Wichtige.

Letzte Szene

Ende Oktober. Ein bisschen traurig drücke ich die Taste „Speichern“ am Computer. Die letzte Datei des Pilgertagebuches ist eingegeben. Schade! Dieses Tagebuch hat in den letzten Wochen und Monaten den Weg sehr lebendig gehalten. Neu, ganz neu habe ich mich in diesen Wochen in die Landschaft Rheinhessens verliebt, hab‘ mich hinausziehen lassen in die Weite und Unendlichkeit auch dieser Landschaft, durchschnitten von kleinen Tälern, in denen die Dörfer versteckt liegen. Ich bin lebendiger geworden durch die Erfahrungen auf dem Camino. Lebendigkeit hat etwas mit Haltungen und Einstellungen zu tun, mit einem Wechsel der Perspektive, dem Mut loszulassen und den Aufbruch zu wagen. Dafür kann der Camino ein Lernfeld sein. Wenn ich mich wirklich auf diesen Weg einlasse, und wenn ich dem Weg nicht vorschreibe, was er mir zu geben hat, wie er zu sein hat, wenn ich wirklich offen bin für das ganz andere. Die christliche Zusage steht: Sucht und ihr werdet finden. Dummerweise wird nicht dazu gesagt, ob das, was wir finden werden, auch das ist, was wir gesucht hatten. Menschen, die von vornherein dem Camino vorschreiben, was sie dort erfahren möchten, werden ihre Geschenke möglicherweise nicht bekommen. Zum Camino gehört auch das Loslassen. In volle Hände kann Gott nichts mehr hineinlegen. Ich persönlich habe Ehrfurcht vor diesem Weg bekommen. Es ist ein spiritueller Weg. Natürlich kann man diesen Weg aus sportlichen oder kunsthistorischen Interessen gehen, aber man wird die Erfahrungen nicht machen können, die dieser Weg in sich birgt. Es ist ein Weg, der Geschichte hat, und der die Kraft von Hunderttausenden von Pilgern, die diesen Weg über Jahrhunderte hinweg gegangen sind, aufgenommen hat, und an die Pilger, die sich heute auf diesen Weg machen, auch wieder abgibt, wenn sie bereit dazu sind. Verräterisch mag die Sprache sein, wenn jemand sagt: „Ich mach den Weg.“ Der Weg lässt sich nicht machen, dieser Weg ist immer Geschenk. Ich mach den Weg, das hört sich an wie: ich mach den Berg, ich mach dich klein, ich schaff dich, um mich zu bestätigen. Wer den Camino so angeht, um eine bestimmte Strecke zu Fuß zurückzulegen, der mag von dem, was dort möglich ist, nichts erleben. Der Camino und das Leben sind geschenkt und sind nicht machbar, und sie wollen unser Staunen, unsere Offenheit, unsere Liebe und die Bereitschaft zum Aufbruch. Und wer meint, dass sich seine Sehnsucht mit der Ankunft in Santiago stillen lässt, auch der wird sich täuschen. Die Sehnsucht ist größer, und auch der Weg nach Santiago de Compostela ist nur ein Abbild menschlichen Weges. Unsere eigentliche Sehnsucht zielt auf etwas Anderes. Santiago ist nur Abbild dafür, aber das kann möglicherweise ganz schön viel sein, weil man auf dem Weg nach Santiago diese Erfahrung machen kann, die man auch im Leben machen kann. Ja, es war ein Weg, es waren sechs Wochen, die Mühe gemacht haben, die anstrengend waren, die nicht immer leicht waren. Es waren sechs Wochen in meinem Leben, die ich nicht missen möchte, die ich nicht hergeben möchte. Es waren sechs Wochen, in denen ich unsagbar reich beschenkt worden bin. Sechs Wochen, in denen ich mich verändert habe, sechs Wochen, an denen ich gewachsen bin. Und ich glaube, der Weg hat tatsächlich was mit Christsein zu tun, denn auch die Bibel erzählt davon. Immer dort, wo sich Menschen von Gott berühren lassen, brechen sie auf und gehen sie los, nehmen ein Stück Weg unter die Füße. Maria, die zu Elisabeth geht, die Jünger, die ihre Familien verlassen, aufbrechen und losgehen und Jesus selbst, der als Wanderprediger umherzog. Er bildete seine Nachfolger nicht an einer theologischen Hochschule aus, sondern im Unterwegssein und in der Begegnung mit dem Menschen. Das kann man auf dem Camino erleben, aber genauso spannend ist es, das im Emsland zu erleben. Man kann diese Erfahrungen auf dem Weg nach Santiago machen, aber gefragt ist eigentlich auch, wenn ich solche Erfahrungen mache, die dann auch im Emsland, zwischen Lingen und Haselünne und Handrup, entsprechend zu leben.

Ich wünsche Ihnen viel Mut zum Aufbruch, Zeit zu einem inneren Aufbruch, seien es die Pilgerwege in Ihrem Herzen, vielleicht für den einen und die andere auch ein äußerer Aufbruch, ein sich leibhaftig auf den Weg machen. Möge Gott, der treue Wegbegleiter, Sie auf diesem Weg einfach begleiten. Ich sag‘ danke für‘ s Zuhören im ersten Teil, jetzt kommen noch 150 Dias, wird jetzt ein bisschen lockerer, nicht mehr ganz so meditativ schwer, ich möchte einfach noch so ein paar Eindrücke vermitteln, wie sieht‘ s denn da jetzt aus, nachdem Sie jetzt wissen, was man da so erleben kann.

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Bischof Dr. Franz-Josef Bode im “Handruper Forum”

Jugend und Kirche

Zum Referenten:
Dr. Franz-Josef Bode
Bischof von Osnabrück

Vortrag im Rahmen des „6. Handruper Forums“ vom 10. Oktober 1997.

(Zu diesem Abend existiert nur mehr das Vortragsmanuskript.)

Bischof Dr. Franz-Josef Bode

Vortrag Bischof Dr. Franz-Josef Bode

Meine Damen und Herren, liebe Jugendliche!

Ich freue mich, dass es heute abend dazu gekommen ist, dass ich hier im sogenannten Handruper Forum ein wenig über Jugend und Kirche sagen darf. Ich hab’ das damals so früh und etwas leichtsinnig angenommen und habe natürlich gedacht, das ist wunderbar, da habe ich noch lange Zeit. Sie kennen das alle, am Ende wird es dann doch sehr eng und es ist doch dann eine ziemlich volle Woche geworden, und ich mußte mich also bis eben damit ein bißchen beschäftigen. Deshalb ist vielleicht mein Vortrag daher eher eine Sammlung von unterschiedlichen Gedanken, die man vielleicht noch sehr viel besser in Form und Ordnung bringen könnte, aber vielleicht entspricht es auch der Buntheit und Vielfalt dessen, was wir mit Jugendlichen erleben, wenn das aus so verschiedenen Teilen auch zusammengesetzt ist, sowie es hier unter uns vielleicht auch deutlich gemacht ist.[ðVerweis auf die Schautafeln zu den Projekttagen – Motto: Jugend und Kirche: Bunt und vielfältig.]

„Diese Jugend ist von Grund auf verdorben, sie ist böse, gottlos und faul. Sie wird nie wieder so sein wie die Jugend vorher.“ – So steht es auf einer Tonscherbe des Alten Babylon.

„Unsere Jugend liebt den Luxus, hat schlechte Manieren, mißachtet die Autorität und hat keinen Respekt vor dem Alter. Die heutigen Kinder sind Tyrannen, sie stehen nicht auf, wenn ein älterer Mann das Zimmer betritt, sie widersprechen den Eltern, sie schätzen die Gesellschaft anderer, schlürfen beim Essen und tyrannisieren ihre Lehrer.“ – So sagt Sokrates.

„Und in Kathargo ist eine abstoßende maßlose Ausgelassenheit der Schüler das Übliche. Sie stürzen unbeherrscht darein, und wie eine Horde von Rasenden bringen sie die Ordnung durcheinander, die der Lehrer zum Besten seiner Schüler eingeführt hat. Mit unbegreiflicher Roheit treiben sie Frevel über Frevel. Dinge, die vor den Gesetzen strafbar wären, wenn nicht die Gewohnheit ihr schützender Anwalt wäre.“ – Das sagt der hl. Augustinus.

Also meine Lieben, zu allen Zeiten hat man offensichtlich Probleme gehabt, dieser Jugend die Zukunft zuzutrauen, und zu allen Zeiten hat Jugend dennoch, möchte ich sagen, ihren Weg, sicher auch unter Schmerzen und Blessuren, gefunden und ist herangereift zur Gestaltung der Zukunft. Und dieses grundsätzliche Vertrauen in junge Menschen möchte ich an den Anfang meiner Ausführungen setzen, sozusagen als Überschrift. Es gibt sicher vieles, über das man klagen kann, das einem Schwierigkeiten bereitet, was einem Herzklopfen macht. Aber die Grundvoraussetzung ist das Vertrauen. Aber wer oder was ist sie denn überhaupt: die Jugend?

Grundsätzlich läßt sich festhalten, dass die Jugendphase sich ausgedehnt hat, sie beginnt eher. Diese Akzeleration zeigt sich z.B. in einer früheren geschlechtlichen Reife und in einem beschleunigten Wachstum. Aber auch an psychischen Phänomenen, etwa die Tochter, die dem Vater den Computer erklärt und der Mutter das neue Abfallsystem erläutert.

Dem steht eine Ausweitung der Jugendphase nach hinten gegenüber. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz von ‘92 setzt das Alter für die Anspruchsberechtigten bis 27 Jahre, und in nicht seltenen Fällen haben Menschen zu dem Zeitpunkt ihre Ausbildung aber noch nicht abgeschlossen, keine Familie gegründet, leben noch bei ihren Eltern und es läßt sich leicht vorstellen, dass es da zu Schwierigkeiten kommt. Auf jeden Fall läßt sich nicht mehr von der Jugend als einer Vorbereitungs- und Übergangsphase nur reden, sie ist eine eigenständige, vielfältig ausgeprägte Phase. Sie ist kein fest zu definierender Sachverhalt, sondern immer wieder neu zu betrachten und zu beschreiben. Bunt und vielfältig, Sie haben es hier hingeschrieben, und dies ist um so wichtiger, je schneller die Entwicklung und die Veränderung unserer Gesellschaft vonstatten gehen.

Diese Veränderungen sind in der jüngsten Zeit mit wesentlichen Schlagworten gekennzeichnet worden: Erlebnisorientierung – Multioptionalität: viele Optionen; Pluralisierung, Individualisierung und Differenzierung.

Kürzlich stand in der „Zeit“ ein Artikel mit der Überschrift: „Alles besetzt“, Dieser Artikel hatte die Unterschrift: „Der Weg ins traditionelle Erwachsenendasein bleibt den Jüngeren auf unbestimmte Zeit versperrt.“ Und da heißt es in einer Passage: „Das ist wahrscheinlich das bedeutendste, die ‘Zwangsjugendlichkeit’. Während es irgendwann einmal, z.B. als die Achtundsechziger noch biologisch jung waren, richtige, echte Erwachsene gab, und die Jugend nur den Rand einer Vorbereitungsphase auf das Eigentliche hatte, ist heute die Phase der Jugendlichkeit fast bis ins Lächerliche zerdehnt.“
Das liegt zu einem daran, dass Solarien, Fitnesscenter und Diäten heute vielen Menschen zugänglich sind, dass ältere Frauen sich nicht mehr einebnen lassen, nicht mehr einsehen, warum sie den Jil-Sander-Look mit der geblümten Kittelschürze vertauschen sollen, und dass ältere Männer, wenn sie einflußreich und grauhaarig sind, auch junge Frauen um sich scharen können. Den Ältergewordenen steht ein jugendlicher Habitus zur Verfügung, wenn sie ihn wollen. Und sie wollen ihn.

Auf der anderen Seite aber ist den Jüngeren der Weg in ein traditionelles Erwachsenendasein auf unbestimmte Zeit versperrt. Der Berufseinstieg, als ein ganz normaler Schritt zum Erwachsenwerden, hat inzwischen Seltenheitswert. Ihn ersetzen berufsvorbereitende Maßnahmen des Arbeitsamtes, ABM-Stellen, Jobs als Tankwart, Teilzeitsoftwareentwickler oder Zigarettenpromotorin, Praktikahospitanzen, der auf eineinhalbjahre befristete Assistenzvertrag u.s.w.. Während der akademische Nachwuchs der späten sechziger- und frühen siebziger Jahre selbst mit allergeringstem Ehrgeiz in boomenden Schulen und Hochschulwesen, in staatlichen und kommunalen Verwaltungen der Verbeamtung nicht entging, wird inzwischen kaum noch eingestellt. Die Stelleninhaber sind noch auf Posten, und wo einer geht wird gekürzt, gestreckt, gestrichen. „Closed shop“ beim Staat wie bei den privaten Arbeitgebern.

Vor diesem Hintergrund drängen Schulabgänger heute eher zum Berufsforum der örtlichen Sparkasse als zu einem revolutionären Jugendverband. Angesichts dieser Aussichten erscheint auch die Gründung einer Familie – ein weiterer unspektakulärer Weg in die Erwachsenenwelt – vielen Jugendlichen mit dreißig noch zu risikoreich. Würde man denn mit einem Baby am Bein den Flexibilitätserwartungen heutiger Personalchefs entsprechen können? Wahrscheinlich nicht. Den Jüngeren steht also die Option auf Erwachsensein erst sehr spät zur Verfügung, später als es sein müßte, später als es gut ist.

Ich habe das deshalb so ausführlich gesagt, weil ich denke, dass daraus schon deutlich wird, dass diese Buntheit und Vielfältigkeit sich schon aus dieser langen Spanne zwischen zwölf- und dreißig Jahren ergibt, was etwas mit der Jugendlichkeit zu tun hat. In unserem Bistum gehören in dieses Alter von zwölf- bis dreißig Jahren 135.700 junge Leute, wenn man Bremen nicht dazu rechnet – ich habe die genaue Zahl nicht – sind das etwa ein Viertel Katholiken unserer Diözese. Und ich denke, dass wir durch Gruppen, durch Aktivitäten der Gemeinden, durch all das, was in unseren Pfarrgemeinden geschieht, etwa 25 bis 30 Prozent dieser Leute erreichen, d.h. also weit über 30.000, wenn nicht gar bis 40.000. Hier im Emsland wird das Verhältnis der Erreichbarkeit noch größer sein als in den Städten. Also immerhin doch eine gewaltige Zahl, mit der wir jeden Tag in unseren Gemeinden, unseren Kirchen umgehen. Jetzt mal gar nicht gerechnet über die Schulen.

Wenn wir von Jugend und Kirche sprechen, müssen noch zwei Vorbemerkungen gemacht werden. Die Wortverbindung „Jugend und Kirche“ nämlich, denn einmal geht es um die Jugend der Kirche und Jugend in der Kirche, die ihre Einstellung zum Ganzen der Kirche hat, zu der sie ja selbst gehört. Sie ist Teil der Kirche und steht ihr nicht einfach nur gegenüber. Wenn das so wäre, dann würde man Kirche nur einfach mit denen da oben und mit Amtskirche verwechseln, zum andern geht es aber auch um die Jugend überhaupt. Die ganze Alltagskohorte, wie man so schön sagt, zu ihrer Stellung zur Kirche und dann noch eher zur Religion überhaupt. Wobei die kirchlich gebundene Religiosität nur ein Teil der Religiosität Jugendlicher überhaupt ist. Und weil diese Innenbeziehung – Kirche und Jugend – und die Außenbeziehung – Religion und Jugend überhaupt – ineinander übergehen, möchte ich noch einige Bereiche aufgreifen, in denen junge Leute heute leben. Daran wird nämlich deutlich, dass sich das Verhältnis Jugend und Kirche nicht herauslösen läßt aus der Gesamtsituation, weil eben Jugend auch ein Seismograph gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen ist, und die Probleme, die wir vielleicht in der Kirche haben, genau solche Probleme sind, wie die Gesellschaft sie in unterschiedlichsten Weisen auch hat, in der Politik, im Medienwesen – ich habe gestern die Redaktion der NOZ besucht und habe gehört, dass sie es auch schwer haben, die Abonnentenbindung zu halten, und dass sie es auch schwer haben, mit denen, die nur einmal in der Woche, oder wenn sie gerade Lust haben, die Zeitung kaufen. Also auf der ganzen Linie gibt es solche Unverbindlichkeiten. Eine Gesamtsituation also, in die wir eingebunden sind, die in sich äußerst komplex und kompliziert ist. Zu dieser Differenzierung noch ein paar Sätze:

Die Gesellschaft, die bis dahin in relativ große Milieugruppen nach Ständen und Schichten geteilt war, beginnt nach dem Zweiten Weltkrieg sich immer weiter zu teilen und zu differenzieren. Das gilt vor allem für die großen Bereiche Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, die sich ohne Grenzen immer weiter auseinander bewegen. Und jeder einzelne Bereich versucht, seine eigene Leistungsfähigkeit möglichst weitgehend zu erhöhen. Das führt zu einem Schisma der Lebenswelten, zu einer Spaltung der Lebenswelten. Jedes Mitglied einer so differenzierten Gesellschaft hat es mit einer Fülle von Abteilungen zu tun, die jeweils für einen bestimmten gesellschaftlichen oder individuellen Lebensbereich zuständig sind. Die Reaktionen einzelner darauf ist der Rückzug in eine Privatsphäre, an die ein sehr hoher Anspruch als Maßstab angelegt wird. Und in diesem Prozeß sind natürlich die Jugendlichen hineingenommen, man spricht sogar von einer Verinselung. Dass es ganz spezialisierte Räume gibt, wie Spielplätze, Einkaufszentren und Freizeitsparks, Wohn- und Schlafstätten, alles ist eingeteilt in solche Inseln. Und die Überbrückung der Zwischenräume wird nicht mehr sinnlich erlebt, sondern erfolgt durch technische Medien, wie Fernsehen und Telefon. Und spontanes Handeln wird erschwert, da das Aufsuchen der Inseln Planung unter Berücksichtigung von Fahrplänen, Fahrzeiten und Öffnungszeiten erforderlich macht und erst mit anderen Personen abgestimmt werden muß. Man spricht von einer Fragmentalisierung, von einer Collagenwelt, wo alles zusammengesetzt wird oder einer Patchworkwelt, von der man reden kann. Und deshalb lohnt es sich, in drei Bereichen vielleicht noch einen kurzen Blick zu werden, nämlich: Jugend und Familie, Jugend und Schule und Jugend und Freizeit.

Jugend und Familie
Immer mehr Kinder wachsen als Einzelkinder auf. Parallel dazu fallen andere Veränderungen ins Auge. Es gibt mehr Scheidungen, mehr neue Beziehungs- und Haushaltsformen, Patchworkfamilien, immer öfter sind beide Elternteile berufstätig, bzw. das alleinerziehende Elternteil. Die Eltern sind wichtige Bezugspersonen im Leben der Jugendlichen, aber sie haben einen immer geringeren Einfluß auf die Sozialisation ihrer Kinder. Ihre Erfahrungen und Kenntnisse sind in der spezialisierten, sehr funktionsorientierten und in der schnellebigen Zeit kaum noch hilfreich. Also auf der einen Seite diese Notwendigkeit des Beziehungsgefüge, mit der Familie zu leben und gleichzeitig die Unfähigkeit oder auch manchmal Unmöglichkeit der Familie, bei all den vielen anderen Bereichen, in den junge Leute leben, wirklich auch Einfluß auf die Sozialisation zu nehmen. Und deshalb kann man über das Wort Generationenkonflikt sehr unterschiedlicher Ansicht sein. Es gibt Forscher, die im Moment gar keinen Konflikt ausmachen können. Andere wiederum sprechen von einer neuen Dimension in dem Streit zwischen den Generationen, es hat nach ihrer Ansicht auch etwas mit dem schlechten Gewissen, wegen eigener Unfähigkeiten zu tun. Außerdem war Jugend immer ein Hoffnungsträger für eine noch bessere Zukunft. Und wie ist es dann, wenn diese Hoffnung angesichts drohender Krisen und Rezessionen, infrage zu stellen ist. Vielleicht hat die junge Frau recht, die einmal sagte: „Die Eltern sind so scheißliberal geworden, dass man sich an ihnen nicht mehr reiben kann.“ Lassen sich Eltern und Erwachsene überhaupt nicht mehr provozieren? Gehen den Konflikten aus dem Weg? Verweigern die Jüngeren ihren Eltern die Teilhabe an ihren Erkenntnissen und Erfahrungen?

Jugend und Schule
Die andere Institution, in der junge Leute leben, ist die Schule, und das ist hier ja natürlich ein besonderer Erfahrungsbereich. Jugendzeit ist Schulzeit. Die oben beschriebene Ausdehnung der Jugendphase ist eng mit der des Bildungsbereiches verbunden. Schule beeinflußt Alltag, Lebensrhythmus und soziale Orientierung. Schule ist eine Sozialisationsinstanz. Kompetenz und Wissensvermittlung liegt im Bereich der Bildungsinstitutionen. Damit ist die Familie entlastet, hat aber auch nur noch relativ wenig Einflußmöglichkeit. Schule spiegelt das Leistungsprinzip der Gesellschaft wieder, auf die hin sie schult. Über den Leistungsgedanken wird ausgewählt. Schulabschlüsse und Zertifikate bestimmen die Position im Erwachsenenalter wesentlich mit. In der Schule wird bereits sehr früh festgelegt, welche Chancen jemand später hat. Dabei ist ein guter Abschluß so eine wesentliche Bedingung, garantiert aber immer weniger Erfolg, und das löst massiven Druck aus. Und die Gesellschaft hält da nicht immer, was vielleicht Schule „verspricht.“ Gute Abschlüsse garantieren nicht mehr einen guten Platz im Erwerbssystem, viele Entscheidungen fallen nicht mehr nach Wunsch und Interesse, sondern an den Bedingungen orientiert. Die Belastung durch die Schule, und vor allem auch durch die dort geforderte Leistung, wächst, weil der Druck sich erhöht durch die verschärfte Konkurrenzsituation. Und die äußert sich manchmal körperlich oder durch abweichendes Verhalten. Die Jugendlichen, die nicht mehr klarkommen, sind zwar noch eine Minderheit, aber eine immer wachsendere Minderheit. Sinn erhält die Schule nach ihrer Bedeutung für das Leben nach der Schule. Dabei wird der formale Teil der Schule, der gleichzeitig auch ihren Kern ausmacht, nämlich Unterricht und Lehrer, meist sehr negativ bewertet, und das sehr oft. Der eher informelle Teil, die Ferien, die Kontakte, die Klassenfahrten, die Freiheiten und Freizeiten kommen da schon besser weg, das wird wohl immer so sein.

Jugend und Freizeit
Damit sind wir bei Jugend und Freizeit. Jugend zwischen Freizeit, Medien und Konsum. Die Klage über zu wenig Freizeitmöglichkeiten ist sicher objektiv falsch, da es noch nie so viele Angebote gegeben hat. Objektiv falsch, aber subjektiv vielleicht doch richtig? Den Jugendlichen werden Konsumangebote gemacht, von denen Jugendliche jedoch nur Teile wahrnehmen können. Auf den weitaus größeren Teil müssen sie wegen fehlender Mittel, fehlender Zeit oder wegen des Überangebotes verzichten. Ich habe in meinem Brief an die jungen Leute auf die eigenartige Spannung hingewiesen. Diese unbegrenzte Zahl der Möglichkeiten und trotzdem die sehr ein geengte Zahl der Möglichkeiten, die man dann letztlich auch eingehen kann. Und das fördert natürlich eine wachsende soziale Unlust. Vereine, Verbände und Parteien, aber auch Familie und Nachbarschaft bekommen zu spüren, dass Freizeit zu einer Zeit der Beliebigkeit geworden ist und dass mit der wachsenden Kommerzialisierung der Freizeit auch die Entsolidarisierung im Alltag zunimmt. Und das stellt ganz neue Herausforderungen an Institutionen und Organisationen, auch an die Kirche. Soziales Engagement steht bei den Jugendlichen immer mehr unter dem Vorbehalt jederzeitiger Kündbarkeit. Mit dem Stichwort „Jugendliche im Erlebnisstreß“ werden die Konsequenzen beschrieben, die der Konsumimperativ „Bleiben sie dran“ bei Jugendlichen auslöst. Es führt zur einer Reihe von Störungen, zu Aggressionen, Schlafstörungen, wegen der ständigen Reizüberflutung. Auch schulisches Verhalten wird als Folge ermittelt, dass es schwierig wird, zur Konzentration zu kommen. Darin liegen enorme Herausforderungen für Schule, Elternhaus, Kirche, aber auch für die Persönlichkeitsbildung und die Sozialerziehung. Wir sind auf dem Weg von einer Leistungs- und Arbeitsgesellschaft, die lebte, um zu arbeiten, hin zu einer Freizeitgesellschaft, die arbeitet, um zu leben. Die Lebensarbeitszeit ist verkürzt, es gibt immer mehr Arbeitslose. Karrieren werden heute zunehmend in der Freizeit gemacht. Musiker, Sportler, Globetrotter, Computerfreaks mit fast professionellen Ansprüchen. Trotzdem ist in vielen Bereichen der Primat der Arbeit noch gegeben. So werden Jugendliche in der Schule nicht darauf vorbereitet, die Lebensziele und Sinn außerberuflich zu finden, werden Freizeitangebote – auch kirchliche – in Action und Produktivität gemessen, sieht der Staat Jugendliche nur als Arbeitnehmer, die Wirtschaft junge Menschen nur als Konsument. Die staatliche Jugendpolitik hat sich bisher über sinnvolle Lebensalternativen zum Geldverdienen und Geldausgeben kaum Gedanken gemacht.
Gestern abend war die Bundesleitung der CAJ, (Christliche – Arbeiter – Jugend) bei mir, und ich bin erstaunt, wie intensive Gedanken sie sich um diese Frage machen. Wie man denn auch, wenn es immer doch auch Arbeitslosigkeit noch auf lange Sicht geben wird, auch ein Leben nicht allein über Arbeit definiert? Natürlich muß das immer auch sein, aber wie man auch in anderen Bereichen und anders sinnvoll und richtig leben kann. Und damit auch umgehen lernt, mit dieser Situation, in der nicht einfach mehr jeder das haben kann, was er will.

Die Essenz, die die Freizeitforscher aus ihren Ergebnissen ziehen, ist die Forderung nach einer Neudefinition des Lernziels „Leben“. Eine ausgeprägte Hilfsbereitschaft wird damit zu einer der wichtigsten Lebenskompetenzen der Zukunft. Eine ausgeprägte Hilfsbereitschaft, die von früher Kindheit an entwickelt werden muß. Und ich denke, das ist auch wiederum ein ganz wichtiger Punkt für die Frage von Jugend und Kirche. Bei dem Ganzen spielt natürlich auch der Umgang mit den Medien, mit den Computern eine große Rolle.

Sie wissen vielleicht auch, dass ich auch in der Kommission für Medien, für Publizistik in der Bischofskonferenz bin, und wir nehmen immer stärker wahr, wie unsere Gesellschaft zur Informationsgesellschaft wird. Und wie die Realitäten, die Wirklichkeitsebenen immer mehr durcheinander geraten, und auch das, denke ich, ist eine Herausforderung in einer ganz besonderen Weise für uns alle, aber eben auch für junge Leute.

In einer solchen Situation kann nicht mehr von der „Jugendkultur“ gesprochen werden, sondern nur von sehr unterschiedlichen Lebensstilen und kulturellen Szenen. Eine Antwort auf gesellschaftliche Gegebenheiten, die eben nicht unbedingt jugendtypisch ist, sondern ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Alle wollen jung sein, ich hatte das eben schon angedeutet, aber keiner will Jugendlicher sein.
In diesem Zusammenhang spielt das Wort „Zugehörigkeit“ eine ganz neue Rolle, weil man nämlich bei all diesen schwierigen Gegebenheiten und in diesen verschiedenen Lebenslinien, in dieser Schismatisierung und Fragmentalisierung des Lebens Zugehörigkeien suchen muß, die nicht mehr durch angeborene Merkmale gegeben sind, sondern durch erwerbende Merkmale. Etwa durch die „Musik“, sie ist ja ein unglaublicher wichtiger Faktor, die Musik im Leben junger Menschen. Auf welche Musikart sie sich einlassen, und wie sie sich zusammenfinden, um ganz bestimmte Musikarten auch zu leben und zu erfahren. Ich denke, dass wir das manchmal auch in der Kirche etwas unterschätzen, uns damit auch noch mehr auseinandersetzen müssen, auch mit moderner Musik. Ich muß gestehen, ich kenne relativ wenig davon, bin aber geneigt, auch mich gemeinsam mit unserer Jugendkommission noch mehr damit zu befassen. Zugehörigkeitsmerkmale durch „Kleidung“ mit bestimmten Marken, die man nun mal eben haben muß, bestimmte Schuhe. Bei jeder Firmung erlebe ich, dass fast alle neue Schuhe haben und immer ganz bestimmte Arten von Schuhen, die oft für unser Begreifen gar nicht zu den anderen Kleidungsstücken passen. Aber das ist eben das, was ich auch großartig daran finde, dass sie sich über Schuhe und Schnürsenkel sogar identifizieren, also durch andere Accessoires auch. Auch das ist wichtig. Oder durch die Haarfarbe oder durch bestimmte Sportarten. Das Schwierige daran ist, so gut es ist, solche Zugehörigkeiten zu entwickeln. Unsere Marktgesellschaft ist natürlich sofort auf der Hut, diese Bedürfnisse, diese Accessoires, diese Marken und diese Zugehörigkeitsmerkmale sofort zu vermarkten und aufzugreifen. Und ich denke, das ist eine Schwierigkeit, die letztlich dann wieder dazu führt, dass man sehr schnell auch von dieser Gesellschaft, von dieser sehr vermarkteten Gesellschaft, vereinnahmt wird. Und das bedeutet eine weitreichende Veränderung des Verhältnisses des Einzelnen mit seiner Umwelt, mit seiner Gesellschaft.
Die Beziehung ist die des Wählens und weniger die des Gestaltens bei solchen verschiedenen Welten und Zugehörigkeiten. Der Einzelne sucht aus der Fülle der Angebote aus und stellt aus den vorgefertigten Bausteinen zusammen, er verwirft und wählt neu aus, also eine Auswahlsituation. Und letztlich spiegelt sich darin der Vorrang des Habens und Habenmüssens vor dem Sein, und der Vorrang des Design vor dem Sein. Die einzelnen Angebote sind gut verpackt, mit bestimmten Versprechungen verbunden. Wer „Rama“ auf sein Frühstücksbrötchen streicht, wird zum Lebensretter in unberührter Natur. Diese Versprechungen zielen auf die menschlichen Grundbedürfnisse nach Sinn und Glück, Geborgenheit, Gemeinschaft, Anerkennung und suggerieren ihre Befriedigung über den Konsum. Die wahre „Welt“ erhält dadurch einen anderen Sinn als nur den, die praktischen Bedürfnisse des Alltags zu decken, nämlich essen, waschen und spülen. Über kurz oder lang bemerkt dann das Individuum, dass sich die versprochene Befriedigung durch die getroffene Wahl nicht einstellt, und in der Logik des Wählens war die Wahl dann falsch. Das Individuum hat falsch ausgewählt oder zusammengestellt, und die nächste Wahl wird es bringen. So geht es immer weiter.

Neben dem Begriff der Zugehörigkeit ist der Begriff der Autonomie in diesem Zusammenhang sehr wichtig, der sich fast wie ein roter Faden durch die Äußerungen der Jugendforscher zieht. Das heißt, gegenüber all diesen unterschiedlichen Lebenswelten und all dem Unterschiedlichen wird die Autonomie des Individuums immer stärker herausgestellt. Man lehnt sich auf oder lehnt es ab, von anderen vereinnahmt oder verzweckt zu werden. Eigenartig ist dabei allerdings, dass man sich von der Werbung, von der Reklame, von der Vermarktung unbesehens vereinnahmen lässt. Aber wenn es thematische Vereinnahmungen oder Verzweckungen gibt, wo man fühlt, hier soll ich gepackt werden, wird es schwierig. Deshalb haben es auch die Institutionen sehr schwer, weil sie eben immer auch wieder die Autonomie des Einzelnen infrage stellen. Deshalb wird Demokratie oft verstanden nur als eine Basisdemokratie, wo jeder mit jedem über alles reden kann. Dass aber Demokratie auch Voraussetzungen hat und dass es Dinge gibt, n die sich alle dran halten müssen, wird oft nicht so deutlich gesehen. Auch Normen werden dadurch sehr viel schwieriger, nicht nur in der Kirche, sondern überhaupt in der Gesellschaft. Weil eben alles unter dem Aspekt gesehen wird, wie kann ich mich eigentlich in dieser Buntheit noch selbst behaupten, wie kann ich mich selbst verwirklichen. Auch die Motive zum Engagement in der Politik oder in der Kirche sind letztlich Motive, die sehr stark auch, das ist nicht nur negativ gemeint, von der Selbstverwirklichung geprägt sind. Auch die Motive für das Ehrenamt sind z.B., dass man dabei etwas lernen kann, dass ich mich selbst weiterentwickeln kann, dass ich eigene Fähigkeiten einsetzen kann. Also sehr stark unter dem Aspekt, sich für das Andere einzusetzen, um selbst daraus einen Ertrag zu haben. Was nicht unbedingt auch unserer christlichen Einstellung entspricht, dass wir auch unsere Einmaligkeit ernstnehmen und unsere Talente und Fähigkeiten einsetzen, aber es kann eben auch zu einem so verstärkten Umsichdrehen, ein sich Selberleben werden, dass die Öffnung für Größeres dadurch behindert wird. Und deshalb wird auch an Menschen herangetragene Religionspflicht mehr und mehr abgelehnt. Also das nur zu tun, weil man das so tut oder weil die Autorität es sagt, ist auf keinen Fall einfach eine Begründung, sondern wenn, dann in einer Plausibilität, die mir auch selbst einleuchtet. Und in dieser individuellen Kombination ist dann auch alles gleich gültig, man kann vieles nebeneinander stehenlassen. Wie viele junge Leute treffe ich, die am Kettchen vier oder fünf verschiedene Zeichen haben, einen Fußball, ein Tierkreiszeichen, einen Anhänger mit dem Namen des Freundes oder der Freundin, den Stern des Judentums und das Kreuzchen auch dazu. Alles kann auf einem Kettchen wunderbar aufgehängt sein.

Auch die Wertorientierung richtet sich danach, was an „Ertrag“ dabei herauskommt, das heißt, was es mir bringt. Ertrag – ein Einkommen oder Sicherheit, danach werden Werte bemessen, aber auch was es an Zugehörigkeit, an Liebe, an Angenommenheit bringt, oder was es an Ansehen bringt, oder was es an Selbstverwirklichung bringt. Dabei sind sehr sehr hohe Werte, die geschätzt werden: Verläßlichkeit, Glaubwürdigkeit, das Wort „echt“ ist immer noch ein sehr viel benutztes Wort, Gerechtigkeit und Frieden und der rechte Umgang mit der Umwelt und der Schöpfung. Und dann liegt manchmal der Glaube sehr schnell am Ende dieser Skala dieser Lebensziele, weil die Erreichbarkeit dieser genannten Erträge nicht leicht zu erkennen ist. „Ich glaub’ nix, mir fehlt nix“, dieser Slogan wird schon mal genannt. Was fehlt mir denn eigentlich, wenn ich nicht glaube?

Sie merken schon, das ist nicht eine Frage, die nur junge Leute, sondern die Erwachsenen genauso haben. Sie ist eine Art Spiegelbild wiederum der Erwachsenen, und wenn dann die Eltern sagen, du mußt dich firmen lassen, weil man das so tut, und ein Jugendlicher nicht spürt, was denn Firmung und der Glaube denn den Eltern bedeuten, dann kann nur Kontraproduktives dabei herauskommen.

Auch was die Zukunftsaussichten angehen, sind sie sehr gemischter Natur. Ich war in Haselünne auf dem Dekanatsjugendtag des Dekanates Meppen mit dem Thema: „Wenn ich an die Zukunft denke, dann …“ Es gab sehr unterschiedliche Einstellungen. Ein bißchen überwiegt, das hat mich dann doch gefreut, auch statistisch ist das so, die Zuversicht gegenüber der völlig düsteren Perspektive, aber es ist so etwa halbe-halbe. Und was ich in Haselünne erlebt habe, ich hab’ das auch in meinem Jugendbrief kurz dargestellt, ist, dass diese Leute sich dann gegenseitig ermutigt und gestützt haben, das heißt, die einen haben die anderen auf den Boden der Realität zurückgezogen, die anderen haben den einen Hoffnung gemacht. Das wäre eigentlich das, was ich mir von Kirche und Gemeinde, um es hier vorweg zu sagen, auch vorstellen könnte.

Die größte Sorge und Not ist die Frage nach der Perspektive, nach dem Ausbildungsplatz und die Frage nach der Arbeitslosigkeit. Werde ich überhaupt eine Arbeit in einem vernünftigen Beruf finden? Und ich denke, das ist die größte Herausforderung, die an uns in der Gesellschaft gestellt ist, und ich bin immer wieder neu geneigt, mit der Jugendkommission auf verschiedensten Ebenen in Stadt und Land mit Politikern ins Gespräch zu kommen, um danach zu suchen, dass wir doch auch Jugendlichen Ausbildungsplätze beschaffen können. Dass da sehr viel für eingesetzt worden ist, hier im Emsland und auch in Osnabrück, muß ich hier allerdings auch dankbar vermerken. Ich glaube, wenn die Perspektive, in ein geregeltes Arbeitsleben einzutreten, erst gar nicht entsteht, ist das noch schlimmer, als wenn man seinen Arbeitsplatz verliert, weil man überhaupt erst gar nicht eine solche Ordnung kennengelernt hat. Aus diesem ganzen Zusammenhang muß dann auch eben die Frage „Jugend und Kirche, Jugend und Religiosität“ gesehen werden.

Sie sehen, ich habe einen sehr langen Anweg gewählt, aber sie haben in vielen einzelnen Biegungen dieses Anweges schon festgestellt, welche Bedeutung dieses Problem auch für unsere Kirche hat. Ich meine, dass wir einfach nicht so plakative Äußerungen tun dürfen, sondern auch die Schwierigkeiten sehen müssen, in denen junge Menschen heute leben. Es ist also nicht verwunderlich, bei dieser Säkularisierung und Individualisierung, bei der Vermarktung der Wirklichkeit und bei der Unverbindlichkeit der Wahl, dass Jugend und Kirche es nicht leicht miteinander haben, zumal ein großes Mißtrauen in Großinstitutionen damit einhergeht, und unter solchen Großinstitutionen fällt ja eben auch die Kirche. Heute engagiert man sich eher in kleineren Gruppen, in Aktionen, in überschaubaren Einheiten, wo man Initiativen ergreifen kann, die überschaubarer sind.

Bei all dem ist aber trotzdem eine großes Religionsbedürfnis festzu stellen, was wir ja auch immer wieder von vielen Seiten hören. Junge Menschen sammeln sich aus vielen unterschiedlichen Angeboten das zusammen, was ihnen im Moment für ihren Alltag am sinnvollsten und brauchbarsten erscheint. Also auch in der Religion eine Art „Patchworkreligion“. Und die Zukunft von Kirche wird nach Einschätzung von Fachleuten davon abhängen, ob es ihr gelingt, die Schere zwischen religiösem Sinnbedarf und gelebtem Glauben bei Jugendlichen wieder zu schließen. Und das wird eine harte Arbeit sein, immer wieder in die Beziehung einzutreten, dass diese Suche nach Religiösem sich verbindet mit der konkreten Gemeinschaft von Kirche und von dem was Kirche auch deutlich macht. Das hat zu tun damit, wie sich heute Religiosität in der Kirche ausdrückt.

Ein erstes Stichwort dafür ist das, was ich gerade in Paris erlebt habe, mit dem Weltjugendtreffen. Es gibt eine gewisse Suche, ich möchte es mal nennen, eine Suche nach einer „Event-Kultur“, nach Großereignissen. Katholikentage, Taizè-Treffen, die Weltjugendtage und andere Großveranstaltungen, Ministrantentage, Jugendwallfahrten lassen feststellen, dass diese „Event-Kultur“ auch die religiöse Ausdrucksform kirchlich orientierter Jugend prägt. Sie bedient die jugendkulturellen Bedürfnisse und Ausdrucksformen und die verschiedenen Lebensstile und Beteiligungsformen.

Wichtige Bausteine dabei sind: solche Ereignisse haben Erlebnischarakter. Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, dass es nicht nur um Diskussionen und sehr kognitive und über den Kopf laufende Auseinandersetzungen geht, sondern dass das auch was mit dem Abenteuerlichen zu tun hat. Sie ermöglichen einen kurzen Ausbruch aus einem mehr oder weniger geregelten Alltag. Mehr Emotionalität ist darin enthalten. Und wir sind zum andern in einer Unterbrechung des Alltags und vermitteln einen „Geschmack“ von Transzendenz. Und das wird denjenigen zur Hilfe, die nicht einfach durch Forschung und Lehre erreicht werden können, sondern eben durch solche Erfahrungen.

Und dabei spielen glaubwürdige und charismatische Persönlichkeiten und Personen eine ganz große Rolle. Gesichter, mit denen man sich identifizieren kann. Ich denke, das ist das Geheimnis bei allen Problemen, die junge Leute mit den Aussagen des Papstes haben, und dass diese Gestalt des Papstes trotzdem das hervorruft. Oder wenn wir an Mutter Theresa und andere große Persönlichkeiten denken. Solche Ereignisse haben Begegnungscharakter, man trifft Leute, man lernt sie kennen, man merkt Zugehörigkeiten durch Tücher, durch Rucksäcke, durch Buttons, durch T-Shirts u.s.w. Man kann das demonstrieren. Und dieses Großereignis bleibt dann nicht nur einfach eine Massengeschichte. Das habe ich in Paris selbst so erlebt, sondern es ermöglicht in den kleineren Kreisen, bei den Katechesen und bei den Kleingruppen und bei der Erfahrung der Gastfamilien, und bei dem Erlebnis der französischen Kirche, dass man sich über Dinge unterhält, über die man sich zu Hause vielleicht nicht unterhalten würde, weil eben ganz andere Fragestellungen an einen herangetragen werden. Einmal die weltweite Frage in der Buntheit des Glaubens, aber eben auch Fragen, die man vielleicht mit dem Nachbarn, den man schon sehr lange gut kennt und bestimmte Vorurteile hat, so auch nicht immer bespricht. Und es ermöglicht, dass Gruppen unterschiedlichster Coleur zusammenkommen, die wir hier in Deutschland, das weiß ich von der Jugendkommission, oft nur sehr schwer zusammenkriegen. Da sind die unterschiedlichen Gruppen der BDKJ, geistliche Gemeinschaften und die Gruppe, die sich „Jugend 2000“ nennt, verschiedenen Gruppierungen also.

Solche Ereignisse geben die Möglichkeit Glauben auch in Liedern und Gesten kreativ, emotional und körperlich auszudrücken, eben auch in anderen liturgischen Formen sich zu äußern. Und sie haben natürlich auch die Struktur von Angebot und Nachfrage. Eine solche Veranstaltung wird angeboten, wird von anderen organisiert, ich kann mitmachen, wenn ich will, ich kann auch wieder gehen, wann ich will. Also dieses etwas Wählende und Konsumierende ist natürlich ein ganzes Stück darin, und die Teilnahme ist begrenzt und überschaubar. Deshalb kann Kirche natürlich nicht von solchen Events leben und Jugend nicht einfach so über solche Ereignisse – sozusagen – wieder für sich vereinnahmen, sondern es muß zwischendurch solche Punkte geben, die aber dann auch ein Netzwerk im Alltag bilden, so dass Kirche zu einem Ort des Engagements werden muß. Der Lebensstil des solidarischen Individualismus bei Jugendlichen bringt, dass es durchaus eine hohe Akzeptanz diakonischen und sozialen Handelns in der Kirche gibt und dass man in dieser Hinsicht sehr hohe Erwartungen an die Kirche hat. Also, man ist durchaus bereit, wenn auch nicht für lange Zeit oder für immer, sich zu engagieren und sich einzusetzen. Das Zugehörigkeitsgefühl ist durchaus engagementförderlich. Oder nehmen wir unsere Pfarr- und Gemeindegruppen als Beispiel. Trotz vieler Unkenrufe sind diese Gruppen immer noch wesentliche Träger des Engagements Jugendlicher. Sie greifen zum einen Aktionen von Verbänden oder Pfarrgemeinden auf und bringen diese mit eigenen Inhalten, Problemen und Betroffenheiten in Verbindung. Oder Gruppen, die sich für Einzelaktionen bilden, wenn wir etwa an Dreikönigsingen denken, was das für ein wichtiger Faktor geworden ist, oder eine gewisse Bewegungsarbeit, oder wie zu unterschiedlichen Einzelaktionen Leute sich angesprochen fühlen. Dann auch die offene Jugendarbeit, wo sich einfach Leute einfinden können, gehört wichtig dazu.

Ich denke, dass in diesem Zusammenhang natürlich auch mitspielt, was ich als Bischof ständig gefragt werde: „Macht Ihnen Ihr Beruf denn auch immer Spaß?

Das Wort „Spaß“ spielt in der ganzen Geschichte eine große Rolle. Wenn das Ganze immer nur sehr düster und eng und sehr problembezogen ist, möchte ich mal so sagen, so sehr wir auch immer wieder Dinge hinterfragen müssen, dann macht es eben keinen Spaß mehr. Und warum darf sich nicht auch Kirche mit diesem Wort verbinden. Ich wäre froh, wenn auch manches davon in unseren gottesdienstlichen Formen etwas rüberkäme. Dass eine Liturgie oder ein Gottesdienst sich entwickelt, in denen Jugendliche das „Ihre“ einbringen können, aber dennoch nicht einfach zu einer Feier der Menschen wird, sondern das gespürt wird: Gott ist bei uns, er ist in unserer Mitte. Dass man bemüht ist, immer wieder danach zu suchen.

Nun habe ich schon fast eine Stunde gesprochen. Ich möchte aber dennoch noch einige Aspekte anfügen, wenn Sie erlauben. Einmal wie wir selber im Bistum damit umgehen, und wo ich auch noch Punkte sehe für Konsequenzen, die wir aus all dem ziehen sollten. Ich erfahre unser Jugendforum als einen Faden durch diese beiden Jahre, die ich jetzt mit den unterschiedlichen Veranstaltungen erlebt habe. Da ist nicht einfach ein Ertrag, ein Ergebnis am Ende in einem Papier oder in einem Buch. Aber die Begegnungen und unterschiedlichen Ereignisse haben mich doch auch ein ganzes Stück ermutigt. Und es muß solche kleineren Events eben im Bistum immer wieder geben. Ich denke da z.B. an den Brief. Natürlich wird man sich mit vielen Punkten dieses Jugendbriefes auseinandersetzen, wird vielleicht sich nicht verstanden fühlen oder wird auch vielleicht gar nicht akzeptieren, was der Bischof alles von sich und seiner Auffassung vom Glauben sagt.

Natürlich findet es auch eine Grenze dort, wo jemand sagt: „Wenn Sie mit der Bibel kommen, brauchen Sie gar nicht mehr mit mir reden“. Dann kann ich natürlich auch mit meinem Jugendbrief nicht weit kommen, weil ich eben aus dem lebe, was das Evangelium und die Bibel mir mitteilen. Oder wenn ich an die Jugendvespern im Dom in Osnabrück denke, die durchaus eine Form sind, bei der junge Leute sich in sehr einfachen, schlichten Formen einfinden, gar nicht mit großem Bohei und Drumherum. Oder wenn ich an die Faxnacht denke, es sind fast fünfhundert Fragen gestellt worden, wovon bei weitem noch nicht alle beantwortet sind, muß ich hier noch mal wieder betonen, weil das in der Nacht gar nicht möglich war. Ich habe sieben Stunden geschrieben und weit über hundert, ich glaube hundertdreißig bis hundertvierzig Briefe beantwortet – mit manchmal zehn Fragen in einem Brief – und ich habe noch über sechzig zu Hause liegen. Da muß man erst Erfahrungen sammeln und in der Zukunft mit etwas weniger Gruppen arbeiten. Aber es ist sehr gut, dass diese Gruppen untereinander über Antworten ins Gespräch gekommen sind, sich auseinandergesetzt haben, mit anderen Gruppen gefaxt haben, so dass in dieser Nacht ein großes Beziehungsgeflecht über alle möglichen Fragen an die Kirche gelaufen sind. Und es war eine Fragestellung quer durch den Garten, also zu allen möglichen Dingen zu meiner Person, zu Glaubensfragen, zu Fragen an die Kirche. Natürlich auch die immer wiederkehrenden Fragen, aber auch nicht nur die, sondern wirklich in voller Breite. Und das hat mich persönlich sehr gefreut. Viele persönliche Kontakte sind entstanden, und über das Ereignis in Paris habe ich gerade schon gesprochen.

Andere wichtige Zusammenhänge sind eben, und das möchte ich ganz deutlich an dieser Stelle sagen, der Religionsunterricht in der Schule. Wir dürfen uns nicht gefallen lassen, dass dieser Religionsunterricht immer mehr an die Seite gedrängt wird, denn hier ist ein Feld der Werteorientierung, ein „Mehr“ an Orientierung, als in all den sonst mehr leistungsbezogenen Fächern, Hier werden Schülerinnen und Schüler wirklich auch auf eine Weise angesprochen, die noch einmal ganz andere Seiten zum Schwingen bringen. Eine andere, sicher sehr schwierige Angelegenheit ist, noch nach einer neuen Sprache zu suchen, um die Sprache unseres Glaubens offener zu machen, einladender zu machen. Nicht sich einfach auf das Niveau einer Gassensprache, ich glaube, dass das auch kein Jugendlicher will, darum geht’s gar nicht, sondern in einer verständlichen und natürlich auch glaubwürdigen Sprache zu sprechen. Ein Austausch darüber einzuüben, was uns denn wichtig und heilig ist.

Ich habe in dem Jugendbrief geschrieben, dass es sehr unterschiedliche Dinge sein können. Die Frage der Musik habe ich eben schon angesprochen. Das es ein personales Angebot bleiben muß, dass die Personen wichtiger sind als Programme. Dass Glaubwürdigkeit gefragt ist, das hab’ ich eben schon angesprochen, dass es eigentlich darum gehen muß, dass Menschen spüren, wir haben an „Dir“ Interesse. Interesse heißt: dazwischen sein, dazwischen bleiben. Und ich bemühe mich soweit wie möglich, auch in meinem Amt, zwischen den Menschen zu bleiben, und ich merke, wie viele Menschen das positiv akzeptieren, aber auch wie viele Menschen es jeden Tag in der Gemeinde auch tun. Es geht darum, Raum zu geben, Raum zu geben im äußeren Sinn, dass es auch Räume für junge Menschen gibt, aber auch jungen Menschen in den Gemeinden, Raum zu geben.

Manchmal werde ich dann bei den Visitationen gefragt: „Wie soll das denn mit der Jugend gehen und wer soll sich darum kümmern?“ Es wird oft gar nicht zur eigenen Frage der gesamten Pastoral, dass jeder Einzelne auch damit beteiligt ist, dass man die Jugend nicht einfach Spezialisten überläßt, sondern dass das etwas mit der ganzen Gemeinde zu tun hat und dass die Jugend nicht einfach die Zukunft der Gemeinde ist, die man ja nun braucht, damit es weitergeht. Damit benutzt man sie schon wieder ein Stück. Sie ist Gegenwart der Gemeinde, sie sind jetzt und hier, Mitlebende in dieser Gemeinde. Es geht um eine Wertediskussion, nicht so sehr um eine Wertevermittlung nach dem Motto „Ich habe einen Wert, den dräng ich Dir auf“, sondern wir unterhalten uns darüber, was uns wichtig ist. Und ich denke, wenn wir bei den vielen und schwierigen Normen der Kirche dahinterschauen, was sie denn eigentlich schützen sollen an Treue, an Verläßlichkeit, an Echtheit, dann würde man auf Werte kommen, die auch jungen Menschen durchaus nicht fremd sind.

Die Identität der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbst ist wichtig – ob Lehrer, Priester oder Gemeindereferentin. Dass man selber in ganz selbstverständlicher Treue Dinge tut. Das beeindruckt ja durchaus, wenn einer mit sich identisch ist, man muß nicht mit allem einverstanden sein, was der andere so tut, aber man muß spüren, der steht dahinter. Er ist es selbst.

Es geht zudem um die Notwendigkeit zu mehr Kooperation in der Jugendarbeit, aber auch zwischen Gemeinde, Schule und Eltern, das alles fällt immer mehr auseinander. Wir haben in vielen Gesprächen mit Religionslehrern darüber nachgedacht.

Auch in der Berufungspastoral, wo es um kirchliche und geistliche Berufe geht, müssen wir sehr stark bei den berufssuchenden jungen Menschen ansetzen. Viele suchen ja oft noch den Beruf. Die Suche des Berufes ist eine der wichtigsten Fragen. Ihnen dabei Hilfestellung zu geben, läßt auch vielleicht Berufung unterschiedlichster Art in der Kirche entwickeln. Und warum gibt es geistliche Gemeinschaften, warum gibt es kleinere Einheiten in der Kirche, in die eben die jungen Menschen sich aufgehobener fühlen, klarer orientiert fühlen, weil doch die Großinstitutionen dieses Vertrauen nicht mehr auf sich ziehen.

Ich möchte sagen, dass es – ich habe das in der letzten Zeit öfter angeführt und werde das in vielen Zusammenhängen sicher noch viel öfter tun – dass es eigentlich sechs Aufbruchbewegungn geben müßte:
Den Aufbruch zum Wesentlichen, das heißt, wir haben vom Kern des Glaubens auszugehen, von unserem Glauben an den größeren Gott. Dieser Gott gibt den Menschen Sinn, durch Jesus Christus und in der Gemeinschaft des Hl. Geistes, nicht mit all den Zerfaserungen und all den verschiedenen Sätzen, sondern in diesem Kern.

Dann wäre Aufbruch zum Existenziellen, zum Persönlichen. Es glaubt uns keiner, wenn wir nur Sätze mitteilen, sondern wenn wir nicht persönlich davon überzeugt und angesprochen sind, wenn junge Leute nicht spüren, dass wir selber davon befeuert sind.

Dann den Aufbruch zum Miteinander. Gemeinschaft ist eines der wichtigsten Worte, die immer wieder genannt werden. Warum fühlen wir uns da in Paris wohl?
Weil wir hier Gemeinschaft erfahren, den Aufbruch ins Ganze. Wider die Segmentierung und Einteilung der Wirklichkeit in ein Ganzes wieder hinein. Die Kirche ist eine der wenigen Institutionen, die die ganze Aufteilung der Wirklichkeit wieder in einen Zusammenhang bringen kann. Einen roten Faden dem Leben geben kann.

Dann Aufbruch ins Vertrauen, ins „Ja“! Nicht immer gleich mißtrauisch draufzuzugehen, sondern positiv und bejahend, nicht immer in der nächsten Ecke, sozusagen, schon gleich den Teufel zu spüren, der aus all diesen bösen Entwicklungen uns entgegenkommt, sondern Gott liebt diese Zeit, diese Situation in der wir leben genauso, wie alle Zeiten in der Kirchengeschichte.

Und der Aufbruch zur Diakonie, das heißt also zur absichtslosen Hinwendung zum Menschen. Nicht die Hinwendung zum Menschen, um ihn für mich zu vereinnahmen, sondern ihm wirklich beizustehen, in der Not. So wie der barmherzige Samariter es getan hat, als der Priester und der Levit das Wichtigere zu tun hatten.

Diese sechs Punkte sind mir wichtig für unsere gesamte Pastoral, und ich denke, sie haben auch etwas mit unserer Jugendpastoral zu tun. Nicht zuletzt ist Jesus selbst unser bester Pädagoge in der Hinsicht.

Sie wissen, dass das Thema des Jugendtreffens war: „Kommt und seht“ und dieser kleine Dialog im ersten Kapitel des Johannesevangeliums ist es eigentlich. Jesus dreht sich um und fragt: „Was sucht Ihr denn eigentlich?“ Er fragt erst mal: „Was sucht Ihr denn eigentlich?“ „Was wollt Ihr denn?“ „Was ist eigentlich in Euch Euer Innerstes?“ Nicht die vordergründigsten Bedürfnisse, sondern die eigentliche Sehnsucht. Und sie antworten, weil sie das gar nicht so genau ausdrücken können: „Meister, wo wohnst Du denn eigentlich?“ Das heißt, sie wollen nicht eine Lehre, sondern sie wollen ein Leben, sie wollen eine Person, sie wollen gucken, wo er wohnt, woraus er lebt. Und dann sagt er: „Kommt und seht.“ Das heißt allerdings, man kann nicht in der Zuschauerposition bleiben, sondern man muß dann schon mitgehen. Aber dieser kleine Dialog ist ein Urdialog, der eigentlich zwischen Kirche und Jugend ständig geschehen ist.

Jetzt bin ich am Ende meiner langen Ausführungen, ich habe vieles sicher nicht gesagt, was Sie noch im einzelnen vielleicht erwartet hätten, aber dafür bleibt ja dann noch die ganze Stunde für Fragen. Ich habe Ihnen keine Rezepte und Methoden geben können, wie man das denn heute alles lösen kann, die haben auch die besten Pädagogen nicht. Aber ich lasse mich von dem Ziel leiten, welches in dem kleinen Satz von de Saint-Exupèry steckt, den Sie alle kennen, denn es geht letztlich nicht allein um die Methoden! „Wenn Du ein Schiff bauen willst, so trommele nicht nur Leute zusammen, um Holz zu beschaffen, um Werkzeuge herzustellen, um Aufgaben zu verteilen, die Arbeit einzuteilen, sondern wecke in ihnen die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“ Und ich bin davon überzeugt, meine Lieben, dass diese Sehnsucht nach dem endlosen Meer, das darf man auch wohl mal mit „h“ schreiben, in jeder Jugend und in jeder Generation zu wecken ist. Davon bin ich voll überzeugt.

Dankeschön!

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